"Ach Europa": Es war mehr ein sehnsuchtsvoller Seufzer denn ein Buchtitel, mit dem Enzensberger seine "Wahrnehmungen aus sieben Ländern" überschrieb. Enzensbergers vielleicht bekanntestes Buch ist eine Liebeserklärung an die Verschiedenartigkeit der Kulturen und Mentalitäten, die er auf seinen Recherchereisen durch das Europa der frühen und mittleren 80er Jahre vorfand. Seine Erzählungen, mehr gesellschaftliche Tiefenbohrungen denn Reiseberichte, sind auch ein gutes Vierteljahrhundert nach ihrer Erstveröffentlichung ein literarischer Lesegenuss. Das verraten schon Kapitelüberschriften wie "Italienische Ausschweifungen", "Portugiesische Grübeleien" oder "Spanische Scherben".
Schleichende politische Enteignung
Ach, Europa: So hätte auch der Titel seines Europa-Essay von 2011 lauten können – diesmal allerdings eher als Stoßseufzer zu interpretieren. "Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas", so heißt er stattdessen – und auch dieser Titel ist Programm.
"Da gibt es zum Beispiel Bananen-Verordnungen, wir kennen Kondom-Verordnungen – also das heißt, die europäischen Bürger werden als unmündiges Volk betrachtet," wetterte er vor zwei Jahren in einem seiner seltenen Fernseh-Interviews. Die Europäische Einigung ist für Enzensberger ohne Zweifel eine Erfolgsgeschichte - aber eine, die an einem ganz grundlegenden Defekt leidet: an der schleichenden politischen Enteignung ihrer Bürger.
"... von denen es am besten ist, wenn sie gar nicht mitreden. Denn die Institutionen in Brüssel wissen besser, was gut für uns ist, als wir selbst. Und sie maßen sich auch moralische Kompetenzen an: Das heißt, sie wollen uns ja bessern. Das heißt, wir verwandeln unseren Kontinent ein bisschen in eine Besserungsanstalt."
Zerstörung der kulturellen Vielfalt des Kontinents
Enzensberger wird nachgesagt, er habe stets die Nase im Wind und könne mit sicherem Gespür künftige gesellschaftliche Entwicklungen vorausahnen. In der Tat hat er schon in "Ach Europa" vor der Zerstörung der kulturellen Vielfalt des Kontinents gewarnt: Die Brüsseler Bürokratie, durch keine demokratischen Wahlen legitimiert, ziele auf die Etablierung einer synthetischen Großmacht ab. Damit hat er schon vor Jahrzehnten die Begründung geliefert, warum das Vereinte Europa in seiner derzeitigen Form aus seiner Sicht ein wahnwitziges Projekt ist. Auch der Topos der "Umerziehung" mit dem Ziel eines "besseren Menschen" zieht sich durch sein Schaffen – am Ende, so ist sich Enzensberger sicher, artet sie in etwas aus, das er als „weichen Terror" bezeichnet. In „Ach Europa" spricht er von einem "Labyrinth sichtbarer und unsichtbarer Einmauerungen", denen wir uns längst ergeben hätten. Schon damals wurde sein Grund-Misstrauen gegenüber Institutionen deutlich, gegen den "Leviathan der Bürokratie", wie er es in einer Lesung ausdrückt:
"Die Institutionen, die mit ihren Betonklötzen die Zentren aller Städte okkupiert haben, verkörpern eine zwar fremde, jedoch immer wohlwollende Macht; ja, es ist gerade dieses Wohlwollen, was sie unanfechtbar macht. Und so nimmt es nicht wunder, dass diese Macht sich unwiderstehlich ausdehnt, in alle Ritzen des Alltagslebens eindringt und die Regungen der Menschen in einem Maß reglementiert, das in freien Gesellschaften beispiellos ist."
Bürokratie-Auswüchse in Europa
Die EU, das wird aus der Zusammenschau beider Europa-Schriften klar, ist für Enzensberger die Summe aller Bürokratie-Auswüchse, die er bereits in den Einzelstaaten kritisiert hat – oder gar ihre Potenz. Die übergriffige staatliche Übermacht repräsentiert seiner Ansicht nach, und dies ist erstaunlich für einen linken Intellektuellen, ausgerechnet das liberale sozialdemokratische Vorzeigeland Schweden: Die Hegemonie der Sozialdemokratie, sie hat für ihn einen hohen Preis: die völlige Uniformität einer Gesellschaft. Seine unverkennbare Sympathie gilt dagegen Italien, dem "Land des Aberglaubens", wie er schreibt, in dem jeder nur an sich denkt und selbst Zauberer eine eigene Gewerkschaft haben. Enzensbergers Schlussfolgerung allerdings, dass Italien gerade wegen des kreativen Chaos', das dort herrscht, für die heraufziehenden Krisen am besten gerüstet sei: Sie dürfte mittlerweile von der Wirklichkeit überholt sein. Linke Utopien bleiben zwar stets sein Bezugsrahmen – etwa, wenn er hin und wieder kleine Seitenhiebe an seine "orthodoxen marxistischen Freunde" verteilt. Den Heilsversprechen ihrer Lehren erteilt er aber im gleichen Atemzug eine Absage:
"Ich glaube mich zu erinnern, dass es einst das Ziel der Linken war, die Menschen aus ihrer Unmündigkeit zu befreien. Warum die Anbetung des Staates zum Credo der Linken, der Hang zur Selbstbestimmung aber zum Inbegriff bürgerlicher Verstocktheit geworden ist, das habe ich nie verstanden."
Enzensberger als leidenschaftlicher Europäer
Ein Linker ist Enzensberger dennoch geblieben – allerdings in einem sehr ursprünglichen, libertären, ja antiautoritären Sinne. Auch wenn er sich früh von den radikalen Gesellschaftsentwürfen der 68er distanziert hat, klingt doch vieles bei ihm nach dem alten Sponti-Motto „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt". In dieser Tradition steht auch seine Überzeugung aus den 80er Jahren, die Bürger Europas würden einer Zerstörung ihrer Kultur nicht tatenlos zuschauen, sondern schon bald den Aufstand gegen Brüssel proben: Eine Voraussage, die sich zumindest bisher nicht erfüllt hat - sieht man von den Wahlerfolgen europakritischer Parteien der Marke AfD oder UKIP einmal ab. Enzensbergers Schriften sind eine Abrechnung mit der EU von einem leidenschaftlichen Europäer – die allerdings oft genug in Polemik stecken bleibt. Beiden Schriften fehlt eine echte Vision, wie ein funktionierendes vereintes Europa denn aussehen könnte – so ganz ohne Institutionen und frei von Bürokratie. Das gilt auch für die von ihm völlig zu Recht beklagten demokratischen Defizite der EU. So messerscharf seine Analysen, so stumpf sind oftmals seine Schlussfolgerungen. Doch wie viele kluge Menschen, hat er das vielleicht zuerst selbst erkannt. So heißt es in einem seiner Gedichte:
"Wenn du einen triffst, der gescheiter ist oder dümmer als du – mach dir nichts draus. Den Ameisen und den Göttern geht es, glaub mir, genauso."
Die besprochenen Bücher:
1. "Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern", bei Suhrkamp erschienen, die 501 Seiten sind nach wie vor für 10 Euro erhältlich. Und
2. "Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas", ebenfalls bei Suhrkamp verlegt. 73 Seiten, Preis: 7 Euro.