Stefan Heinlein: Das Ende einer Legislaturperiode heißt immer auch Abschied nehmen von vielen politischen Persönlichkeiten, die über lange Jahre dem Bundestag und der deutschen Politik ihren Stempel aufgedrückt haben. Norbert Lammert, Wolfgang Bosbach, Gernot Erler oder Marieluise Beck, nur vier der Namen, die man im neuen Bundestag vergeblich suchen wird. Auch Hans-Christian Ströbele wird nicht mehr antreten für die Grünen. Seit 1985 saß er mit Unterbrechungen im Parlament – der einzige grüne Abgeordnete mit Direktmandat. Guten Abend, Herr Ströbele.
Hans-Christian Ströbele: Ja, guten Abend!
"Die Trauer kommt noch nicht an"
Heinlein: Wie ist Ihre Gemütslage am heutigen Tag, traurig, dass es vorbei ist, oder fällt Ihnen auch eine Last von den Schultern?
Ströbele: Nein. Die Trauer kommt noch nicht an und genauso bin ich noch nicht erleichtert. Die Last fällt hoffentlich in ein, zwei Monaten von den Schultern, weil ich bin hier noch in "full action". Ich habe Termine und zwischendurch sortiere ich dann hier Akten. Von 700 Leitzordnern werde ich ungefähr ein gutes Drittel behalten und das andere sortiere ich aus und gebe das in ein Archiv.
Heinlein: Was haben Sie sich denn vorgenommen für die nächste Zeit? Werden Sie sich weiter einmischen in die Politik, oder erst einmal Abstand nehmen, politische Abstinenz üben?
Ströbele: Nein, ich werde mich weiter einmischen. Ich habe ja Übung in so was. Ich bin schon 1987 mal aus dem Bundestag wieder rausrotiert, hieß das damals, und war dann bis 1998 so bei den Grünen tätig – mal als Landesvorsitzender in Berlin, mal auf Bundesebene, mal habe ich eine rot-grüne Koalition hier mitgegründet und Ähnliches.
Kritik an der Debattenkultur im Bundestag
Heinlein: Jetzt waren Sie länger als diese zwei Jahre im Parlament nach 1998. Sind Sie vereinnahmt worden von der Politik, oder ist es umgekehrt gut, dass man länger als nur zwei Jahre im Parlament ist, aufgrund der Erfahrungen, die man dann sammeln kann?
Ströbele: Nach der heutigen Erfahrung würde ich sagen, dass zwei Jahre falsch sind. Vier Jahre Rotation, also immer die Länge einer Legislaturperiode, macht da sehr viel mehr Sinn, weil man braucht natürlich Einarbeitungszeit. Und wenn man mitten in eine Legislaturperiode reinkommt, ist das schon sehr, sehr schwierig, sich da zurechtzufinden.
Heinlein: Ein langer Zeitraum im Bundestag liegt hinter Ihnen. Wie hat sich denn der Bundestag, wie hat sich die Rolle des Parlaments in diesen Jahren verändert? Der scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert hat heute gesagt, es wird immer noch zu viel geredet und zu wenig debattiert im deutschen Parlament.
Ströbele: Die Kritik teile ich voll und ganz und habe auch heftig applaudiert, weil das genau stimmt. Der Bundestag ist nicht ein Parlament, wie wir uns das eigentlich vorstellen, wie wir es in der Schule gelernt haben oder in der Universität, wie das da funktionieren soll. Da wird dann debattiert und versucht, sich gegenseitig zu überzeugen, dass man dem Gesetz zustimmen soll, dem anderen nicht und so weiter. Das findet da aber in der Sache gar nicht statt, sondern da werden eigentlich nur noch bereits nicht nur fertige Gesetzentwürfe, sondern fertige Meinungen verkündet zu den jeweiligen Gesetzen, und dann richtet es sich danach, in welcher Fraktion man ist. Wenn man in einer Regierungskoalition ist, dann stimmt man zu.
"Die meisten Reden werden abgelesen"
Heinlein: Was sind denn die Gründe für diese Entwicklung? Dass wir nicht nur Talkshows haben, sondern jetzt auch Facebook, Twitter und YouTube und viele andere soziale Medien, hat das die Debattenkultur im Bundestag auch verändert?
Ströbele: Nein. Ich glaube, es ist umgekehrt, weil im Bundestag keine echten Debatten stattfinden. Deshalb finden sehr viele in Talkshows statt, oder man versucht es, da wenigstens etwas besser aufeinander einzugehen, vielleicht sich auch zu überzeugen oder jedenfalls das Argument der Gegenseite zu widerlegen. Das ist im Plenum nicht. Die meisten Reden – ich schätze mal 80, 90 Prozent – werden abgelesen, obwohl in der Geschäftsordnung des Bundestages steht, man soll frei reden, aber da halten sich nur wenige dran. Das heißt, die bringen ein Stück Papier oder einige Seiten mit und je nach Größe der Fraktion dürfen sie dann drei Minuten oder fünf Minuten oder länger reden.
Ich habe selber eine letzte Rede im Bundestag gehalten. Da habe ich zum ersten Mal in meiner ganzen Bundestagszeit 17 Minuten geredet. Mein Meistes war vorher acht Minuten. Ich habe einfach immer weiter geredet und da habe ich meine Kritik am Bundestag formuliert und habe gefordert von den Kolleginnen und Kollegen, die weiter da sind, und von denen, die neu reinkommen, dass sie ihren Job da ernst nehmen sollen, dass sie wieder die erste Macht im Staat, so habe ich das genannt, werden sollen - das ist in einer parlamentarischen Demokratie so, oder sollte so sein -, und dass sie selbstständig sein sollten und nicht irgendwie immer nur entlang von Fraktionen und Koalitionen oder Opposition abstimmen.
Heinlein: Ist diese Entwicklung, die Sie gerade beschreiben, Herr Ströbele, auch eine Folge der Großen Koalition der letzten Jahre, dass die Demokratie, der Bundestag sediert wurde durch diesen großen Konsens der beiden großen Volksparteien?
Ströbele: Die Großen Koalitionen – es gab ja immer mal wieder welche -, die haben sicher dazu beigetragen, und die letzte ganz besonders, weil da hatte die Große Koalition eine 80-prozentige Mehrheit. Das heißt, da konnten auch mal 100 fehlen, die hatten immer noch eine riesige Mehrheit. Deshalb hatten die es auch nicht nötig. Das hat sich auch in den Ausschüssen ausgewirkt. In vielen Ausschüssen war das so. Ich war zum Beispiel im Rechtsausschuss. Da haben wir gute Gesetze, jedenfalls nach unserer Meinung gute Gesetze eingebracht, und ich habe die Kollegen geradezu angefleht: Sagt doch mal, was ihr eigentlich dagegen habt. Da hat keiner sich geäußert von der Koalition dazu, weil sie es einfach nicht nötig hatten. Dann haben wir von der Opposition dazu geredet, einer, zwei, drei, vier, und dann wurde das abgelehnt. Diese Rituale, das sollte so nicht sein. Da sehe ich, dass das in den USA parlamentarischer zugeht, obwohl die eine Präsidialdemokratie haben, oder vielleicht gerade deshalb. Da bilden sich auch Mehrheiten im Parlament quer zu den beiden großen Parteien. Mal ein Teil von der einen Partei stimmt mit der anderen zusammen und so weiter.
Vergleich zu USA: "Ich finde unser Wahlsystem besser"
Heinlein: In den USA sind nur zwei Parteien im Kongress vertreten. Wenn man in den neuen Bundestag vorausblickt, werden wahrscheinlich sieben Parteien dort vertreten sein. Ist das dann gesund für unsere Demokratie, weil dann viele Meinungen, viele unterschiedliche Meinungen im Parlament vertreten sind und man dann offen über die richtige Politik hoffentlich streiten kann?
Ströbele: Ich finde eigentlich unser Wahlsystem besser. Wir haben ja eine Mischung zwischen Direktwahl und Verhältniswahl, also über Landeslisten, und das ist in den USA so nicht und da können sehr ungerechte Ergebnisse zustande kommen, wie wir das im Augenblick in den USA ja haben. Herr Trump hat keine Mehrheit bei der Präsidentenwahl gehabt, und so ist das auch manchmal bei den Abgeordneten, und trotzdem ist er Präsident geworden, weil in jedem Staat "the winner takes it all" der Gewinner jeweils mehr Stimmen hat als die andere Partei. Der kriegt dann alle Wahlmänner dieses Wahlkreises oder dieses Bundesstaates, und so kann das zustande kommen. Bei uns ist das gerechter verteilt und ich finde das deshalb auch demokratischer, allerdings auch schwieriger. Das gebe ich zu.
Heinlein: Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele über die letzte Sitzung des Bundestages heute und seinen persönlichen Abschied aus der Politik. Wir haben das Gespräch am Abend aufgezeichnet.
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