"Ich bin ungefähr 85 Jahre alt", schreibt Hans Magnus Enzensberger. Übermorgen ist er es genau: am 11. November 1929 wurde er in Kaufbeuren geboren. "Ich fühle mich uralt und springe herum wie ein Heupferd", heißt es in einem Brief, den er schreibt, als er gerade 40 ist; das Heupferdhafte meint der Beobachter indes auch beim 85-Jährigen immer noch wahrzunehmen. Unter den drei grossen Alten, die die Aufmerksamkeit der intellektuellen Welt Deutschlands immer noch stärker auf sich ziehen als ganze Generationen, die auf sie folgen, ist Enzensberger der quirligste, der vielseitigste, der ungreifbarste geblieben. Anders als Walser und Grass - das sind die beiden anderen - hat er auch keine sogenannten Hauptwerke verfasst, als welche in Deutschland ja immer noch ausnahmslos dicke Romane gelten.
Enzenbergers Werk ist unüberschaubar
Sein Werk ist unüberschaubar, buntscheckig und gewissermaßen luftig, es umfasst Lyrik, Essays, Übersetzungen, Dramen, Aphorismen, Libretti, nicht zu vergessen die Herausgeberschaft des "Kursbuchs", der Zeitschrift "Transatlantik" und der grandiosen "Anderen Bibliothek". Eine Gattung fehlt allerdings: die Autobiographie. Und das hat seinen Grund. "Mein Gedächtnis gleicht einem Sieb, in dem wenig hängenbleibt", schreibt Enzensberger in seinen neuen Buch, das den Titel Tumult trägt - und keine Gattungsangabe. Zum schwachen Gedächtnis kommen das geringe Interesse an der eigenen Biografie und methodische Skrupel: Gerade in eigener Sache trügt die Erinnerung besonders heftig, und der Blick zurück rückt die Vergangenheit gern so lange zurecht, bis sie in das Bild passt, das man heute gern von sich hätte.
Dass Enzensberger jetzt dennoch einen Text autobiografischen Charakters vorlegt, ist daher eine echte Sensation Sie verdankt sich, wenn man dem Autor glauben will, dem Besuch zweier Archivare aus Marbach. Denen erlaubte er, sich in den Pappschachteln umzusehen, die in seinem Keller lagern, und war dann selbst verblüfft über das, was sie zu Tage förderten. Es waren Notizen aus den sechziger Jahren. Er las sich fest und bekam Lust - ohne Lust geht bei Enzensberger gar nichts -, aus dem Material etwas zu machen. Und: Die Aufzeichnungen erregten seine Neugier - ohne Neugier geht bei Enzensberger erst recht nichts - auf den Menschen, der sie verfasst hatte. Denn: "Der Mensch war mir fremd, den ich in den Papieren, die ich in meinem Keller fand, angetroffen habe. Dieses Ich war ein anderer. Ich sah nur eine Möglichkeit, mich ihm zu nähern: den Dialog mit einem Doppelgänger, der mir wie ein jüngerer Bruder vorkam, an den ich sehr lange Zeit nicht mehr gedacht hatte. Ich wollte ihn ausfragen. Doch war mir weder an einem Verhör noch an einer Beichte gelegen. Ob dieser knapp Vierzigjährige sich mit Schuldgefühlen oder Peinlichkeiten herumschlug, ob er Recht oder Unrecht hatte, war mir egal. Das einzige, was mich interessierte, waren seine Antworten auf die Frage: Mein Lieber, was hast du dir bei alldem gedacht?"
Verführung der jungen Intelligenz
Bei alldem: damit meint Enzensberger die Ereignisse um das Jahr 1968, die Verführung eines großen Teil der jungen Intelligenz der westlichen Welt - durch marxistische Lehren und revolutionäre Perspektiven. Dass sich die Sowjetunion längst als repressive Bürokratie diskreditiert hatte, dass auch in China die kommunistische Partei grausam wütete, störte die Anhänger der linken Bewegungen in Berlin, Frankfurt und anderswo nicht. Tatsächlich verbanden sich ja in dem Phänomen Achtundsechzig, wie wir es mangels eines treffenderen Begriffs nennen, alle möglichen Motive, von objektiven Reformnotwendigkeiten bis hin zur posthumen Bekämpfung des Faschismus am eigenen Vater.
Hans Magnus Enzensberger war keine Führungsfigur der 68er, auch kein marxistischer Vordenker, aber er war ein prominenter Exponent der Bewegung. Der Enzensberger von damals, muss man präzisieren, denn der Sinn und Zweck des neuen Buches ist nicht nur, zu begreifen, was ihn damals geritten hat, sondern auch zu zeigen, wie weit weg das alles von ihm heute ist, bis hin zum Unverständnis. "Tumult" sucht also Verständnis und stellt zugleich Distanz her. Dazu dient nicht zuletzt die Dialogform. Die hat Enzensberger schon immer geliebt, weil sie zwei Positionen in der Balance hält und den Leser seine eigenen Schlüsse ziehen lässt. Schlüsse ziehen darf der Leser von "Tumult" dann auch. Leicht macht es ihm Enzensberger allerdings nicht. Wenn er sich in zwei Figuren aufspaltet, hier den hartnäckig Fragenden - in Kursiv gedruckt - und dort den widerwillig in seinem Gedächtnis kramenden Befragten, dann hat das mit einem klassischen Interview wenig zu tun. Der eine hat viel vergessen, der anderen von manchem noch nie gehört - und doch kann man nicht sagen, dass der eine alt, weil von damals, der andere jung, weil von heute ist.
Verjüngung durch Erinnerung
Der, der sich erinnert, verjüngt sich dabei, während der Frager gerade durch sein historisches Besserwissen zuweilen alt aussieht. "Es ist keine Kunst, hinterher klüger zu sein. Aber dann hat man längst vergessen, wie es damals zuging", belehrt der Ausgefragte seinen Inquisitor, und der stimmt ihm ausnahmsweise einmal zu. Wie es damals zuging - eben das ist nicht leicht nachzustellen. Was erstens am chaotischen Charakter des Geschehens selbst liegt, zweitens an der fehlbaren Erinnerung, drittens aber auch am Beharren Enzensbergers auf dem Subjektiven, dem Erlebnis - und nicht einer vermeintlich objektiven historischen Wahrheit.
Enzensberger schreibt: "Die Erinnerung, die du einforderst, kann nur eine Form annehmen: die der Collage. Nur, wie soll ich dabei den objektiven vom subjektiven Tumult unterscheiden? Mein Gedächtnis, dieser chaotische, delirierende Regisseur, liefert einen absurden Film ab, dessen Sequenzen nicht zueinander passen. Der Ton ist asynchron. Ganze Einstellungen sind unterbelichtet. Manchmal zeigt die Leinwand nur Schwarzfilm. Vieles ist mit wackelnder Handkamera aufgenommen. Die meisten Akteure erkenne ich nicht wieder."
Enzensberger tastet sich durch ein Wirrwarr
Also ein "Wirrwarr", durch den sich die beiden Enzensbergers hindurchtasten. Und dabei eine tolle Szene nach der anderen heraufbeschwören. Da ist Enzensberger, der junge Dichter, der seinen "political turn" vollzieht, 1966 auf einer großen Demonstration gegen die Notstandsgesetze vor 25.000 Leuten spricht und mit Entsetzen erkennt, dass er das Zeug zum Demagogen hat. Der an allerhand Happenings im Umfeld der berühmten Kommune 1 teilnimmt - in der wohnte neben Fritz Teufel und Rainer Langhans auch sein Bruder Ulrich. Der die miteinander verfeindeten kommunistischen Fraktionen in seine Wohnung einlädt, als neutrales Terrain, wo sie miteinander diskutieren können.
Der Ulrike Meinhof so gut kennt, dass diese mit Gudrun Ensslin und dem von beiden gerade aus dem Gefängnis freigeschossenen Andreas Baader bei ihm aufkreuzt, in der Erwartung, dass Enzensberger sie verstecke! Was dieser wohlweislich ablehnt: "Ich begriff zwar, dass sie auf der Flucht waren, ahnte aber nicht, was sie angerichtet hatten. Dass dabei ein Bibliothekar schwer verletzt worden war, der ominöserweise Linke hiess, erfuhr ich erst später. Sie hatten keinen Zufluchtsort vorbereitet und wollten bei mir unterkommen. Ich erklärte ihnen, warum das keine gute Idee war. Vor meinem Haus stand nämlich seit geraumer Zeit ein schwarzer Volkswagen mit einem Mann, der die langweilige Aufgabe hatte, zu beobachten, wer bei mir ein und aus ging. Ich sagte also meinen ungebetenen Gästen, dass ein Zugriff hier sicherlich nicht auf sich warten liesse, wenn sie hierblieben. Daraufhin sind sie schnell wieder verschwunden."
Andreas Baader nennt Enzensberger Feigling
Trotz dieser Abfuhr beorderten die Untergetauchten den Autor später über Mittelsmänner in eine konspirative Wohnung, wo er ihre "Tagesbefehle" entgegennehmen sollte, nämlich Waffen oder Geld zu besorgen. Enzensberger weigerte sich, wurde daraufhin von Andreas Baader zum Feigling erklärt - und war aus der ganzen Sache raus. Eine typische Episode: Enzensberger schien überall mittendrin - und doch nie wirklich verwickelt. Er war kein Genosse, sondern ein unsicherer Kantonist, weil er eigene Urteil nie an der Garderobe einer Ideologie abgab und sich statt auf Autoritäten, und seien es biblisch-marxistische Texte, lieber auf den eigenen Augenschein verliess. Der war ihm allerdings wichtig. Enzensberger, der die restaurative Bundesrepublik der Sechzigerjahre ebenfalls sehr kritisch sah und vom Sozialismus fasziniert war, wollte sehen, hören, riechen und schmecken, wie er sich in der Praxis bewährte. Jede Gelegenheit, das vor Ort zu überprüfen, nahm er war.
Und er bekam jede Menge Gelegenheiten. Immer wieder - so stellt er es jedenfalls im Rückblick dar - flatterten ihm Einladungen auf den Tisch, Schriftstellerbegegnungen, Studienaufenthalten, Rundreisen. Ausser in Nordkorea und Albanien ist er in allen Staaten des kommunistischen Blocks gewesen.
Besonders die Führungsmacht dieses Blocks, die Sowjetunion, hat er immer wieder besucht. Zwei grosse Kapitel des neuen Buchs, die dem zentralen Dialog über die Jahre des Tumults vorangehen, erzählen von einem Schriftstellerkongress in Leningrad 1963 und einer Reise durch die asiatischen Republiken der Sowjetunion 1966. Sie beruhen auf Tagebuchnotizen, die zwar stilistisch bearbeitet sind, nicht aber ideologisch nachfrisiert. Die Einsichten in den deprimierenden, ärmlichen, repressiven Bürokratismus, der im vermeintlichen Paradies der Werktätigen herrschte, sind die von damals, und sie haben Enzensberger tief geprägt. "Lieber nicht", antwortete er für sich selbst auf die Frage, ob er in diesem Land leben könne. Enzensberger sah die Unfähigkeit der Planwirtschaft, den Menschen das zu verschaffen, was sie brauchten, hörte die Verlogenheit der offiziellen Verlautbarungen, traf auf zutiefst desillusionierte Menschen. Von den Privilegien, die er als Staatsgast bekam, ließ er sich nicht blenden.
Besonders die Führungsmacht dieses Blocks, die Sowjetunion, hat er immer wieder besucht. Zwei grosse Kapitel des neuen Buchs, die dem zentralen Dialog über die Jahre des Tumults vorangehen, erzählen von einem Schriftstellerkongress in Leningrad 1963 und einer Reise durch die asiatischen Republiken der Sowjetunion 1966. Sie beruhen auf Tagebuchnotizen, die zwar stilistisch bearbeitet sind, nicht aber ideologisch nachfrisiert. Die Einsichten in den deprimierenden, ärmlichen, repressiven Bürokratismus, der im vermeintlichen Paradies der Werktätigen herrschte, sind die von damals, und sie haben Enzensberger tief geprägt. "Lieber nicht", antwortete er für sich selbst auf die Frage, ob er in diesem Land leben könne. Enzensberger sah die Unfähigkeit der Planwirtschaft, den Menschen das zu verschaffen, was sie brauchten, hörte die Verlogenheit der offiziellen Verlautbarungen, traf auf zutiefst desillusionierte Menschen. Von den Privilegien, die er als Staatsgast bekam, ließ er sich nicht blenden.
Schwimmen mit Chruschtschow
Sein Sinn für das Kuriose und Groteske verließ ihn aber auch keinen Moment. Herrlich ist der Bericht über den Auftritt des Parteichefs Nikita Chruschtschow vor den Schriftstellern, dem eine Einladung an ausgewählte Gäste nach Sotschi folgt. Enzensberger ist natürlich dabei, hört sich eine fünfzigminütige, recht konfuse Rede des mächtigsten Mannes der Zweiten Welt an und geht schliesslich sogar mit ihm und in einer bereitgelegten, viel zu grossen Badehose im Schwarzen Meer schwimmen. Er notiert verwundert das völlige Fehlen von Charisma bei diesem Mann, der sich immerhin gegen mächtige Konkurrenten durchgesetzt und die Entstalisierung eingeleitet hat.
"Es ist wie eine Einladung beim Landrat", schreibt er und schließt seinen Bericht mit einer scharfsinnigen Einschätzung ab: "Er ist unscheinbar. Das hat ihn vermutlich gerettet. Seine Stärke ist die eines Menschen, der zu überleben vorhat. So hat er den Stalinismus und die Machtkämpfe nach dem Tod des Georgiers überstanden. An seiner Umsicht und an seinem Stehvermögen ist nicht zu zweifeln. Er hat mehr Sinn dafür, Situationen zu meistern, als sie zu schaffen. Kein Mann grosser Entwürfe, schwer zu überzeugen, theoretischen Argumenten unzulänglich, belehrbar allein durch "trial and error". Seine Vorzüge lassen sich am besten negativ bestimmen. Er ist ziemlich frei vom Größen- und Verfolgungswahn seiner Vorgänger. Seine Grundüberzeugungen sind so schlicht, dass sie sein Verhalten nicht programmieren, sondern umgekehrt: das Verhalten interpretiert sie von Fall zu Fall. In den Grenzen seiner Gemeinplätze ist er unsicher, also belehrbar. Von seiner größten politischen Leistung ahnt er nichts. Sie liegt in der Entzauberung der Macht. Ein Mann ohne Geheimnis an der Spitze des Staates: das ist in der Welt selten; in Russland ist es unerhört. Am Tisch dieses Menschen mag man gähnen, aber man fühlt sich nicht bedroht."
Enzensberger ist ein Revolutionstourist
Die spektakulärste Episode des Revolutionstouristen Enzensberger ist das "kubanische Jahr". Da hat der Autor ein einziges Mal seine übliche Position des interessierten, aber innerlich distanzierten Beobachters verlassen und sich engagiert dem jungen Revolutionsstaat zur Verfügung gestellt. Und dies nach einem regelrechten Eklat. Enzensberger weilte nämlich als Gastdozent in den USA, an der Wesleyan University in einer Stadt mit dem unübertrefflichen Namen Middletown, in äußerst feudalen Umständen; die Villa, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte, umfasste 14 Zimmer, drei Badezimmer und drei Garagen. Kein Ort für einen Enzensberger, wenn es überall sonst auf der Welt brodelte und brannte! Nach drei Monaten hatte er genug, schrieb dem Universitätspräsidenten einen Brandbrief, der dem Autor wohl heute so peinlich ist, dass er ihn im Buch nicht zitiert: "Ich halte die Klasse, die die USA beherrscht, und die Regierung, die ihr als Werkzeug dient, für die gefährlichste menschliche Gruppierung der Erde. Sie führt gegen mehr als eine Milliarde Menschen einen nicht erklärten Krieg", hiess es darin. Der Brief gelangte auf die Titelseite der New York Times, Uwe Johnson, damals in New York, hat sich darüber mokiert.
Vor Enzensbergers Einsatz für das letzte sozialistische Land, auf das er noch einige Hoffnung setzte, stand noch eine exzessive Reisephase, die ihn - mit spendierten Tickets, selbstverständlich -, unter anderem nach Kambodscha führte (dort traf er Prinz Sihanouk), weiter nach Australien, Tahiti (dort begegnete er Salvador Allende und den letzten Überlebenden von Che Guevaras bolivianischem Dschungelkampf) und manch andere exotische Orte. In Kuba sollte Enzensberger den örtlichen Diplomaten Kurse über westlich-kapitalistische Verhaltensweisen und Institutionen geben, doch daraus wurde nichts. Stattdessen spendierte man ihm und seiner Frau eine Rundreise und brachte sie dann in einem Hotel für Staatsgäste unter. Enzensberger wollte aber doch die Wirklichkeit des Sozialismus kennenlernen! Also stellte er sich für die Zuckerrohrernte und eine Kaffeepflanzaktion zur Verfügung. Der Kontakt mit der Realität führte zur rapiden Ernüchterung: Die Kaffeepflanzen steckten sie in einen Boden, der für sie ungeeignet war, und die Erntevorgabe für das Zuckerrohr war unerreichbar hoch. Wer Einwände äußerte, galt als unrevolutionär und wurde abgesetzt, wenn ihm nicht Schlimmeres widerfuhr.
Eine russische Liebe
Bezeichnenderweise hat Enzensberger sein Manuskript über die kubanische Erfahrung nie veröffentlicht; dass er im Kalten Krieg der Rechten keine zusätzliche Nahrung liefern wollte, ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Liebe zum Land und zu den Menschen, zur Sonne, den Farben und Tönen Kubas, klingt auch jetzt, in der Erinnerung des alten Mannes, noch durch. Vor allem aber hatte der Aufenthalt auf der Karibikinsel auch ein starkes persönliches Motiv, über das man in diesem Buch erstmals ausführliches erfährt. Es zeigt, dass nicht nur, wie damals bis zum Überdruss proklamiert wurde, alles Private politisch ist, sondern das Politische eben auch vom Privaten gelenkt werden kann. Dieses Motiv ist das, was Enzensberger seinen "russischen Roman" nennt. 1966 hatte er sich in Moskau in eine faszinierende junge Frau verliebt, Maria Makarowa, genannt Mascha. Er hatte seine Frau Dagrun verlassen und Mascha geheiratet, über beträchtliche bürokratische Hürden hinweg. Die Liebe war eine "amour fou", die Ehe ein Drama. Mascha war psychisch äusserst labil, wohl manisch-depressiv, sie kam mit dem Leben im Westen nicht zurecht, war notorisch eifersüchtig und scheiterte auf ihrem eigenen Berufsweg.
"Sehnsucht und Streit, Banalität und Liebe wechselten sich auf eine Weise ab, die jeder Tschechow-Leser kennt. Das war keine Sache von einer halben oder von zwei Stunden. Unsere Szenen setzten sich gewöhnlich bis zur Erschöpfung fort. Ich habe mir immer etwas darauf zugutegehalten, dass ich Handgreiflichkeiten verabscheue. Trotzdem wundert es mich, dass ich Mascha nicht beim Morgengrauen erwürgt habe. Mehr als einmal war ich nahe daran." So privat, ja intim hat sich Enzensberger bei aller Literarisierung mit Tschechow und "russischer Roman" noch nie geäußert. Immer wieder trennten sich die beiden und versuchten es von neuem miteinander, meist verbunden mit einem Ortswechsel. Kuba war einer davon, und er glückte für eine gewisse Zeit. Mascha, als Sowjetbürgerin mit Mangel und den Tricks, ihn zu überwinden, vertraut, blühte in Havanna auf. Mit den in Sonderläden gekauften Waren hielten sie kubanische Freunde frei, führten ein gastfreundliches Haus. Aber irgendwann war auch diese Zeit zu Ende, spätestens, als die repressiven Züge des Regimes nicht mehr zu übersehen waren, und Enzensberger wieder in Berlin. Auch dort stellte sich Ernüchterung ein: "Irgendwann war alles vorbei", schreibt er im Schlusskapitel, als er eine fein abgewogene Bilanz zieht. Und das ist, nach dem auch formalen Tumult des Buches, allerbester Essayismus. Die Geschichte, meint Enzensberger, ist eine Kräftespiel mit vielen Unbekannten. Wer sie in eine Richtung schieben will, erlebt oft das Gegenteil von dem, was er gewollt hat. So haben die Systemgegner das System nicht nur gestärkt, sondern auch verbessert und anpassungsfähig gemacht.
Kehrseiten aufzeigen
Enzensberger: "Die außerparlamentarische Opposition und ihre Ausläufer haben der Sozialdemokratie, die sie bekämpfen wollten, in Deutschland zum Sieg verholfen. Die Marxisten-Leninisten machten mit ihrer Agitation die Gewerkschaften auf ihre gefährlichsten Fehler im Produktionsablauf aufmerksam. Die Roten Zellen trieben die überfälligen Strukturreformen an den Universitäten voran. Die Systemopposition ist auf diese Weise zum bloßen Relais der Modernisierung geworden. Sie hat den Lernprozess der kapitalistischen Gesellschaft entschiedener vorangetrieben als ihre Verteidiger. Die militante Linke reagierte darauf, indem sie sich weiter radikalisierte. Auf längere Sicht verhalf sie damit dem Regime, das sie zu bekämpfen glaubte, zu einer immer besseren Anpassung an die Gegebenheiten der Globalisierung."
Und Deutschland wurde von einem miefigen Obrigkeitsstaat zu einem Land, in dem es sich gut leben lässt. Ein historisches Happy End, wo schon der russische Roman schlimm endet, mit der endgültigen Trennung und dem späteren Selbstmord Maschas? Enzensberger, der sich so gern als Glückskind zeichnet, dem alles zufällt, zeigt hier einmal die Kehrseite der glänzenden Oberfläche. Auch im Politischen: Er widmet sein Buch "Den Verschwundenen". Den Verlierern, die diese Jahre eben auch produzierten. Den Opfern ihres eigenen Idealismus. Den von der Bürokratie oder Fraktionskämpfen zerrissenen. Denen, die die Kurve nicht mehr kriegten - und die erst recht nicht zu den Pirouetten fähig waren, als deren Meister sich Enzensberger in diesem Buch erneut erweist.
Hans Magnus Enzensberger: "Tumult"
Suhrkamp, Berlin 2014. 288 S., 21.95 Euro.
Suhrkamp, Berlin 2014. 288 S., 21.95 Euro.