Es beginnt damit, dass man nicht recht weiß, in welche Schublade man diesen Autor stecken soll. Er veröffentlicht Romane, hat der Belletristik aber seit langem abgeschworen. Er war Kriegsberichterstatter aus vielen Krisenregionen der Welt, hadert aber mit der Berufsbezeichnung Journalist. Als Schriftsteller wiederum, so formulierte Hans Christoph Buch es unlängst, sei die unkritische Anpassung an den literarischen Betrieb ebenso wenig eine realistische Option wie der Ausstieg aus selbiger. "Tunnel über der Spree", so lautet seine nun erschienene Sammlung aus Erinnerungen, Briefen, literarischen Essays und persönlichen Reflektionen nach über einem halben Jahrhundert im deutschen Literaturbetrieb.
"Das ist über fünfzig Jahre her, seitdem habe ich an die fünfzig Bücher publiziert, Romane, Erzählungen, Essays und Reportagen. Aber fragen sie mich nicht, wie und warum. Nur eines weiß ich mit Bestimmtheit: Dass die deutsche Literaturkritik meine Arbeit nicht gefördert hat, im Gegenteil – sie ließ nichts unversucht, um mir das Weiterschreiben zu verleiden und mich vom Kurs abzubringen. Man könnte von Mobbing sprechen [...]."
Notiert Hans Christoph Buch nachdenklich. Wie unprätentiös und selbstkritisch, meinungsfreudig und kenntnisreich er Einblicke in die Literaturszene und auch in sein Seelenleben als Autor bietet, ist ebenso außergewöhnlich wie lesenswert.
Ein Abiturient vor der Gruppe 47
Buchs Doktorvater Walter Höllerer lud den im hessischen Wetzlar geborenen Autor 1963 zum ersten Literaten-Workshop ins neu gegründete Literarische Colloquium in Westberlin ein. Kurz darauf las Hans Christoph Buch als neunzehnjähriger Abiturient vor der Gruppe 47, ein Eintrittsticket in die höheren Kreise der westdeutschen Literaturszene. Die damaligen Wegbegleiter, Förderer und Freunde, darunter Marcel Reich Ranicki und Martin Walser, besuchte Buch Jahrzehnte später erneut, lange nachdem das Westberliner Universum aufgebrochen war. 2012 stattete er gemeinsam mit seinem Schriftstellerfreund Peter Schneider dem alternden Dichterfürsten Günter Grass in seinem Landhaus bei Lübeck einen Besuch ab. Mit ihm hatte Buch vier Jahrzehnte zuvor Werbe-Slogans für Willy Brandts Wahlkampf verfasst.
"Wir waren mit Grass befreundet, so weit man befreundet sein konnte mit einem keinen Widerspruch duldenden Egozentriker, der keine Freunde, sondern nur Jasager um sich scharrte. Aber unsere Differenzen führten nie zum offenen Bruch, und wir nahmen erwartungsvoll Platz an einem mit Räucherfisch gedeckten Tisch mit Blick auf eine Obstwiese, auf der sich das Personal der Grass-Romane tummelte: Nonnen, Zwerge, böse Köche und die Bronzeskulptur eines Gänsebratens. 'Brauchen wir eine Neuauflage von 1968?' Mit dieser Frage versuchte Gras, uns aus der Reserve zu locken."
Keine Romane über Ehekrisen
Politisch hatte sich Buch anders als viele seiner Wegbegleiter bereits im Zuge der 68er-Bewegung von dogmatischen Tendenzen losgesagt und stattdessen für eine "neue Sensibilität" in der Literatur plädiert. Sein literarisches Lebensthema, die Karibik-Republik Haiti, in der sich sein Großvater angesiedelt hatte und sein Vater geboren wurde, nimmt er im Kapitel "Meine multiple Identität" als Ausgangspunkt eines freimütigen Rückblicks auf die eigene Schriftstellerkarriere.
"Ist es unter diesen Umständen nicht sinnvoller, dass man sich für den Mainstream der eigenen Gesellschaft interessiert und Romane über Ehekrisen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder verlängerte Ladenschlusszeiten schreibt, anstatt über die Ursachen der Unterentwickelung und Mittel zu ihrer Überwindung zu grübeln?"
Auch in seiner Textsammlung "Tunnel über der Spree" beschreitet Hans Christoph Buch eigenwillige "Traumpfade der Literatur." Er begibt sich auf eine Zeitreise ohne Landkarte. Im Kapitel "Literaturgeschichten" pendelt er von einer Ausführung über Palmen - da kennt sich der Weltreisende aus - zur Suche nach Friedrich Schillers Gebeinen, hin zu traumgleich erzählten Geschichten über Chamissos "Peter Schlemihl" und einer Kindergeschichte über Franz Kafka.
Traumpfade zur Wahrheit der Literatur
In "Westostberlin" dann plaudert Buch über seinen Besuch in Wolf Biermanns Wohnküche und die Begegnung mit einem betrunkenen SED-Funktionär, bevor er den Leser in die Westberliner Literatenszene führt, wo er in Nachbarschaft von Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Max Frisch und Uwe Johnson arbeitete, dem "blonden Hünen mit Nappalederjacke". Buch liest in den Assoziationsketten auf seinen Traumpfaden das auf, was er am Wegesrand findet. Literatur und Kunst, so seine Überzeugung, nutzten Umwege, um zur Wahrheit vorzustoßen.
"Das wird ein Essay, wie ich ihn nicht mag: Gespickt mit Zitaten sowie nicht zu Ende gedachten oder übers Ziel hinausschießenden Gedanken. Doch genau das ist der Grund, warum ich den Text schreibe: Um etwas herauszufinden, das ich nicht schon vorher gewusst habe."
Der Begriff der Wahrheit ist ein verdecktes Leitmotiv in Buchs Werk. Dogmatisches Denken ist ihm ebenso fremd wie eindeutige Urteile oder schematische Verurteilungen. Immer wieder kommt er im schreibenden Denkprozess auf die Rolle des Schriftstellers, seine Suche nach einer tieferen Wahrheit zurück.
"Schreiben ist ein Modus des Seins, und die Literatur hat ihre eigene Wahrheit, die mit den Pseudogewissheiten der Politik nicht oder nur begrenzt kompatibel ist. Politische Meinungen dagegen sind etwas Erworbenes, das man wie Kleider zur Schau stellen oder auch wieder ablegen kann."
Die "Verwahrlosung" des Schriftstellers
Die "operative Literatur" im real existierenden Kommunismus war Buch ebenso fremd wie die "aggressive Intoleranz" derjenigen, die Toleranz einfordern. Buch warnt sogar davor, dass Schriftsteller zu größerer Verwahrlosung und Verworfenheit fähig seien, als andere Menschen. Fast genüsslich weist Buch im Kapitel über "Bagatellen zum Massaker" nach, dass auch die großen Namen der Literatur, von Goethe bis hin zu Brecht keineswegs vor moralischer Verwerfung und krassen Fehlurteilen gefeit sind. "Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich?" Dieser Trias geht der Autor in seinem "Schlusswort in eigener Sache" nach.
"In Wahrheit wendet Literatur, die diesen Namen verdient, sich nicht an bestimmte Zielgruppen, sondern an alle Leser guten Willens, die bereit sind, ihre Botschaft zu hören. [...] Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir alle haben Patchwork-Identitäten, die es uns erlauben, über politische und soziale, religiöse und kulturelle Grenzen hinweg zu kommunizieren."
Mit diesem Plädoyer der Vielstimmigkeit kehrt Buch zu einem Motiv zurück, das er im bereits Titel andeutet. Denn unter dem Namen "Tunnel über der Spree" organisierte er Anfang der Neunzigerjahre Literatentreffen mit Autoren aus Ost und West und gab damit der Vielstimmigkeit der deutsch-deutschen Literatur ein viel beachtetes Forum. Zugleich geht der Titel auf den Berliner Literatenkreis "Tunnel über der Spree" zurück, dem der Journalist und Schriftsteller Theodor Fontane angehörte. Auch ihm waren bekanntlich die literarische Vielstimmigkeit und die "Wahrheit des Gefühls" ein Anliegen. Auf diese Art von verdeckten Überschneidungen, Andeutungen und Querverweisen stößt man auf Buchs "Traumpfaden der Literatur" zuhauf. Es sind kenntnisreiche Chroniken der deutsch-deutschen Literaturszene, die zugleich neue literarische Zugänge zur Welt offenlegen.
Hans Christoph Buch: "Tunnel über der Spree. Traumpfade der Literatur."
Frankfurter Verlagsanstalt, 252 Seiten. 20 Euro
Frankfurter Verlagsanstalt, 252 Seiten. 20 Euro