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Hans-Jörg Rheinberger: Experimentelsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas.

Die Meldungen über epochemachende Ergebnisse aus den Laboratorien reißen nicht ab. Ob DNA, Klone oder Stammzellen: die Erkenntnisobjekte der Molekularbiologie sind Gegenstand politischer Verhandlungen und moralischer Erwägungen. Im Berliner Wissenschaftssommer versucht sich diese Wissenschaft gerade im Dialog mit der Gesellschaft. In Museen und Bahnhöfen zeigt sie bunt und unterhaltsam, wie das Leben biologisch funktioniert. Ein Novum: Die Wege zwischen Labor und Gesellschaft sind durchlässig geworden. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger hat sich Gedanken über die modernen Naturwissenschaften gemacht. Sein Buch über "Experimentalsysteme und epistemische Dinge" gibt Aufschluss darüber, wie jener Fortschritt entsteht, der heutzutage gleichermaßen Anlass für Hoffnungen und für Befürchtungen bietet.

Erika Feyerabend |
    Die gängige Vorstellung über naturwissenschaftliches Arbeiten ist einfach. Forscher haben einen Plan. Sie gehen theoriegeleitet vor und kommen irgendwann zum Ziel. Wer zum Beispiel das Erbmolekül erklärt, hatte sowohl die Frage, als auch die Antwort immer schon im Blick. Hans Jörg Rheinberger entwirft ein anderes Bild. Im Labor regieren vor allem der Zufall, die Irrtümer und provisorisches Wissen. Forschung, das ist ein "Generator von Überraschungen", der ständig Zukunft produziert – eben auch unerwartete.

    Ich meine nicht, wenn ich auch von Zufall an der ein oder anderen Stelle rede, nicht den puren Zufall. Was ich aber meine ist, dass in der Entwicklung von experimentellen Systemen Bedingungen erzeugt werden, die einen in andere Richtungen führen als diejenigen, die man ursprünglich vorhatte zu untersuchen.

    Wissenschaft als wenig planbare Suche nach Neuem, das irritiert. Der Molekularbiologe und Historiker Hans Jörg Rheinberger aus Berlin hat ein Buch geschrieben, das mit weiteren Überraschungen aufwartet. "Experimentalsysteme und epistemische Dinge", so lautet der komplizierte Titel. Dahinter verbirgt sich die akribische Arbeit um eine einfach klingende Frage: Wie entstehen neue Forschungsgegenstände? Der Autor verlässt dabei die ausgetretenen Pfade, die zu genialen Entdeckern führen oder zu Interessen geleiteten Akteuren.

    Mir scheint das eben, dass eine gewisse Zeit lang sehr stark Gewicht gelegt worden ist auf Interessen von Akteuren, die ja auch nicht zu vernachlässigen sind. Also das will ich keineswegs etwa ganz beiseite schieben. Aber meine eigene Erfahrung, die ich aus dem Labor mitgenommen habe, als ich mich auf den Weg gemacht habe, Wissenschaftshistoriker zu werden, ist die gewesen, dass die Objekte, die Wissensobjekte, mit denen man dort umgeht, doch sagen wir mal, so viel Widerständigkeit aufweisen, dass man sich an ihnen abarbeiten muss.

    Die Wissensobjekte stehen im Zentrum des Labors. Sie erscheinen nicht einfach plötzlich und unvermittelt vor den Augen des Forschers. Sie werden experimentell gemacht. Es sind materielle Spuren und abstrakte Daten, Begriffe und Interpretationen. Erst im Laufe von Jahrzehnten werden sie zu realen Gestalten. Das Ding und der Prozess seiner Herstellung sind untrennbar verknüpft. Mit gefestigten Wissensbeständen und anerkanntem Methodenrepertoire müssen Forscherteams ständig Neues hervorbringen. Lassen die dabei neu entstandenen Dinge genügend Fragen offen und treiben sie weitere Teams an, dann nennt Rheinberger sie "epistemische Dinge".

    Epistemische Dinge sind eben nach meiner Terminologie, so wie ich den Ausdruck verwende, charakterisiert durch ein gewisses Maß an Unbestimmtheit, was sie als Erkenntnisgegenstände interessant macht. Also man möchte darüber gerne mehr herausfinden. Das bedeutet aber auch, dass man sie nicht zur Gänze beherrscht. In der Regel in der modernen Wissenschaft ist es so, dass man an solche Gegenstände nur vermittelt über Instrumentarien herankommt, weil unsere Erscheinungen, die wir heute untersuchen, in der Regel gar nicht mehr uns als Alltagserscheinungen gegeben sind.

    So wie die Wissenschaftler zwischen Bekanntem und Unbekannten hin- und herpendeln, so wechselt das Buch von Hans-Jörg Rheinberger zwischen Kommentierung und Darstellung eines ganz konkreten Falls. Es ist ein Geschichtsbuch. Untersucht wird ein US-amerikanisches Forscherteam aus den 50er bis in die frühen 60er Jahre hinein. Die Auswahl des Falls ist nicht zufällig.

    Es ist nicht ganz Zufall. Da geht eine Reihe von Überlegungen mit ein. Die eine Überlegung war die: Es sollten in dieser Studie nicht unbedingt wieder die Heroen sein. Also ich wollte gerade nicht wieder einen Nobelpreisträger nehmen, um die Sache besonders wichtig zu machen, sondern ich wollte ein intelligentes Forscherteam bei der Arbeit über diese Jahre hinweg beobachten. Aber eines, das stehen kann für die Wissenschaftsentwicklung so wie sie eben in hunderten Laboren heutzutage vor sich geht und nicht vielleicht eines, das eine ganz exzeptionelle Situation darstellt.

    Die Vertrautheit des Autors mit den Forschungsgegenständen kommt für den fachfremden Leser nicht immer gleichermaßen auf. Für alle anschaulich werden aber die verschlungenen Pfade der beteiligten Akteure. Ihr Weg begann bei der Eiweißsynthese in der biochemischen Krebsforschung und endete bei einem Element des genetischen Informationstransfers und der Molekularbiologie. Innerhalb von 15 Jahren entstanden neue Disziplinen und wissenschaftliche Tatsachen mit weitreichenden Folgen. Erst im Rückblick wird die Geschichte neu gelesen und von wenigen Heroen bevölkert. Dabei waren auch Geldflüsse entscheidend.

    Ich hab glaube ich an einer Stelle des Buches das auch thematisiert. Nämlich dort wo auch in dieser frühen Phase der Entwicklung dieses Proteinsynthesesystems sind ja erhebliche Gelder eben einerseits der amerikanischen Krebsforschungsprogramme in diese Arbeit hineingeflossen, die sich auch an einem Hospital abgespielt hat, dem Massachusetts General Hospital in Boston. Und auf der anderen Seite sind auch erhebliche Gelder der Atomenergiekommission dort hineingeflossen im Rahmen des Programms "atoms for peace", also die friedliche Nutzbarmachung der Atomenergie in Form von radioaktiv markierten Substanzen. Also hier hat ne Kopplung stattgefunden - sagen wir mal - zwischen einem erweiterten politischen und politisch-technologischen Kontext und einem der Entwicklung eines experimentellen Systems.

    Ohne radioaktive Stoffe und die Geldzuwendungen wäre die Geschichte gänzlich anders verlaufen. Nun aber sind sie da, die genetischen Informationsträger. Sind die nun wirklich oder konstruiert? Eine Gretchenfrage der Wissenschaftsphilosophie.

    Ich versuche mich gewissermaßen dazwischen aufzuhalten. Ja. Da ist Materialität da und nicht nichts, wenn sie im Labor einen Effekt erzeugen. Aber sie müssen natürlich sehen, dass all diese Dinge, die dann für sie einen Sinn machen, in einem bestimmten experimentellen Kontext immer schon auch gewissermaßen semantisch aufgeladen sind, denn sonst würden sie sie in ihrem System ja gar nicht wahrnehmen.

    Hans-Jörg Rheinberger hat sich mit dem Inneren der Laborwelten beschäftigt. Er führt uns ein vielschichtiges Bild vor Augen, anders als die allgegenwärtigen Monologe der Wissenschaften in Medien und Unterhaltungsshows. Schlauer wird, wer das Buch von Rheinberger liest. Auch wenn das aufgezeigte Verhältnis zwischen Labor und Öffentlichkeit viele Fragen offen lässt: Wie lassen sich überhaupt politische Rahmenbedingungen setzen? Was folgt aus der Einsicht, dass Forschung scheitert oder Ergebnisse hervorbringt, mit denen man gesellschaftlich kaum mehr umgehen kann?

    Hans-Jörg Rheinberger: "Experimentelsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas." Das Buch ist erschienen im Wallstein Verlag Göttingen, umfasst 344 Seiten und kostet 58 DM.