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Hans-Joachim Lang: Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren.

In einem anonymen Massengrab wurden nach dem 2. Weltkrieg 86 jüdische Opfer der SS-Wissenschaftsorganisation 'Ahnenerbe’ beigesetzt. Diese Menschen waren im Konzentrationslager für Versuche benutzt und im August 1943 mit Gas ermordet worden. Dem Historiker und Journalisten Hans-Joachim Lang ist es gelungen die Namen und Geschichten dieser Opfer herauszufinden. Unter dem Titel 'Die Namen der Nummern’ hat er seine Recherche veröffentlicht.

Von Khosrow Nosratian |
    Man wird sich die Einzelheiten nicht dramatisch genug vorstellen können. Als einige der Leichen eineinhalb Jahre später im Keller des Anatomischen Instituts gefunden wurden, konnten bei den Autopsien auch zahlreiche Prellungen und Quetschungen festgestellt werden, die diesen Abenden zuzuordnen sind. Denn mit Sicherheit lassen sich keine 15 Personen ohne Zwang, nackt, in einen nur 2,40 Meter breiten, 3,50 Meter tiefen und 2,60 Meter hohen, dunklen Raum schicken.

    86 Juden, 29 Frauen und 57 Männer aus mehreren europäischen Ländern, wurden im August 1943 im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof ermordet. Vier Abende lang trieb man sie gruppenweise in die winzige Gaskammer, erst die Frauen, dann die Männer. Sie starben in einem umgebauten Kühlraum mit gekachelten Wänden. Durch ein Guckloch wurde ihr qualvolles Ende beobachtet. Die noch warmen Leichen, mit Ausscheidungen bedeckt, schaffte man auf Lastwagen und fuhr sie zur Konservierung in den Keller der Universität Straßburg. Auftraggeber der Mordaktion war die SS-Wissenschaftsorganisation "Ahnenerbe". Sie plante eine anthropologische Schausammlung. Die Skelette der Juden sollten zum Zwecke des so genannten "Rassenstudiums" ausgestellt werden.

    In Auschwitz wurden die Menschen unter Quarantäne gestellt, gemästet und vielfach vermessen, bevor die stets zuverlässige Deutsche Reichsbahn sie ins elsässische Lager deportierte. Schmerzhafte Sterilisationsexperimente folgten. Die Menschenversuche sollten die unterscheidenden Formmerkmale liefern, um das Nazi-Konglomerat aus antisemitischem Rassenwahn und sozialdarwinistischer Erblehre mit einem naturwissenschaftlich untermauerten Objektivitätsanspruch auszustatten. So gingen anthropologische Vermessungstechnik und rassenpolitische Begriffsbildung Hand in Hand. Etappenziel der SS-Mediziner, Biologen und Anthropologen war zunächst eine Kollektion von so genannten "Judenschädeln". Eine detaillierte Direktive schrieb dem Mitarbeiter das Verfahren vor.

    Nach dem (...) Tode des Juden, dessen Kopf nicht verletzt werden darf, trennt er den Kopf vom Rumpf und sendet ihn, in eine Konservierungsflüssigkeit gebettet, in eigens zu diesem Zwecke geschaffenen und gut verschließbaren Blechbehältern zum Bestimmungsort. An Hand der Lichtbildaufnahmen, der Maße und sonstigen Angaben des Kopfes und schließlich des Schädels können dort nun die vergleichenden anatomischen Forschungen, die Forschungen über Rassenzugehörigkeit, über pathologische Erscheinungen der Schädelform, über Gehirnform und –größe und vieles andere mehr beginnen. Für die Aufbewahrung und Erforschung des so gewonnenen Schädelmaterials wäre die neue Reichsuniversität Straßburg ihrer Bestimmung und ihrer Aufgabe gemäß die geeignete Stätte.

    Die wohlgenährten und gutgebauten Körper der 86 Toten standen in eigenartigem Kontrast zu den gewöhnlich ausgemergelten Leichen aus dem Lager. Ein Präparator fand das sonderbar. Heimlich notierte er die tätowierten Nummern auf den Unterarmen, um ihre spätere Identifikation zu ermöglichen. Damit hatte er eine Spur gelegt, der Hans-Joachim Lang in seinem Buch "Die Namen der Nummern" folgen konnte. Durch umfangreiche vergleichende Studien in verschiedenen Archiven Deutschlands, den USA und Israels gelang es ihm, die Namen hinter den Nummern zu ermitteln. Seine in fünfjähriger Arbeit erkundeten Bilder und Berichte, Erzählungen und Erinnerungen werfen ein historisches Schlaglicht auf die gewaltsam verkürzten Biografien, wie der Autor erklärt.

    Im Kern enthalten die Schicksale dieser 86 'Ahnenerbe'-Opfer die europäische Dimension der Verfolgung und Ermordung der Juden. Wer Alice Simon aus Berlin und Elisabeth Klein aus Wien, Frank Sachnowitz aus Larvik und Maurice Francese aus Thessaloniki, Jean Kotz aus Paris und Levi Khan aus Amsterdam, Marie Sainderichin aus Brüssel und Fajsch Gichman aus Szereszow, diese und alle anderen, posthum ein Stück Weges begleitet, gewinnt konkrete Anhaltspunkte der Topografie des Terrors, deren einzelne Landschaften den meisten heutigen Zeitgenossen nicht bekannt sind.

    Doch der Autor widmet nicht nur den Opfern ein würdiges Gedenken. Er befasst sich auch mit den Massenmördern im Ärztekittel. Scharf profiliert er ihre Mixtur aus charakterlichem Opportunismus, akademischem Karrierismus und politischem Fanatismus. Diese Doktoren, Professoren und Direktoren betrieben ihre Menschenversuche ganz selbstverständlich, in großem Maßstab und mit hoher Effektivität. Das Jahr 1933 markierte den Auftakt für den Angriff der rassistischen Anthropologie, der völkischen Biologie und der antisemitischen Anatomie auf die europäischen Juden. Sie wurden zu Freiwild erklärt. Die Institute mobilisierten geradezu kriminelle Energien, um die chronisch knappen Bestände aufzustocken. Man publizierte Hilferufe, die rasch Gehör fanden.

    Nahezu von allen Rassen und Völkern sind umfangreiche Schädelsammlungen vorhanden. Nur von den Juden stehen der Wissenschaft so wenig Schädel zur Verfügung, dass ihre Bearbeitung keine gesicherten Ergebnisse zulässt.

    Im Totalen Krieg war derart nöligen Beschwerden leicht abzuhelfen. Am Volksgerichtshof hagelte es Todesurteile, die Institute griffen zu. Sie avancierten zu Großeinkäufern auf dem Leichenmarkt. Auch diese makabren Beschaffungsmaßnahmen beschreibt Hans-Joachim Lang ebenso akkurat wie beklemmend. Dabei wird man sich die Beteiligten gegenüber dem Regime nicht servil genug vorstellen können. Das devote Schreiben eines Vertreters der Kopfjäger-Medizin lautet denn auch:

    Mit Dank bestätige ich den Eingang der bestellten 29 Judenschädel, dazu 25 Totenmasken, 4 Gipsbüsten und 15 Polenschädel. Alle Objekte liefen vorzüglich erhalten bei uns ein und werden in einer Sonderschau unter Hinweis auf den Hersteller vereint.

    Hier wird Hans-Joachim Langs akribische Rekonstruktion zum Protokoll einer eisigen Abrechnung mit jener Medizin ohne Menschlichkeit, in der Weltanschauungskrieg und Wissenschaftshybris eine unheilvolle Allianz bildeten. Das überaus lesenswerte Buch verdeutlicht das engmaschige Netz aus Gelehrtenstube und Gestapozentrale, aus dem das Räderwerk des Holocaust entwickelt wurde. Und doch gelingt es dem zeitgeschichtlich versierten Autor stets, im Gegenzug zum gruseligen "Ahnenerbe" seine eigene forschungspolitische Absicht überzeugend zum Ausdruck zu bringen – die Ermordeten in lebendiger Erinnerung zu halten.

    Khosrow Nosratian besprach: Die Namen der Nummern von Hans-Joachim Lang. Erschienen ist seine Recherche bei Hoffmann und Campe, hat 303 Seiten und kostet 19.90 Euro.