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Hans Küng: Der Islam

Man schrieb das Jahr 802, als Abu'l Abbas aus Bagdad in Aachen eintraf. Ein Elefant. Als Geschenk des Kalifen Harun al-Raschid für Karl den Großen. Das schwergewichtige Tier war eine Geste des Friedens zwischen Islam und Christentum. Aber natürlich auch ein dezenter Hinweis auf die Macht des Abbassidenreiches. Karl der Große und Harun al-Raschid, die wohl bedeutendsten Männer ihrer Zeit, suchten den Dialog, die Auseinandersetzung mit der anderen, der fremden Kultur. Genau daran, so die Diagnose des Tübinger Theologen Hans Küng, mangelt es heute. Deshalb will er mit seiner Trilogie über die abrahamischen Religionen eine neue, konstruktive Diskussion in Gang bringen. Nach den Bänden über Christentum und Judentum ist nun auch der letzte, der Band über den Islam erschienen.

Von Marc Thörner | 04.10.2004
    Hans Küng: Ich habe eine Synthese versucht. Und mein Ziel ist nun ein anderes als das von Historikern oder Politikern. Ich möchte mit meinem Buch zu einem neuen Verhältnis zwischen den Kulturen, Religionen und Nationen beitragen und die Menschen dialogfähig machen - dialogfähig. Denn ob Christen, ob Muslime oder Säkularisten; ob Politiker, Wirtschaftsführer oder Kulturschaffende; ob Lehrer, Pfarrer oder Studenten: alle suchen ja heute Orientierung, möchten die Weltlage verstehen - und die Weltlage kann man ohne die Weltreligionen nicht verstehen. Und die Weltreligionen ohne den Islam wären ja ein Torso. Im Gegenteil: Der Islam steht im Zentrum der Auseinandersetzung. Und so konnte ich, glaube ich, nichts besseres machen, als mich jetzt im dritten Band meiner Trilogie - nach Judentum und Christentum - noch einmal mit einem allerdings riesigen Buch jetzt in einem hochkomplexen Darstellungsprozess den Islam darzustellen.

    Nun gibt es bei der deutschen Islam-Wahrnehmung ein Problem:
    Ohne ein Geheimnis oder dessen Lüftung zu suggerieren, ohne die Worte: Schleier, Schwert, Allah und Harem, das Bild verborgener Gärten; ohne ein am Horizont heraufdämmerndes Katastrophen-Szenario lassen sich selbst sachliche und nüchterne Analysen einem breiten Publikum schlecht verkaufen. Wie geht Hans Küng mit diesem Phänomen um?

    Das ist zum Teil in Amerika noch schlimmer als bei uns. Wir sind ja glücklicherweise nicht so belastet wie die Völker des Kolonialismus, die nun gerade im islamischen Raum gewirkt haben, die Franzosen, die Briten, die Holländer. Wir sind nicht so belastet, aber wir sind natürlich etwas später angekommen. Wir haben nicht so früh Kontakt bekommen, wir haben zuerst die Gastarbeiter hier gehabt, ohne zu realisieren, was das bedeutet, dass es Muslime sind. Es gab auch viele Politikwissenschaftler, viele Leute, die ich etwa damals in Bonn getroffen habe, die haben gemeint, der Islam sei eine quantité négligable. Auch deutsche Entwicklungspolitiker haben im Iran gar nicht ernst genommen, zur Zeit des Schahs, dass der Islam noch immer da ist.

    Küng wählt einen speziell auf das deutsche Publikum zugeschnittenen Einstieg: Die Debatte um das Feindbild Islam und die Frage der Koexistenz mit muslimischen Immigranten.
    Und dann entwirft er eine fulminante Skizze: Er zeichnet die islamische Geschichte als eine Kette von Paradigmen, die die Gegenwart beeinflussen und Zukunftsprognosen möglich machen. Die großen Linien werden erkennbar und gut nachvollziehbar. Durch kleine Kapitel, die er "Rückfragen" nennt, hält er am Ende der großen Kapitel den Kontakt zur Gegenwart und zeigt die Relevanz der Fragen.

    Was spezifisch ist, ist: dass ich ständig versuche, einerseits mit dem Judentum und dem Christentum den Islam zu konfrontieren. Und dann mit einer neue Methode, nämlich der Paradigmenanalyse die sehr komplexe Geschichte des Islam zu verstehen. Denn das ist ja nun nicht ganz so einfach, wenn man die immerhin jetzt 1400 Jahre vor sich hat und merkt, wie halt die Vergangenheit etwa heute im Irak, im Iran, im ganzen arabischen Raum bis runter nach Indonesien... überall wirkt halt die Geschichte nach. Es ist ein Charakteristikum meiner Darstellung, dass ich mich nicht verliere in all den zahllosen Details der islamischen Geschichte, sondern ich arbeite die großen Gesamtkonstellationen heraus. Und die dritte große Gesamtkonstellation ist das Weltreligionsparadigma unter den Abbassiden, der Kalifen von Bagdad und in der Zeit kam es eben zu dieser rationalen Theologie, weil nicht zuletzt in Begegnung mit der griechischen Philosophie auch viele Muslime den Eindruck hatten, sie müssten das aufarbeiten.

    Am spannendsten liest sich das Buch genau dort, wo es an die Kernfrage der islamischen Geistesgeschichte rührt, an die Kontroverse zwischen Rationalisten und Gegnern der Vernunft

    Aus dem Buch: Wer hätte das gedacht: Die (rationalistische) Strömung der Mutàsila, so lange in Distanz zur Obrigkeit, kommt an die Macht, und aus einer Oppositionstheologie wird eine Staatstheologie. Wie kommt der Kalif al Mamun dazu, dass er im Jahre 833 gar die Überprüfung aller maßgeblichen Religionsgelehrten und Juristen auf ihre Rechtgläubigkeit bezüglich des 'Dogmas' der Geschaffenheit des Korans befiehlt?

    Hans Küng: Es ist ja wie ein Kriminalroman, wie es dann unter dem Kalifen al Mamun ging. Leider Gottes hat der Kalif Mamun damals versucht, diese rationale Theologie mit der Inquisition durchzusetzen. Das ist schon eine spannende Geschichte und führt nun allerdings dazu, dass dann leider diese Philosophie frühzeitig wieder verabschiedet wird. Das hat sich schon früher im nahen Osten abgespielt und zuletzt noch in Spanien, wo die letzte Blüte war der arabischen Philosophie - es gab noch eine in Persien -, aber die arabische Philosophie hat eine ganz große Zeit gehabt in Spanien. Aber dort ist mit Ibn Ruschd, mit Averroes, wie wir ihn lateinisch nennen, der letzte große arabische Philosoph dann verbannt worden - und da hat sich gezeigt: es ist aus. Es haben damals die Traditionalisten gewonnen, die Gottesgelehrten, die den Koran wörtlich nehmen wollten.

    Staunend und durchaus gefesselt steht der Leser vor diesen immer wieder neu hernieder sausenden Denkverboten, die sich durch die islamische Geschichte bis in die Gegenwart ziehen.
    Noch besser verstehen würde man diese dramatische Auf und Ab, würde Küng die politischen Begleitumstände deutlicher herausarbeiten: Schließlich schien es dem Kalifen Mamun nicht etwa nur aus theologischer Überzeugung angeraten, die "griechisch" beeinflusste Philosophie zu fördern. Das "Griechentum" war auch eine ideologische Waffe im Kampf mit der vom vernunftfeindlichen Gnostizismus beeinflussten, persischen Aristokratie. Stammesstrukturen haben auf die islamische Geistesgeschichte ebenso eingewirkt, wie wirtschaftliche Zwänge oder militärische Konflikte.
    Die gigantische Katastrophe einer jahrhundertelangen theologischen Stagnation lässt sich aus bloßem Gelehrtenstreit heraus nicht deuten. Am Ende seines Buches entlässt Küng den Leser - mit einem ausführlichen Umweg über den Kopftuchstreit - wieder in die Aktualität. Er fordert den kenntnisreichen Dialog und konstatiert:

    Demokratie kann eben nicht, wie im Irak von den USA, Großbritannien und ihren Alliierten versucht, herbeigebombt werden. Demokratie kann den islamischen Ländern nicht von außen aufoktroyiert werden. Demokratie muss von innen her wachsen - selbst wenn in freien Wahlen zunächst 'islamischere' Parlamente und Regierungen an die Macht kämen.

    Denkbar wäre es gewesen, das Gerüst der Paradigmen noch zu erweitern. Etwa um das Paradigma von Diktatur und Neokolonialismus - oder um das Paradigma der falsch verstandenen Stabilität. Dann hätte sich der Blick noch mehr geweitet. Dann wäre klar geworden, dass nicht nur die USA eine oft fatale Politik betreiben. Gerade Europa unterstützt bis heute in der arabischen Welt die Diktatoren - mit allen fatalen Folgen, die das für die Reformbewegungen dort hat.
    Die geistige Stagnation an der Kairoer al Azhar-Universität zum Beispiel lässt sich schlecht verstehen, ohne die Wechselwirkung zwischen der Europäischen Union und der ägyptischen Mubarak-Diktatur. Und ohne die noch immer neokoloniale Kungelei zu zeigen, die Frankreich mit arabischen Diktatoren treibt, lässt sich die Hoffnungslosigkeit nicht begreifen, die Jugendliche im Maghreb den Islamisten in die Arme treibt - woraus sich wiederum der Kopftuchstreit ergibt.

    Hans Küng: Ich hab das vielleicht sehr auf Amerika zugespitzt, weil halt die Vereinigten Staaten allein diese Politik noch betrieben, vielleicht mit Unterstützung von Tony Blair. Aber Sie haben völlig recht. Die europäischen Staaten haben keinen Anlass, sich da selbstgerecht über die Amerikaner zu erheben. Nur haben doch innerhalb der Europäischen Union sehr viele gemerkt, dass wir weiterkommen nicht durch militärische Konfrontation, durch Revanche, durch immer wieder neue Attacken und Antagonismus, wie wir das durch die ganze europäische Moderne hindurch gehabt haben. Wir haben glücklicherweise ein Modell, das zeigt, dass Demokratie doch auch auf islamischer Grundlage möglich ist und das ist zur Zeit die Türkei. Es ist gar keine Frage, dass die Türkei im Islam von den Konservativen wie von den Liberalen, Fortschrittlichen äußerst aufmerksam beobachtet wird. Denn sie hat Fanalcharakter für den ganzen islamischen Raum.

    Hans Küng hat mit seiner Darstellung ein Werk vorgelegt, das profund ist, das sich fesselnd liest und sich auch nicht um klare Analysen drückt. Deshalb verdient sein Buch mit Fug und Recht, ein Standardwerk über den Islam zu werden.

    Hans Küng
    Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft
    Piper Verlag, 891 Seiten, 29 Euro 90