So beginnt das Vorwort zu dem Band "Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah - The Armenian Genocide and the Shoah", den Hans-Lukas Kieser und Dominik J. Schaller im Chronos Verlag, Zürich, herausgebracht haben. Während der Holocaust bis heute diese Referenzfunktion behalten hat und mit dem Attribut der Einzigartigkeit belegt wurde, ist der Genozid an den Armeniern nahezu in Vergessenheit geraten. Diese historische Amnesie verdankt sich einer Strategie, die die Herausgeber des Bandes als "politics of uniqueness" bezeichnen, das heißt, der Doktrin, dass absolut nichts dem Holocaust gleichkommen darf. Zu den Verdiensten des nun vorzustellenden Bandes zählt auch, dass seine Autoren sich über das aus der "Einzigartigkeitsdoktrin" abgeleitete Vergleichstabu hinwegsetzen.
Bald 90 Jahre nach den Ereignissen von 1915 hat der Völkermord an den Armeniern nicht aufgehört, bei Nachkommen der Opfer wie der Täter leidenschaftliche Reaktionen auszulösen. Nachdem im Frühjahr 2002 auf einem Kino-Festival in Toronto der Spielfilm "Ararat" des kanadisch-armenischen Regisseurs Atom Egoyan uraufgeführt worden war und die Presse darüber berichtet hatte, wurden kanadische Redaktionen mit Protestschreiben von türkischer, aber auch armenischer Seite geradezu überschüttet. Während türkische Leser die Thematisierung des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs durch Egoyans Film als Beleidigung der türkischen Nation verurteilten, warfen armenische Leser dem Regisseur und Drehbuchautor vor, in seinem die Übermittlung von Erinnerungen eindrücklich problematisierenden Film nicht eindeutig genug Stellung bezogen zu haben. Die hartnäckige Leugnung des Völkermords durch türkische Regierungspropaganda einerseits und die Anstrengungen der armenischen Diaspora in aller Welt, das armenische Trauma nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, lasten bis heute auf der leidenschaftslosen Auseinandersetzung mit diesem trüben Kapitel orientalisch-europäischer Vergangenheit.
Von der Verfolgung und Ermordung der Armenier, heißt es vielfach in der einschlägigen Hitler-Literatur, habe Hitler von einem bereits 1920 in die NSDAP eingetretenen ehemaligen bayerischen Kavallerieoffizier erfahren, Erwin von Scheubner-Richter, der während des Ersten Weltkriegs als Vizekonsul in der osttürkischen Stadt Erzurum amtiert hatte. An diesem Bild bringt der Band Retuschen an. Hinter dem Nazi der ersten Stunde, der bei Hitlers Putschversuch vom 9. November 1923 in München von der Polizei erschossen wurde und deshalb später als kleiner Märtyrer der "Bewegung" gelten durfte, lässt eine Studie des Historikers Hilmar Kaiser eine politisch und moralisch schillernde, doch im herkömmlichen Sinn nicht unbedingt als reaktionär einzustufende Gestalt erkennen. Dieser Vizekonsul zählte zu den wenigen in der Türkei stationierten Diplomaten des Kaiserreichs, die sich von bündnispolitischen Rücksichten nicht daran hindern ließen, gegenüber dem Auswärtigen Amt in Berlin die vom türkischen Kriegsalliierten an der armenischen Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen anzuprangern. Scheubner-Richter ging sogar soweit, mit Hilfe seiner kleinen militärischen Eskorte armenischen Deportierten Schutz zu gewähren und sie mit Lebensmitteln zu versorgen. Einen künftigen Frühnazi würde man in dem Mann kaum vermuten.
Eine solch offen pro-armenische Haltung war im deutschen Kaiserreich eher ungewöhnlich. Mochten die Armenier auch eine christliche Minorität bilden in einem muslimisch dominierten osmanischen Reich, reichstreuen Deutschen erschienen sie dennoch als unsichere Kantonisten, denen die Türken zu Recht misstrauten. Als im Gefolge der Berliner Konferenz frischgebackene Kolonialmacht begann das Deutsche Reich sich im späten 19. Jahrhundert mit anderen Kolonialreichen zu identifizieren und, wie die brutale Niederschlagung des Hereroaufstands im Süden Afrikas zeigt, sich am harten Vorgehen anderer gegen ethnische oder religiöse Minderheiten ein Beispiel zu nehmen. Die noch von Sultan Abdulhamid II zu verantwortenden Schlächtereien, denen 1895 und 1896 schätzungsweise 100.000 Armenier zum Opfer fielen, lösten in Deutschland keine übermäßige Empörung aus. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang liest sich in dem Band die Studie, die Hans-Walter Schmuhl dem Liberalen Friedrich Naumann gewidmet hat, einem ausgewiesenen Orient- und Türkeikenner, der zu den Begleitern Wilhelms des Zweiten auf dessen Nahostreise 1898 zählte. In einem seiner Reisebriefe zitierte Naumann durchaus zustimmend die Meinung eines deutschen Töpfermeisters aus Konstantinopel:
Ich bin ein Christ und halte die Nächstenliebe für das erste Gebot, und ich sage, die Türken haben Recht getan, als sie die Armenier totschlugen. Anders kann sich der Türke vor dem Armenier nicht schützen, von dem seine Noblesse, Trägheit und Oberflächlichkeit auf das Unverantwortlichste ausgenützt wird. Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt.
In späteren Jahren hat der von Max Weber geistig stark beeinflusste Naumann seine an Karl Mays Aversion erinnernde schroffe Ablehnung der Armenier und ihrer Interessen nuanciert, dem armenischen Volk sogar die Fähigkeit zur Staatsbildung zuerkannt, doch ließ sich der bis heute als Säulenheiliger des deutschen Liberalismus verehrte Friedrich Naumann selbst von den noch frischen Nachrichten über den Völkermord an den Armeniern von 1915 und 1916 im April 1917 nicht davon abhalten, bei der Grundsteinlegung für ein deutsch-türkisches Freundschaftshaus in Konstantinopel die Festrede zu halten. Deren Titel "Einheit und Fortschritt, unsere gemeinsame Losung" bezog sich ausgerechnet auf den Namen "Komitee Einheit und Fortschritt", den sich die 1913 durch einen Putsch an die Macht geratene jungtürkische Junta gegeben hatte. Aus deren Reihen rekrutierten sich die Anstifter und die Befehlsgeber des im April 1915 angelaufenen Genozids.
Mehrere Aufsätze des Bandes gehen der Genesis des Plans der Auslöschung armenischen Lebens in Anatolien nach. Von einer ausgearbeiteten, ethno-nationalistischen, gar nazi-ähnlichen Ideologie, die in letzter Konsequenz auf die physische Eliminierung nichtmuslimischer und nichttürkischer osmanischer Völker hinauslief, kann demnach auch bei den im Komitee "Einheit und Fortschritt" geheimbundartig organisierten Jungtürken keine Rede sein. Deren harter Kern, erläutert der Herausgeber Hans-Lukas Kieser in seinem minutiös dokumentierten monographischen Beitrag über den türkischen Mediziner Mehmed Reshid, entstammte der medizinischen Akademie der Armee, die naturwissenschaftlich ausgerichtet und deren Unterrichtssprache lange Zeit hindurch, der Tradition der Aufklärung folgend, Französisch war. Der Autor weist überzeugend nach, dass eben die in der Ausbildung vermittelte, moderne positivistische Konzeption von Gesellschaft und Natur die Absolventen der osmanischen Ärzteschule sehr empfänglich machte für die Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa umlaufenden Ideen einer heilbringenden sozialen und nationalen Hygiene. Als das Osmanische Reich sich unübersehbar zu zersetzen begann und der Erste Weltkrieg auch das anatolische Kernland zu erreichen drohte, wurde aus dem bis dahin mit der Bekämpfung der Syphilis befassten Volkshygieniker Dr. Mehmed Reshid ein Säuberer der Nation von als gefährlich eingeschätzten ethnischen Keimen.
1915 von der jungtürkischen Junta zum "Vali", zum Gouverneur der ostanatolischen Stadt Diarbakir, ernannt, mauserte sich der Arzt Dr. Reshid im Handumdrehen zum Organisator des Massenmords. 120.000 armenische Bewohner dieser Provinz wurden unter dem Oberbefehl des Mediziners abgeschlachtet oder in Richtung mesopotamische Wüste deportiert, was in den meisten Fällen bedeutete, dem Hungertod preisgegeben. Selbst der deutsche Botschafter in Konstantinopel zeigte sich von dem brutalen Vorgehen des türkischen Gouverneurs derart überrascht, dass er glaubte, Reichskanzler Bethmann-Hollweg im Juli 1915 davon in Kenntnis setzen zu müssen:
Seit Anfang dieses Monats hat der Vali von Diarbakir, Reshid Bey, mit der systematischen Ausrottung der christlichen Bevölkerung seines Bezirks begonnen, ohne zwischen Rasse und Herkunft zu unterscheiden.
In sozialpsychologischer Hinsicht liegt der Fall des Mediziners Reshid nahe an den späteren Fällen der Nazi-Mediziner und akademisch ausgebildeten Chefs der SS-Einsatzgruppen. Solche Formähnlichkeiten machen aus den jungtürkischen Tätern - wie dem Hauptverantwortlichen, dem 1921 in Berlin von einem armenischen Studenten erschossenen ehemaligen Innenminister Talaat - jedoch noch keine Proto-Nazis. In dem vorliegenden Band ziehen mehrere Autoren Parallelen nicht zwischen dem armenischen Völkermord und der nationalsozialistischen "Endlösung", sondern zwischen Armeniermord und der aktiven Teilnahme von Ländern wie Ungarn und Rumänien während des Zweiten Weltkriegs an der Vernichtung der Juden. Der Vergleich ist deshalb interessant, weil er die rein ideologischen oder auch pathologischen Motive wie im deutschen Fall zurücktreten lässt hinter außenpolitischem Opportunismus und ökonomischem Kalkül. In seinem "Nationsbildung im Krieg" überschriebenen Beitrag definiert der deutsche Historiker Christian Gerlach die Ausrottung der Armenier als "Massenraubmord", weil er aufgrund seiner profunden Quellenkenntnis nachweisen kann, dass es den jungtürkischen Tätern und den sie stützenden bourgeoisen Schichten vor allem auch darum ging, die lästige Konkurrenz zahlloser markterfahrener armenischer Kleinhändler loszuwerden und sich gleichzeitig deren Besitz anzueignen.
Ein ganz besonders trübes, in diesem Band ausführlich dokumentiertes Kapitel betrifft das Verhalten der Großmächte, und zwar nicht nur des Deutschen Reichs. Die französische Kriegsmarine hat durchaus, wie Franz Werfel in seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" wahrheitsgemäß berichtet, 1915 im Golf von Alexandrette armenische Überlebende in Sicherheit gebracht, doch nach Ende des Krieges änderte sich schleichend die Haltung der ehemaligen Kriegsgegner der Türkei. Bei der Konferenz von Lausanne 1923, auf der die ethnische Säuberung des neuen Nationalstaats Türkei international abgesegnet wurde, kam der Mord an den Armeniern nicht zur Sprache. Auf Druck der kemalistischen türkischen Regierung säuberte später der US-amerikanische Verleger Werfels aus dem ursprünglich 1933 in Wien bei Zsolnay erschienenen Roman alle als anti-türkisch gebrandmarkten Passagen hinaus.
Seit der Kalte Krieg nach 1947 aus der Türkei den Sperriegel zwischen Ost und West gemacht hat, verschlechterte sich die Erinnerungslage weiter: Niemand wollte, kaum 50 Jahre nach den Ereignissen, mehr erwähnen, dass diese als Bastion gegen den sowjetischen Freiheitsfeind aufgebaute NATO-Türkei den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts organisiert hatte. In Zusammenhang mit dem politisch motivierten Verschweigen steht die Serie von Attentaten, die in den siebziger Jahren von armenischen Terrorgruppen gegen türkische Diplomaten in aller Welt verübt wurde. Das dadurch geschaffene Aufsehen hielt jedoch nicht lange an. Die beiden Herausgeber Kieser und Schaller heben in ihrem ausgezeichneten Einleitungsaufsatz "Völkermord im historischen Raum" hervor, dass heute die strategischen Interessen der USA die türkisch-armenische Erinnerungspolitik mehr als jemals zuvor bestimmen. Selbst in die Konzeption des von aller Welt bewunderten Holocaust-Museums in Washington haben sie Eingang gefunden - eine von Professor Kevork Bardakjan, University of Michigan, erarbeitete ständige Ausstellung über den Armeniermord wurde auf Druck der federführenden und natürlich turkophilen Kongressmehrheit aus dem Konzept entfernt. Perverserweise folgt auch der Staat Israel, militärstrategisch mit der Türkei verbandelt, der selben opportunistischen Linie.
Der dreisprachige - auf Deutsch, Englisch und Französisch - beim Züricher Chronos Verlag erschienene Band "Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah - The Armenian Genocide and the Shoah" wurde herausgegeben Hans-Lukas Kieser und Dominik J. Schaller. 656 Seiten zu Euro 44,90.
Bald 90 Jahre nach den Ereignissen von 1915 hat der Völkermord an den Armeniern nicht aufgehört, bei Nachkommen der Opfer wie der Täter leidenschaftliche Reaktionen auszulösen. Nachdem im Frühjahr 2002 auf einem Kino-Festival in Toronto der Spielfilm "Ararat" des kanadisch-armenischen Regisseurs Atom Egoyan uraufgeführt worden war und die Presse darüber berichtet hatte, wurden kanadische Redaktionen mit Protestschreiben von türkischer, aber auch armenischer Seite geradezu überschüttet. Während türkische Leser die Thematisierung des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs durch Egoyans Film als Beleidigung der türkischen Nation verurteilten, warfen armenische Leser dem Regisseur und Drehbuchautor vor, in seinem die Übermittlung von Erinnerungen eindrücklich problematisierenden Film nicht eindeutig genug Stellung bezogen zu haben. Die hartnäckige Leugnung des Völkermords durch türkische Regierungspropaganda einerseits und die Anstrengungen der armenischen Diaspora in aller Welt, das armenische Trauma nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, lasten bis heute auf der leidenschaftslosen Auseinandersetzung mit diesem trüben Kapitel orientalisch-europäischer Vergangenheit.
Von der Verfolgung und Ermordung der Armenier, heißt es vielfach in der einschlägigen Hitler-Literatur, habe Hitler von einem bereits 1920 in die NSDAP eingetretenen ehemaligen bayerischen Kavallerieoffizier erfahren, Erwin von Scheubner-Richter, der während des Ersten Weltkriegs als Vizekonsul in der osttürkischen Stadt Erzurum amtiert hatte. An diesem Bild bringt der Band Retuschen an. Hinter dem Nazi der ersten Stunde, der bei Hitlers Putschversuch vom 9. November 1923 in München von der Polizei erschossen wurde und deshalb später als kleiner Märtyrer der "Bewegung" gelten durfte, lässt eine Studie des Historikers Hilmar Kaiser eine politisch und moralisch schillernde, doch im herkömmlichen Sinn nicht unbedingt als reaktionär einzustufende Gestalt erkennen. Dieser Vizekonsul zählte zu den wenigen in der Türkei stationierten Diplomaten des Kaiserreichs, die sich von bündnispolitischen Rücksichten nicht daran hindern ließen, gegenüber dem Auswärtigen Amt in Berlin die vom türkischen Kriegsalliierten an der armenischen Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen anzuprangern. Scheubner-Richter ging sogar soweit, mit Hilfe seiner kleinen militärischen Eskorte armenischen Deportierten Schutz zu gewähren und sie mit Lebensmitteln zu versorgen. Einen künftigen Frühnazi würde man in dem Mann kaum vermuten.
Eine solch offen pro-armenische Haltung war im deutschen Kaiserreich eher ungewöhnlich. Mochten die Armenier auch eine christliche Minorität bilden in einem muslimisch dominierten osmanischen Reich, reichstreuen Deutschen erschienen sie dennoch als unsichere Kantonisten, denen die Türken zu Recht misstrauten. Als im Gefolge der Berliner Konferenz frischgebackene Kolonialmacht begann das Deutsche Reich sich im späten 19. Jahrhundert mit anderen Kolonialreichen zu identifizieren und, wie die brutale Niederschlagung des Hereroaufstands im Süden Afrikas zeigt, sich am harten Vorgehen anderer gegen ethnische oder religiöse Minderheiten ein Beispiel zu nehmen. Die noch von Sultan Abdulhamid II zu verantwortenden Schlächtereien, denen 1895 und 1896 schätzungsweise 100.000 Armenier zum Opfer fielen, lösten in Deutschland keine übermäßige Empörung aus. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang liest sich in dem Band die Studie, die Hans-Walter Schmuhl dem Liberalen Friedrich Naumann gewidmet hat, einem ausgewiesenen Orient- und Türkeikenner, der zu den Begleitern Wilhelms des Zweiten auf dessen Nahostreise 1898 zählte. In einem seiner Reisebriefe zitierte Naumann durchaus zustimmend die Meinung eines deutschen Töpfermeisters aus Konstantinopel:
Ich bin ein Christ und halte die Nächstenliebe für das erste Gebot, und ich sage, die Türken haben Recht getan, als sie die Armenier totschlugen. Anders kann sich der Türke vor dem Armenier nicht schützen, von dem seine Noblesse, Trägheit und Oberflächlichkeit auf das Unverantwortlichste ausgenützt wird. Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt.
In späteren Jahren hat der von Max Weber geistig stark beeinflusste Naumann seine an Karl Mays Aversion erinnernde schroffe Ablehnung der Armenier und ihrer Interessen nuanciert, dem armenischen Volk sogar die Fähigkeit zur Staatsbildung zuerkannt, doch ließ sich der bis heute als Säulenheiliger des deutschen Liberalismus verehrte Friedrich Naumann selbst von den noch frischen Nachrichten über den Völkermord an den Armeniern von 1915 und 1916 im April 1917 nicht davon abhalten, bei der Grundsteinlegung für ein deutsch-türkisches Freundschaftshaus in Konstantinopel die Festrede zu halten. Deren Titel "Einheit und Fortschritt, unsere gemeinsame Losung" bezog sich ausgerechnet auf den Namen "Komitee Einheit und Fortschritt", den sich die 1913 durch einen Putsch an die Macht geratene jungtürkische Junta gegeben hatte. Aus deren Reihen rekrutierten sich die Anstifter und die Befehlsgeber des im April 1915 angelaufenen Genozids.
Mehrere Aufsätze des Bandes gehen der Genesis des Plans der Auslöschung armenischen Lebens in Anatolien nach. Von einer ausgearbeiteten, ethno-nationalistischen, gar nazi-ähnlichen Ideologie, die in letzter Konsequenz auf die physische Eliminierung nichtmuslimischer und nichttürkischer osmanischer Völker hinauslief, kann demnach auch bei den im Komitee "Einheit und Fortschritt" geheimbundartig organisierten Jungtürken keine Rede sein. Deren harter Kern, erläutert der Herausgeber Hans-Lukas Kieser in seinem minutiös dokumentierten monographischen Beitrag über den türkischen Mediziner Mehmed Reshid, entstammte der medizinischen Akademie der Armee, die naturwissenschaftlich ausgerichtet und deren Unterrichtssprache lange Zeit hindurch, der Tradition der Aufklärung folgend, Französisch war. Der Autor weist überzeugend nach, dass eben die in der Ausbildung vermittelte, moderne positivistische Konzeption von Gesellschaft und Natur die Absolventen der osmanischen Ärzteschule sehr empfänglich machte für die Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa umlaufenden Ideen einer heilbringenden sozialen und nationalen Hygiene. Als das Osmanische Reich sich unübersehbar zu zersetzen begann und der Erste Weltkrieg auch das anatolische Kernland zu erreichen drohte, wurde aus dem bis dahin mit der Bekämpfung der Syphilis befassten Volkshygieniker Dr. Mehmed Reshid ein Säuberer der Nation von als gefährlich eingeschätzten ethnischen Keimen.
1915 von der jungtürkischen Junta zum "Vali", zum Gouverneur der ostanatolischen Stadt Diarbakir, ernannt, mauserte sich der Arzt Dr. Reshid im Handumdrehen zum Organisator des Massenmords. 120.000 armenische Bewohner dieser Provinz wurden unter dem Oberbefehl des Mediziners abgeschlachtet oder in Richtung mesopotamische Wüste deportiert, was in den meisten Fällen bedeutete, dem Hungertod preisgegeben. Selbst der deutsche Botschafter in Konstantinopel zeigte sich von dem brutalen Vorgehen des türkischen Gouverneurs derart überrascht, dass er glaubte, Reichskanzler Bethmann-Hollweg im Juli 1915 davon in Kenntnis setzen zu müssen:
Seit Anfang dieses Monats hat der Vali von Diarbakir, Reshid Bey, mit der systematischen Ausrottung der christlichen Bevölkerung seines Bezirks begonnen, ohne zwischen Rasse und Herkunft zu unterscheiden.
In sozialpsychologischer Hinsicht liegt der Fall des Mediziners Reshid nahe an den späteren Fällen der Nazi-Mediziner und akademisch ausgebildeten Chefs der SS-Einsatzgruppen. Solche Formähnlichkeiten machen aus den jungtürkischen Tätern - wie dem Hauptverantwortlichen, dem 1921 in Berlin von einem armenischen Studenten erschossenen ehemaligen Innenminister Talaat - jedoch noch keine Proto-Nazis. In dem vorliegenden Band ziehen mehrere Autoren Parallelen nicht zwischen dem armenischen Völkermord und der nationalsozialistischen "Endlösung", sondern zwischen Armeniermord und der aktiven Teilnahme von Ländern wie Ungarn und Rumänien während des Zweiten Weltkriegs an der Vernichtung der Juden. Der Vergleich ist deshalb interessant, weil er die rein ideologischen oder auch pathologischen Motive wie im deutschen Fall zurücktreten lässt hinter außenpolitischem Opportunismus und ökonomischem Kalkül. In seinem "Nationsbildung im Krieg" überschriebenen Beitrag definiert der deutsche Historiker Christian Gerlach die Ausrottung der Armenier als "Massenraubmord", weil er aufgrund seiner profunden Quellenkenntnis nachweisen kann, dass es den jungtürkischen Tätern und den sie stützenden bourgeoisen Schichten vor allem auch darum ging, die lästige Konkurrenz zahlloser markterfahrener armenischer Kleinhändler loszuwerden und sich gleichzeitig deren Besitz anzueignen.
Ein ganz besonders trübes, in diesem Band ausführlich dokumentiertes Kapitel betrifft das Verhalten der Großmächte, und zwar nicht nur des Deutschen Reichs. Die französische Kriegsmarine hat durchaus, wie Franz Werfel in seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" wahrheitsgemäß berichtet, 1915 im Golf von Alexandrette armenische Überlebende in Sicherheit gebracht, doch nach Ende des Krieges änderte sich schleichend die Haltung der ehemaligen Kriegsgegner der Türkei. Bei der Konferenz von Lausanne 1923, auf der die ethnische Säuberung des neuen Nationalstaats Türkei international abgesegnet wurde, kam der Mord an den Armeniern nicht zur Sprache. Auf Druck der kemalistischen türkischen Regierung säuberte später der US-amerikanische Verleger Werfels aus dem ursprünglich 1933 in Wien bei Zsolnay erschienenen Roman alle als anti-türkisch gebrandmarkten Passagen hinaus.
Seit der Kalte Krieg nach 1947 aus der Türkei den Sperriegel zwischen Ost und West gemacht hat, verschlechterte sich die Erinnerungslage weiter: Niemand wollte, kaum 50 Jahre nach den Ereignissen, mehr erwähnen, dass diese als Bastion gegen den sowjetischen Freiheitsfeind aufgebaute NATO-Türkei den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts organisiert hatte. In Zusammenhang mit dem politisch motivierten Verschweigen steht die Serie von Attentaten, die in den siebziger Jahren von armenischen Terrorgruppen gegen türkische Diplomaten in aller Welt verübt wurde. Das dadurch geschaffene Aufsehen hielt jedoch nicht lange an. Die beiden Herausgeber Kieser und Schaller heben in ihrem ausgezeichneten Einleitungsaufsatz "Völkermord im historischen Raum" hervor, dass heute die strategischen Interessen der USA die türkisch-armenische Erinnerungspolitik mehr als jemals zuvor bestimmen. Selbst in die Konzeption des von aller Welt bewunderten Holocaust-Museums in Washington haben sie Eingang gefunden - eine von Professor Kevork Bardakjan, University of Michigan, erarbeitete ständige Ausstellung über den Armeniermord wurde auf Druck der federführenden und natürlich turkophilen Kongressmehrheit aus dem Konzept entfernt. Perverserweise folgt auch der Staat Israel, militärstrategisch mit der Türkei verbandelt, der selben opportunistischen Linie.
Der dreisprachige - auf Deutsch, Englisch und Französisch - beim Züricher Chronos Verlag erschienene Band "Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah - The Armenian Genocide and the Shoah" wurde herausgegeben Hans-Lukas Kieser und Dominik J. Schaller. 656 Seiten zu Euro 44,90.