Dieses Buch scheint überhaupt keinem Genre zu entsprechen. Eine Autobiografie ist es sicher nicht, auch wenn der Autor Hans-Jürgen Heinrichs unverkennbar ständig im Zentrum steht. Es ist auch keiner der üblichen Memoirenbände. Am besten würde vermutlich noch die Bezeichnung "Ausgewählte Erinnerungen" passen. Hans-Jürgen Heinrichs, 1945 geboren, ist vor allem dadurch bekannt, dass er 1980 in Frankfurt den "Qumran"-Verlag gründete, mit einem inspirierenden Programm. Auch später publizierte Heinrichs immer wieder über die Schnittstellen zwischen Ethnologie und Psychoanalyse.
Derlei biografische Details spielen schon auch eine gewisse Rolle, aber ganz anders, als man es sich vorstellt. Es kommen durchaus berühmte Personen vor, die der Autor getroffen hat, und das sind nicht wenige. Doch ausführlich beschrieben werden sie keineswegs. Und weniger berühmte Personen tauchen so gut wie gar nicht auf. Es geht vor allem um einen Hallraum, den Hans-Jürgen Heinrichs für sich selbst erschafft. Sehr gut schneiden Yves Montand und Simone Signoret ab, die in einem Pariser Café zufällig am Nebentisch sitzen und bemerken, dass der junge Heinrichs gerade im Band "Paroles" von Jacques Prévert liest. Stolz registriert er, dass er "ein augenblickshafter Teil ihrer Wirklichkeit geworden ist", so beschreibt er es, und er erwartet förmlich, dass das dann im berühmten Café de Flore genauso ist – da sitzen nämlich, wie im Bilderbuch, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Und auf Vermittlung eines Freundes befindet sich Hans-Jürgen Heinrichs sogar am selben Tisch. Aber da passiert nicht so viel.
"Auch unternahmen die beiden Berühmtheiten nichts, um die eherne Größe ihrer Namen für einen Augenblick einzutauschen gegen die Haltung ungeschützter Neugierde einem Menschen gegenüber, der nicht mehr als seine Leidenschaft für das Denken, Schreiben und Reisen in die Waagschale zu werfen hatte."
Nur berühmte Leute
Dagegen feiert der Autor seine Begegnungen mit Paul Virilio, Nathalie Sarraute, Michel Foucault und vor allem mit Michel Leiris, der als einziger ein bisschen eingehender charakterisiert wird und ein gewisses Eigenleben bekommt. Im Mittelpunkt steht aber selbstverständlich der Verfasser selbst, wie er Gemeinsamkeiten mit seinen Gesprächspartnern herstellt. Der Titel des Buches ist Hermann Keyserlings "Reisetagebuch eines Philosophen" entnommen. Dessen Motto lautete "Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum". Auch Heinrichs‘ Welt ist groß. Einen besonderen Stellenwert nehmen der Schriftsteller Hubert Fichte und der Rockstar Udo Lindenberg ein, beides Reisende in äußere wie in innere Sphären ganz in seinem Sinne. Und das hat immer auch etwas Poetisierendes. Wie der Autor Udo Lindenberg in einer Hotelbar trifft, schildert er so:
"Ich suchte im Qualm seiner Havanna nach seinen Augen, um zu schauen, ob sie noch auf mich gerichtet waren – oder in eine außereuropäische Ferne, von der ich zu erzählen begonnen hatte."
Heinrichs bewegt sich traumwandlerisch tänzelnd durch die kulturellen Milieus magischer Städte. Paris und Rom, und zwar in ihrer großen Zeit in den sechziger Jahren, stehen im Mittelpunkt, aber natürlich auch die Paris-Bar in Berlin und die dazugehörigen vielversprechenden Namen von Besuchern. Eine aufsehenerregende Exkursion in die syrische Wüste wird gelegentlich zwar erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt – europäische Intellektuelle dagegen ziehen sich wie eine Art Parfüm durch das Buch, und die Begegnungen mit ihnen werden zelebriert mit dem Gestus von Kennerschaft. Man bewegt sich in eingeweihten Kreisen, und ein wichtiger Indikator dafür ist das mehrfach benutzte Wort "legendär". Die Berliner Galerie "Am Kupfergraben" etwa ist genauso "legendär" wie die von Joachim Sartorius herausgegebene Anthologie "Atlas der neuen Poesie", und "legendär" sind auch die verschiedenen "Schreibateliers" von Paul Nizon in Paris, die Hans-Jürgen Heinrichs vertraut sind. Eine gewisse Anmutung einer Legende, bei der das Heilige ja immer mitschwingt, haben auch die beiden literaturgeschichtlich relevantesten Geschichten, die Heinrichs erzählt: nämlich seine Affäre mit Ingeborg Bachmann und sein etwas diffus erscheinendes Verhältnis zu Peter Handke.
Eine Affäre mit der Bachmann
Die Geschichte mit Ingeborg Bachmann ist in ein märchenhaftes Licht getaucht. Die Szene spielt 1969 in Rom. Der Verfasser besucht eine langweilige Lesung im Goethe-Institut, und neben ihm sitzt zufällig eine interesssant wirkende Frau, die ihm auch gleich eine Zigarette anbietet.
Als sie ihn dann in seiner repräsentativen Wohnung direkt an der Piazza Navona besucht – Freunde haben sie ihm vermittelt, während er in einem Film mitspielt – scheinen alle Details perfekt zusammenzuspielen und wie in einer stimmungsvollen Hollywood-Adaption des Künstlermilieus zu funktionieren: Ingeborg Bachmann bewundert seine prachtvolle italienische Hölderlin-Ausgabe und entdeckt einen Index zu Heideggers "Sein und Zeit" auf dem Tisch. Das Paar findet sich. Er nennt sie, in einer italienischen Abwandlung der letzten Silbe ihres Vornamens und mit dem Zusatz einer ihrer Lieblingswendungen: "Borgia mal sehn". Das besonders Entrückte zeigt sich darin, dass der Autor die lange zurückliegende Geschichte mit Ingeborg in Dialogen nachempfindet. Zum Beispiel lässt er Ingeborg Bachmann in direkter Rede zu ihm sagen:
"Vielleicht führen deine Phantasien, Bilder und Assoziationen in die Tiefen meiner Seele. Oder sie führen weg. Wohin? Borgia mal sehn, so hast du mich lange nicht mehr genannt. Ingeborg, die laienhafte Schauspielerin, möchte jetzt gerne mit Navona-Giovanni, dem Schauspieler, ans Meer gehen."
Und der nächste Satz lautet:
"Das Meer war an diesem Tag sehr aufgewühlt."
Mordfantasien
Es passt also alles zusammen. Es ist eine Liebesbegegnung wie ein Traum. Von Ingeborg Bachmanns Alltag in Rom erfährt man nichts, und es ist kaum zu ahnen, dass sie auch andere Männerbeziehungen haben könnte. Irgendwie geht es dann aber, wie organisch, auch wieder auseinander. Peter Handke wiederum, die andere für Literaturhistoriker interessante persönliche Geschichte, tritt vor allem dadurch ins Bild, dass er Heinrichs seine damalige Freundin ausspannt. Das ist im Grunde die einzige Situation, in der in diesem Erinnerungsbuch einmal so etwas wie ein Scheitern oder eine Niederlage aufblitzt. Der Memograph entwickelt Mordphantasien Handke gegenüber, aber es bleibt natürlich nur eine ästhetische Vorstellung. Hans-Jürgen Heinrichs‘ Erinnerungs- und Gedankenbuch ist in all seinen Stilisierungen und Verführungsgesten ein aufschlussreiches Dokument. Wenn künftige Ethnologen diesen Band heranziehen werden, um etwas über das kulturelle Milieu unserer Gegenwart in Erfahrung zu bringen, werden sie ganz sicher fündig. Eher weniger in allgemeiner Hinsicht, aber auf jeden Fall anhand eines interessanten Einzelfalls.
Hans-Jürgen Heinrichs: "Der kürzeste Weg führt um die Welt"
Die Andere Bibliothek, Berlin. 477 Seiten, 44.- €
Die Andere Bibliothek, Berlin. 477 Seiten, 44.- €