Architekt Hans Stimmann Heiler zwischen Ost und West
Hans Stimmann hat das Gesicht des wiedervereinigten Berlins maßgeblich beeinflusst - als Senatsbaudirektor in den 90er-Jahren quasi eine Mammutaufgabe. „Meine wichtigste Idee war, diese gegensätzlichen Haltungen, die beide Hälften der Stadt geprägt haben, irgendwie zu heilen“, sagt der Architekt rückblickend.
Das neue Berlin bauen, genauer, das Bauen lenken – diese enorme Aufgabe hatte Hans Stimmann vor sich, als er 1991 zum Senatsbaudirektor Berlins wurde. Aus der jahrzehntelang geteilten Stadt sollte wieder ein Ganzes werden. Nach Stimmanns Vorstellung eine Hauptstadt, die ihre Geschichte nicht verleugnet, die sich an bestimmten Bautraditionen orientiert, von anderen wiederum abgrenzt. Das Stichwort lautet: kritische Rekonstruktion.
Anknüpfen wollte der Stadtplaner, Architekt und gelernte Maurer an das Berlin des 19. Jahrhunderts mit Berücksichtigung der historischen Parzellenstruktur und Blockrandbebauung. Das Ziel war auch beim Neubau ein historisch stimmiges Gesamtbild statt spektakulärer Einzelbauten. Festgehalten hat Stimmann seine Vorstellungen in einem entsprechenden Gesamtkonzept, das in Fachkreisen jedoch viele als zu streng kritisierten. Dem Sozialdemokraten brachte es viele Auseinandersetzungen mit namhaften Architektinnen und Architekten ein. Für richtig hält Hans Stimmann es jedoch bis heute, wie er Stephan Detjen im Interview erzählt hat.
Hinweis: Wir haben das Gespräch am 17. Februar 2022 aufgezeichnet.
StephanDetjen: Herr Stimmann, Sie wurden im März 1941 in Lübeck geboren, und ganz genau ein Jahr später, am 28. März 1942, wurde Lübeck das Ziel des ersten Flächenbombardements der britischen Royal Airforce auf einen deutschen Großstadtkern. Gibt es da Bilder, Erfahrungen der Zerstörung von Städten, die Ihnen aus Ihrer Kindheit in Erinnerung geblieben sind?
HansStimmann: Nein, aus meiner Kindheit nicht. Also, ich weiß es natürlich, das ist das Schlüsselereignis, das wird pausenlos kolportiert in den Artikeln und Reportagen, jeder kennt das, Rache für Coventry. Und es gibt auch eine Partnerschaft zu Coventry, aber ich selber habe keine Erinnerung an dieses 1942. Was ich bei der Gelegenheit immer erzähle, ist: Ich bin noch im unzerstörten Dom, eine der beiden großen Kirchen mit dem Doppelturm, bin ich getauft worden. Und zwar habe ich später rausgekriegt, ich bin getauft worden von deutschen Christen, also Nazis, die mich dort im Dom getauft haben. Das habe ich immer erzählt, aber ansonsten bin ich groß geworden in Lübeck, das war ja noch eine Stadtrepublik oder eine abgehalfterte Stadtrepublik. Ich bin in einem Industrievorort von Lübeck im Arbeitermilieu, richtiges Ruhrgebiet, also Stahlwerke, große Werften, Hochofenwerke, Kraftwerke, Steinwerke, alles, was Industrie ausmachte, Fischwerke, Fischfabriken und so weiter, Holzindustrie – ein richtiges Industriegebiet, heute alles mausetot.
Detjen: Und dann auch die Erfahrung, auch das spielte sich in Ihrer Kindheit und Jugend da ab, die Erfahrung von Flucht, Flüchtlinge, die da sichtbar waren – überall in Deutschland, aber, ich glaube, auch in Lübeck ganz besonders.
Stimmann: Ja, es gab ein Flüchtlingsaufnahmelager, so hieß das, wir waren ja britischer Sektor, und die Engländer haben uns die Nissenhütten mitgebracht, das ist sozusagen keine Speer-Erfindung, der Speer hat die Baracken gebaut, aber die Engländer haben die Nissenhütten mitgebracht. Und in den Nissenhütten … Also, bei uns, wo ich gewohnt habe, auf der anderen Seite der Straße sozusagen, jenseits der Bahn war dieses Flüchtlingsaufnahmelager, da kamen alle Flüchtlinge erst mal her, wurden registriert – und dann wurden sie verteilt von da auf Schleswig-Holstein oder auf größere Teile von Deutschland. Und ein Teil davon, insgesamt 80.000, blieb auch in Lübeck.
Mein Bruder ist Schlosser, meine Schwester Krankenschwester – und ich wurde eben Maurerlehrling.
Detjen: Wenn man Ihren Lebensweg anschaut, dann ist das ein Lebensweg, der etwas typisch Sozialdemokratisches auch hat. Sie sind 1969 Mitglied der SPD geworden und haben zunächst auch mal – aus einem Arbeiterviertel, aus einem Arbeiterhaushalt auch kommend – eine Maurerlehre gemacht. Das fällt ja dann in eine Zeit, in der es darum geht, ein zerstörtes Land, zerstörte Städte wiederaufzubauen. Hat Sie das geprägt, in dieser Zeit sozusagen physisch mit Hand an den Wiederaufbau gelegt zu haben? Wiederaufbau, Rekonstruktion, das ist ja dann auch zu einem Lebensthema für Sie geworden.
Stimmann: Neubau, nicht Wiederaufbau. Sie müssen ja immer sehen, der Wiederaufbau in Lübeck, die Rekonstruktion findet ja jetzt gerade statt. Die zerstörte Altstadt, also das Gründerviertel, das Viertel, wo das Buddenbrookhaus steht, das ist ja wieder aufgebaut worden wie in Berlin oder in Kassel oder Hannover, alles wurde flachgelegt und es wurde neu gebaut. Und das, was mich geprägt hat, ist nicht der Wiederaufbau der Innenstadt, der Altstadt, sondern der Neubau für die Vertriebenen, muss man ja präziser sagen, die auf den ehemaligen Standorten der Zwangsarbeiterlager errichtet wurden. Das war sozusagen mein Kontext, mein persönlicher Kontext als kleiner Junge, überall waren Baracken, und als ich dann so weit war, dass man einen Beruf wählen konnte, wir wurden alle Handwerker. Ich weiß nicht warum, mein Bruder ist Schlosser, meine Schwester Krankenschwester – und ich wurde eben Maurerlehrling. Und Maurerlehrling bedeutete nicht Rekonstruktion, sondern Neubau der 50er-Jahre, also so Zeilenbauten.
Politisierung in Frankfurt
Detjen: Und aus diesem Maurerhandwerk, das führt dann ja schon auch zum Thema Architektur, Städtebau, das ist das Thema, das Sie dann später geprägt hat. Studium, Ingenieursstudium zunächst an der Fachhochschule und dann Studium der Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität in Berlin, da kamen Sie dann in einen ganz anderen Kontext, wo man sich dann auch schon mit ganz anderen Fragen – Bauausstellung und solche Dinge werden prägend von Städtebau, Städteplanung – beschäftigt hat.
Stimmann: Ja, aber man muss sich immer noch in Erinnerung rufen, ich habe an der Fachhochschule, so nannte man das ja … Und wir hatten da mit Architektur wenig am Hut, meine Ausbildung war die eines Meisters, das war vollkommen unakademisch, sehr praktisch, sehr technisch angelegt. Und mit dieser Ausbildung bin ich dann als Architekt nach Frankfurt am Main gegangen, weil man da arbeiten konnte. Da habe ich eine Arbeitsstelle gefunden bei einem großen amerikanischen Planungsbüro am Frankfurter Opernplatz in einem Hochhaus. Frankfurt war sozusagen für mich der Ort der Aufklärung, weil in Frankfurt habe ich mich emanzipiert von diesem Handwerklichen.
Frankfurt war damals die Stadt der Philosophen, Habermas und Adorno und so weiter, aber auch die Stadt der Proteste. Ich habe da zum ersten Mal Kontakt bekommen mit Leuten, die gegen den Vietnamkrieg protestiert haben. Das hat mich am Ende dazu bewogen, nach dem politischen Background zu fragen, und ich habe mich also den Demonstrationen angeschlossen. Und dann war es nicht mehr weit, irgendwann hat einer gesagt, Mensch, komm doch zu uns, wir sind alle als gesamte Organisation dagegen, die Vorsitzende hieß Heidemarie Wieczorek-Zeul, das war eine relativ bekannte Juso-Vorsitzende. So bin ich also in Frankfurt in die SPD eingetreten, aber dieser Eintritt hat eben auch dazu geführt, dass ich mein eigentliches Handwerk, also die Architektur, das Bauen im engeren Sinne, sozusagen für nachrangig betrachtet habe.
Der Sprung nach Berlin
Ich habe gesagt: Wenn du die Welt verändern willst, kannst du das nicht mehr mit neuen Häusern machen, mit neuen Wohnungen oder mit neuen Kindergärten, sondern du musst erst mal die Grundsatzfragen lösen, also die Bodenfrage und überhaupt die Wohnungsfrage, so wie sie Friedrich Engels gestellt hat. Da gab’s dann irgendwelche Leute, die haben gesagt, weißt du, du musst nach Berlin gehen. An der TU in Berlin, da gibt’s die Möglichkeit für Leute wie dich, ohne Abitur, du kannst dort Stadt- und Regionalplanung studieren. Das haben die Sozialdemokraten sich ausgedacht, die haben gesagt, Planung ist alles, Architektur ist wenig. Da hab ich gesagt, das hört sich ja gut an, da fahr ich hin, und so bin ich nach Berlin gekommen – nicht, um Architektur zu studieren, das war ich ja schon, sondern um Planung zu studieren, also die systematische Veränderung der Gesellschaft von den Grundlagen her, also von der Bodenordnung und von der Eigentumsordnung und von den ganzen Fragen, die bis heute die Berliner Szene, oder nicht nur die Berliner Szene, beschäftigt, also die Mietenfrage, wie hoch sind die Mieten und wie hoch sind die Anteile der verschiedenen Bevölkerungsschichten an den Kosten und Unkosten, die entstehen. Das war sozusagen ein Schritt von der handwerklichen, fachlichen Ausbildung in die Architekturpraxis …
Detjen: Und eine politisierte Entscheidung auch, also dann eine …
Stimmann: Von der Architekturpraxis wieder politisiert in eine Planungspraxis mit dem festen Willen, man muss die Welt verändern. Das konnte man hier in Berlin, das war sozusagen einer der wenigen Orte in Berlin, wo überhaupt diese Planung als Studium, als Fachrichtung im Grunde. Stadt- und Regionalplanung hieß unser Fach, wurde ganz neu etabliert und galt als extrem fortschrittlich. Wir haben keine Bleistifte benutzt, es sei denn zum Unterstreichen von wichtigen Zitaten aus Friedrich Engels zur „Lage der arbeitenden Klasse in England“ oder irgend so was, aber es wurde nicht immer gezeichnet, es wurde nur getextet und Forderungen aufgestellt, dies oder jenes anders oder vor allen Dingen besser zu machen und gerechter zu machen.
Bausenator in Lübeck
Detjen: Sie sind dann zunächst auch in die Verwaltung gegangen, wurden dann in Ihrer Heimatstadt, in Lübeck, Bausenator. Was hatten Sie da für Aufgaben vorgefunden, in den 80er-Jahren, Mitte der 80er-Jahre, 86, glaube ich, war das dann, ne?
Stimmann: Ja, 86. Ich hab’ Diplom gemacht als Stadt- und Regionalplaner und habe mich dann danach sehr intensiv mit dem Thema Autobahn, Verkehrsplanung beschäftigt. Sie müssen sich vorstellen, damals, als ich in Berlin gewohnt habe, das war die Gründungsphase der heutigen Grünen, und die Grünen hießen nicht Grüne, sondern das war die Alternative Liste, und die haben demonstriert und argumentiert gegen die Westtangente, also gegen die Stadtautobahn. Das war sozusagen ein wesentlicher Teil meiner Sozialisation, sich mit dem Thema Straße und öffentlicher Raum und die ausschließliche Inanspruchnahme der öffentlichen Räume durch das Auto zu beschäftigen, also ein total zeitgeistiges Thema. Mit dem Thema habe ich dann auch in der Berliner Verwaltung am Fehrbelliner Platz sozusagen Arbeit gefunden und mit meiner ganzen Biografie – also Lübecker und Maurer und Architekt und amerikanische Praxis und gegen Autobahnbau und so weiter.
Da hab’ ich zum ersten Mal mit der Leitung einer Verwaltung zu tun gehabt ...
Der damalige SPD-Vorsitzende von Lübeck, der hat mich angerufen und hat gesagt: Hans, kennst du mich noch? Und da hab ich gesagt: Ja, dunkel, sag mal ein paar Sätze. Und dann haben wir uns ausgetauscht, woher wir kamen. Der kam aus der ähnlichen Gegend wie ich, und da hat er gesagt, willst du bei uns Bausenator werden. Und da hab ich gesagt, ich weiß gar nicht, was man da machen soll, aber im Prinzip hört sich das gut an.
Detjen: Und was sollte man machen, welche Aufgaben haben Sie da vorgefunden?
Stimmann: Da hab’ ich zum ersten Mal mit der Leitung einer Verwaltung zu tun gehabt, was ja immer noch ein Unterschied ist, ob man Architekt ist und in einem Büro arbeitet, auf Anweisung für einen konkreten Bauherrn, oder ob man für eine große Stadt die Gesamtverantwortung für das Planen und das Bauen hat. Das war für mich eine wahnsinnige Lehrzeit. Ich hab alles, was ich später hier in Berlin verwenden konnte, sozusagen administrativ, technisch und diese ganze Verfahrenstechnik, der Umgang mit der Bürgerschaft – die Bürgerschaft ist in Lübeck das Parlament, also das lokale Parlament –, der Umgang mit den Parteigremien, der Umgang mit Bürgerinitiativen. All das, was man ja eigentlich braucht, da man administrativ-politisch tätig werden will, das hab ich in Lübeck gelernt.
Zitat fett: Das war sozusagen die wichtigste Aufgabe, nicht nur physisch diese Strukturen wieder in irgendeiner Form zu reparieren, sondern man musste sie auch emotional wieder heilen.
Senatsbaudirektor im wiedervereinigten Berlin
Detjen: Sie haben von Lehrjahren gesprochen, nicht nur mit Blick auf Ihre Maurerausbildung, das Studium, sondern auch auf die Tätigkeit als Bausenator in Lübeck, die dann im Grunde hinführen auf die Tätigkeit, die im Mittelpunkt Ihres Lebens steht, als Senatsbaudirektor in Berlin. 1991 sind Sie das zum ersten Mal geworden, waren dann zwischendrin, 96 bis 99, Staatssekretär beim Stadtentwicklungssenator in Berlin und dann von 99 bis 2006 wieder Senatsbaudirektor. Das ist das prägende Amt, das Amt, in dem Sie das Gesicht Berlins ganz maßgeblich mitgeprägt haben. Sie wurden teilweise in erbitterten Debatten als illiberaler Autokrat einer rigiden Stadtästhetik kritisiert. Aber bevor wir darauf kommen, müssen Sie vielleicht mal schildern, was ist das für ein Amt eigentlich – das muss man verstehen, das Amt des Senatsbaudirektors in Berlin.
Stimmann: Das hat damit zu tun, dass es diese merkwürdige Teilung gab. Die Befreiung von den Nazis erfolgte durch die Sowjetarmee, und die Sowjetarmee hat auch die erste Regierung eingesetzt, und der erste Bausenator, also der politisch administrative Kopf der Bauverwaltung im Magistrat – so hieß das früher – war Hans Scharoun.
Detjen: Der Architekt der Berliner Philharmonie…
Stimmann: … und der hat einen wahnsinnigen Plan aufgestellt, einen Kollektivplan, und da war alles neu. Der hat gesagt, wir müssen diese Vergangenheit vergessen, wir fangen bei null an, wird alles abrasiert, was noch rumsteht, und wir erfinden die Stadt genau wie die Gesellschaft neu, sonst wird das nichts mit den Deutschen. Das war sozusagen eine Radikalität, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Das war alles tief getränkt durch den Faschismus und deren Ideologie. So, und dann haben die Alliierten sich, die vier Alliierten, die Siegermächte, sich gestritten, und dann begann der Kalte Krieg, und im sowjetischen Sektor gab’s Chefarchitekten, und der berühmteste Chefarchitekt war Hermann Henselmann mit den berühmten Vorstellungen für die – damals hieß sie noch Stalinallee, erster Bauabschnitt. Und die Wessis konnten ja nicht auch einen Chefarchitekten aufsetzen, da haben sie sich was Neues ausgedacht und haben gesagt, wir machen das wie die Hamburger oder wie die Bremer, also wie die Stadtrepubliken, die haben keinen Chefarchitekten, sondern die haben einen Senat und einen Senator. Seitdem heißt, seit 1949 genau, der politische Kopf in Berlin, der heißt Senator.
Detjen: Das Interessante ist ja wie da auch in den Begriffen, in Titeln die Systemkonkurrenz deutlich wird, die die Stadt natürlich auch in Stein und Beton geprägt hat. 1991 bekommen Sie dieses Amt, das ist das Jahr, in dem der Deutsche Bundestag den Beschluss zum Umzug nach Berlin fällt. Die Stadt ist von Teilung, von unterschiedlichen stadtplanerischen Visionen, unterschiedlichen Baustilen, konkurrierenden Zentren und nicht zuletzt auch von gigantischen Leerstellen, leeren Flächen geprägt. Was ist das für eine Aufgabe, die Sie da 1991 in Berlin vor sich gesehen haben?
Stimmann: Meine wichtigste Idee war, diese gegensätzlichen Haltungen, die beide Hälften der Stadt geprägt haben, irgendwie zu heilen. Sie müssen sich mal vorstellen, es war nicht nur unterschiedliche Auffassungen, es war gegensätzliche Aufstellungen. Die Stalinallee als ein riesiger Boulevard zum Aufmarsch von Demonstrationen und von Militär und von Panzern, das war sozusagen das Bild des damaligen DDR-Magistrats…
Detjen: Aber natürlich auch der Alexanderplatz damals…
Stimmann: … Der Alexanderplatz war der Fokus der früheren Stalinallee oder historisch der Frankfurter Allee. Das war die Einfallsstraße von Osten. Und der Westen hat gesagt, wir bauen das pure Gegenteil. Bei uns gibt’s keine Rücksichtnahme auf irgendwelche alten Einfallsstraßen und keine Rücksichtnahme auf historische Bautypologien, sondern wir bauen eine neue Welt für eine neue Gesellschaft, und das war das Hansaviertel am Tiergartenrand. Das waren sozusagen gegenteilige Haltungen, und in der Nähe der Mauer am Potsdamer Platz und im Kulturforum, da war das Kulturforum – Sie haben es ja schon gesagt – mit der Philharmonie von Hans Scharoun und dem Kammermusiksaal von Hans Scharoun und der Neuen Nationalgalerie von Mies van der Rohe, das war …
Detjen: Die Staatsbibliothek und dahinter die große Brache, der ehemalige Potsdamer Platz, auf dem die Schafe geweidet haben.
Stimmann: Dahinter sollte ja eine Autobahn hin, hinter die Bibliothek sollte ja eine Autobahn, die Stadtautobahn, Westtangente gebaut werden. Und dieses gegenteilige Programm, also auf der einen Seite war die Mauer, gar nichts, der Leipziger Platz war komplett leer, und auf der anderen Seite der Mauer war auch alles leer, da stand ein einziges Gebäude noch, aber ansonsten war alles leer. Es stand dort sozusagen die Antimuseumsinsel, also das Kulturforum, alles sozusagen immer eine Verdopplung derselben Institutionen: Bibliothek, Philharmonie, Gemäldegalerie und so weiter, und so weiter, also alles, was in Mitte war, wurde an die Grenze gestellt. Das war sozusagen die wichtigste Aufgabe, nicht nur physisch diese Strukturen wieder zu reparieren, sondern man musste sie auch emotional wieder heilen. Die Staatsoper Unter den Linden oder die Nationalgalerie oder die Gemäldegalerie, das waren ja Orte, mit denen sich Leute, ganz viele Bewohnerinnen und Bewohner von dem damaligen Ostberlin identifiziert haben, genauso wie sich die Bewohnerinnen und Bewohner von Westberlin mit der Philharmonie und mit der Gemäldegalerie und mit der Neuen Nationalgalerie identifiziert haben. Das war ja ihr Bild von Gesellschaft, ihr Bild von Stadt. Und das irgendwie zusammenzubringen, was die wichtigste Aufgabe.
Der Begriff der „kritischen Rekonstruktion“
Detjen: Sie haben gerade von Heilung gesprochen, also Zusammenführung, Heilung, und das Instrument, das Sie dann geschaffen haben, war das Planwerk, also eine Gruppe mit Untergruppen von Architekten, Stadtplanern, die sich verschiedene Teile der Stadt, der Zentren der Stadt angeschaut haben und dafür städtebauliche Entwürfe entwickelt haben. Da gab’s dann Leitbegriffe, die Sie eingeführt haben, die immer mit Ihnen verbunden sind, und die müssen Sie jetzt vielleicht an der Stelle mal erklären, also Leitbegriffe wie eine bestimmte Vorstellung der europäischen Stadt, Tradition der europäischen Stadt und dann natürlich ein ganz zentraler Begriff, der Begriff der kritischen Rekonstruktion. Erklären Sie uns das!
Stimmann: Dass das Wort „europäische Stadt“ zum Kampfbegriff werden konnte, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Wir sind ja keine afrikanische oder asiatische Stadt, sondern wir sind eben eine europäische Stadt, aber das war …
Detjen: Da müssen wir natürlich gleich noch drauf kommen, was das für Kämpfe sind, die sich daran entzünden.
Stimmann: Europäische Stadt war sozusagen traditionelle Straßen und Plätze, keine riesigen Maschinen, keine Wohnmaschinen und auch keine riesengroßen Zuckerbäckerstil-Wohnpaläste für die Arbeiter wie in der Stalinallee, sondern wieder zurück …
Detjen: Aber auch dafür gab’s ja Anknüpfungspunkte in Berlin, also die Wohnmaschine, Le Corbusier, neben dem Olympiastadion in Berlin. Die Unité d‘Habitation ist eine Wohnmaschine gewesen, die Berlin ja auch geprägt hat.
Stimmann: Die hat sie auch geprägt, ist ja bis heute noch der Fall, dass diese Phase, diese Nachkriegsphase in Ost und West Berlin prägt, und die stehen ja unter Denkmalschutz. Jeder weiß das, Le Corbusiers Wohnmaschine, das kann man nicht mehr nachmachen, genau wie der Sozialpalast hier an der Potsdamer Straße oder die Stalinallee. Kein Mensch würde das heute mehr in dieser Form machen, aber es ist eben ein Teil unserer Identität, und deswegen habe ich auch vorgeschlagen, nichts abzureißen. Das wurde oft kolportiert, der Senatsbaudirektor, der hat als Erstes vorgeschlagen, alles abzureißen – nee, überhaupt nichts vorgeschlagen. Also eine der Dogmen war, wir lassen im Unterschied zu unseren Vätern und Vorvätern alles stehen, damit wir uns an alles erinnern können. Aber der Heilungsprozess, die Heilung der vollkommen auseinandergedrifteten Stadtideen – ich sag da immer nur als Stichwort Stalinallee und Hansaviertel oder Kulturforum und Museumsinsel – ist der Stadtgrundriss. Das, was die Stadt eigentlich prägt, sind Straßen und Plätze. Die haben irgendwann mal die Leute in der Innenstadt von Berlin im Mittelalter angelegt. Und dann später rund um den Gendarmenmarkt oder Unter den Linden: eine barocke Prägung, aber auf jeden Fall sind das Straßenfiguren, die Teil unserer Identität geworden sind und die man auslöschen wollte oder auch ausgelöscht hat. Da hab ich gesagt, wir bauen das nicht wieder auf, es gibt keine Rekonstruktion des Großen Jüdenhofes oder keine Rekonstruktion der Altstadt von Berlin, aber den Stadtgrundriss, die Straßen und Plätze, die mal unsere Vorvorvorvorfahren um 1280 oder 1350 oder 1820 angelegt haben, die nehmen wir und benutzen sie wieder. Und das, was dann sozusagen an Bauflächen entsteht, das füllen wir auf mit neuer Architektur, sodass wir eine Brücke schlagen zwischen der existierenden Bebauung, was erzählt die über die Nachkriegszeit, die Vergangenheit, die zerstört wurde durch den Zweiten Weltkrieg und den folgenden Abriss, und der Zukunft, also einer gebauten Vorstellung unserer Idee von Stadt. Das war die Idee der kritischen Rekonstruktion.
Detjen: ... der kritischen Rekonstruktion, die der Zentralbegriff ist. Aber die Kritik entzündet sich ja daran, dass damit dann auch bestimmte ästhetische Vorstellungen verbunden wurden, die Berlin bis heute prägen. Ihnen wird ein berühmtes Diktum zugeschrieben, in Berlin werde diszipliniert, preußisch, zurückhaltend in der Farbe, steinern, eher gerade als geschwungen gebaut. Das ist ja das Gegenteil letztlich an der Stadt, die den Mauerfall als historische Chance sieht, sich Neuem zu öffnen, sich neu zu erfinden, neugierig ins 21. Jahrhundert vorauszublicken. Da kamen dann die Gegner her, Zaha Hadid, die irakisch-britische Architektin, die mit Blick auf Ihre Vorstellungen gesagt hat, Berlin ist, im doppelten Sinne, in der Steinzeit.
Stimmann: Ja, nicht nur Zaha Hadid, der viel prominentere Gegner der kritischen Rekonstruktion war Daniel Libeskind, also der Erbauer …
Detjen: Der Architekt des Jüdischen Museums.
Stimmann: … des Jüdischen Museums. Und das ist einer der Konflikte – Sie haben es ja schon gesagt –, das ist einer der Konflikte, die uns bis heute betrifft und beschäftigt. Also wie viel Geschichte kann man zulassen und benutzen, um die Zukunft zu gewinnen. Da hab ich eine relativ konsequente Politik gemacht, damals auch unterstützt durch den Senat, also meinen damaligen Senator, aber auch den damaligen regierenden Bürgermeister. Wir warn ja eine schwarz-rote Koalition, wir haben immer gesagt, wir wollen die Stadt nicht zurückbauen, wir wollen sie nach vorne bauen, aber wir benutzen den historischen Stadtgrundriss und, wenn es irgendwie geht, benutzen wir die historischen Grundstücke, also das, was verloren gegangen war an bürgerlicher Verankerung in den Häusern, in den Grundstücken. In jeder deutschen Altstadt, in jeder europäischen Altstadt, aber auch in den gründerzeitlichen Städten gibt es ja Häuser, gehörte mal irgendwelchen Leuten, und die haben darauf ein Haus gebaut nach den Regeln der jeweiligen Bauvorschriften, und die gehören ja zur Identität …
Detjen: Sie haben jetzt schon angespielt auf Eigentumsverhältnisse mit dem Begriff der Bürgerlichkeit. Das ist ja auch ein Punkt von Debatten, von Kritik auch an Ihnen gewesen. Sie haben mal in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ gesagt: „Das neue Bürgertum in Berlin hat zu wenig Orte, an denen es sich ausprobieren kann. Die sozial Schwachen brauchen den sozialen Wohnungsbau, aber die neue junge Mittelschicht braucht Areale, um sich auszuprobieren.“ Und dann fügen Sie hinzu: „Meine SPD hat dafür kein Gefühl.“ In der Tat, das, was Sie da sagen, könnte man ja auch mit einem Wahlprogramm der FDP assoziieren.
Stimmann: Ja, so ist es. Das ist eines der ganz großen, bis heute nicht gelösten – kann man sowieso nicht lösen, aber sozusagen diese Frage, die uns beschäftigt. Also wenn die Sozialdemokraten oder wenn Kulturkritiker von ihrem Schlag sozusagen Berlin beschreiben, dann sagen sie immer, Berlin ist eine Mieterstadt – was stimmt: Hier sind 80 Prozent aller Leute….
Ich wohne in Berlin zur Miete, weil ich eine Eigentumswohnung gar nicht mehr bezahlen kann.
Detjen: … das sind ja nicht nur Kritiker oder Kulturkritiker, das ist ein Teil der Stadtbevölkerung, die jetzt reagiert und einen Volksentscheid macht zur Enteignung von großen Wohnungsbaugesellschaften.
Stimmann: Ja, das ist ja noch wieder eine andere Frage, aber die erste Frage ist, ist dieser Zustand, ein Mieter zu sein, eigentlich der Traum von Glück, oder ist es sozusagen ein Produkt einer historischen Entwicklung. Die Stadt, als sie sich erweitert hat, wurde sie verkauft an große Projektentwickler, und die haben Grundstücke gebildet und die haben die noch mal wieder weiterverkauft, und so entstand der Status Berlins als Mieterstadt. Ich bin auch Mieter, ich wohne in Berlin zur Miete, weil ich eine Eigentumswohnung gar nicht mehr bezahlen kann. Das ist aber untypisch, dass einer auf den Status als Mieter stolz ist. Das ist aber das Typische für Berlin, dass die Leute sagen, wir sind eine Mieterstadt.
Detjen: Aber ist das nicht aus heutiger Sicht, Herr Stimmann, ist das nicht aus heutiger Sicht eine Sichtweise, die im besten Fall vom Berlin der 70er-, 80er-, 90er-Jahre geprägt ist, als es Wohnraum im Überfluss gab und wo heute junge und ältere Leute, die vom Gentrifizierungsprozessen verdrängt werden, sagen, für mich ist es ein Traum vom Glück, eine ordentliche Wohnung zu einem erschwingbaren Preis in Berlin mieten zu können.
Stimmann: Ja, natürlich, aber wissen Sie, das wäre ein längeres Gespräch, aber Sie müssen einfach gucken, die Leute in anderen europäischen Städten, also in London, in Paris, in Madrid, in Athen, in Prag oder auch in Moskau, die sind nicht stolz darauf, eine Mieterstadt zu sein. Das ist eine Besonderheit der Berliner Entwicklung und auch so eine Besonderheit der Nachkriegsentwicklung. In der DDR haben wir eine Regierung gehabt, die wollte kein Privateigentum, weder in der Industrie noch im Gewerbe und auch nicht im Wohnungsbau, also eine Idee von totaler Verstaatlichung – total nehme ich zurück –, also eine Idee von Verstaatlichung des Eigentums und auch der Form, der großen Formen durch städtische oder staatliche Wohnungsbaugesellschaften. Das war ein Bild von Gesellschaft, und dieses Bild von Gesellschaft, das ist natürlich heute das dominante gebaute Bild, aber die meisten Leute träumen nicht davon, in einer langweiligen industriegeprägten …
Detjen: Da gibt’s ja dann schon Weichen, wo sich Entwicklungen verzweigen auch, und die Idee eines sozialen, kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungsbaus ist ja nicht nur mit dem sozialistischen Berlin der DDR verknüpft. Da kann man auch nach Wien schauen, wo es eine ganz andere Tradition auch von Stolz auf genossenschaftlichen oder kommunalen Wohnungsbau gibt. In Berlin – und da kommen wir noch mal auf die Zeit der 90er-Jahre, in der Sie die Stadtentwicklung mitgeprägt haben –, da entscheidet man sich dann eben zu großzügigen Privatisierungsmaßnahmen. Da wird Grund verkauft an die Investoren, und heute sagen viele, da ist manches schiefgelaufen.
Stimmann: Nein, das ist falsch. Das ist eine nicht auszurottende Legende zu sagen, nach dem Fall der Mauer wurden die Grundstücke verkauft. Die wurden nicht verkauft. Es gab in Deutschland zwei Länder, und die beiden Länder haben einen Vertrag geschlossen, der hieß Einigungsvertrag. Gegenstand dieses Einigungsvertrages, nicht der Bauverwaltung und schon gar nicht des Senatsbaudirektors, war, die DDR hat durch das Aufbaugesetz, also ein Gesetz der 50er-Jahre, haben die mehr oder weniger den ehemaligen privaten Haus- und Grundbesitz kommunalisiert, also nicht enteignet. Die haben Geld dafür bezahlt, aber ganz wenig Geld dafür bezahlt, aber es ist sozusagen ein Programm gewesen, wir brauchen keine privaten Grundstücke mehr. Und so eine ähnliche Tendenz gab’s in Westberlin.
Wir brauchen keinen Frank Gehry am Pariser Platz, hab ich dem Frank Gehry erklärt, wir haben da ein Gehry-Building schon, das Building ist das Brandenburger Tor, das Symbol der Einheit von Berlin.
Der Einigungsvertrag hat geregelt für das Beitrittsgebiet – so nannte man das –, da müssen die Grundstücke zurückgegeben werden an die früheren Eigentümer oder entschädigt werden. Das hat dann zur Konsequenz gehabt, dass bereits kommunalisierte oder verstaatlichte Grundstücke nicht nur in Berlin, aber auch in Berlin, Ostberlin, wieder zurückgegeben wurden an die ehemaligen privaten Eigentümer, oder wenn die privaten Eigentümer das nicht mehr haben wollten, dann konnten sie auch Geld dafür nehmen. In dieses Geschäft von Rückübertragung und Entschädigung, das hat dazu geführt, dass der größere Teil der barocken Friedrichstadt sozusagen wieder private Eigentümer bekam, aber eben nur auf dem ehemaligen DDR-Teil. Es hat was zu tun mit dem Umgang mit dem privaten Eigentum während der DDR-Zeit, also erstens während der NS-Zeit, Arisierung als Stichwort, und dann nach der Teilung der Stadt als Ideologie des Staates.
Erfolge und Niederlagen, Zwänge und Ziele
Detjen: Wenn Sie heute, wenn Hans Stimmann heute durch diese Quartiere, durch diese Teile der Stadt läuft, oder, Sie fahren gerne Fahrrad, mit dem Fahrrad radelt, wo erkennen Sie sich, wo erkennen Sie Ihre Ideen, die Ideen des Planwerks gerne wieder, wo fahren Sie durch die Stadt und denken, da ist was nicht gut gelaufen?
Stimmann: Ja, es ist ja ganz viel nicht gut gelaufen, aber Sie müssen sehen, das Planwerk ist Beschluss von 1999 gewesen, und vom Reuterplatz bis übers Kulturforum bis zur Frankfurter Allee wurden Vorschläge gemacht und nach langen dreijährigen Diskussionen vom Senat als Leitbild beschlossen. Aber nur die geringsten Teile davon sind ja umgesetzt, weil die meisten haben sich in Luft aufgelöst. Ich war 15 Jahre aktiv tätig, aber nach mir sind auch schon wieder 15 Jahre vergangen. Zum Beispiel der letzte regierende Bürgermeister, Michael Müller, der hielt nicht viel von diesem ganzen Versuch, Kleinteiligkeit, Reprivatisierung von Grundstücken, sozusagen eine andere Art von Urbanität zu definieren. Der war jemand, der setzte ausschließlich auf die städtischen Wohnungsbaugesellschaften, also die Degewo und die Stadt und Land, die Gesellschaften, die Verdienstvolles geleistet haben. Aber am Ende ist eine Wohnungsbaugesellschaft, die 50.000 Wohnungen besitzt, die will kein einzelnes Grundstück mit 25 Meter Breite bebauen, sondern wenn die Hand anlegen, dann wollen sie gleich einen ganzen Block haben oder mindestens einen halben Block. Die werden diese Form von Geschichte, die ja nicht von der Bauverwaltung definiert wurde, auch überhaupt gar nicht von Berlin definiert wurde, sondern vom deutschen Parlament, vom nationalen Parlament unter Beteiligung der früheren DDR-Abgeordneten, ist diese Rückübertragung ein Stück deutscher Geschichte gewesen. Die hat natürlich nur teilweise funktioniert, weil die meisten Leute gar nicht mehr lebten. Die haben dann recherchiert, wem gehörten denn diese Grundstücke, und dann stellte man fest, das war der XY, jüdischer Eigentümer, der ist vergast worden, und an die Stelle der ehemaligen jüdischen Eigentümer ist das Jewish Claims Conference, also eine jüdische Organisation in den USA, die sozusagen die Rechte der früheren Eigentümer vertreten hat. Und die haben dann dafür gesorgt, dass die Grundstücke, dass das Geld eingenommen wurde und entsprechend ihren Statuten verteilt wurde. Dadurch entstand plötzlich nicht mehr kleinteiliges Eigentum in der Friedrichstraße, sondern ganze Blöcke wurden bebaut. Das hat zu tun mit der nicht mehr möglichen Rückübertragung an nicht mehr lebende Eigentümer.
Detjen: Hat aber auch, wenn man diese Blöcke anschaut, hat natürlich auch was mit ästhetischen Vorgaben zu tun. Also wenn wir die Friedrichstraße anschauen, dann ist das für viele ein Musterbeispiel einer typischen Stimmann’schen rigiden Bauästhetik – 22 Meter Traufhöhe spielt da eine Rolle, die Vorgaben für Fassaden aus Stein mit immer gleichen Fensteröffnungen. Der „Tagesspiegel“ hat mal geschrieben, mit Blick auf die Friedrichstraße, das Ergebnis sei fatal, also eine öde Straßenflucht – Investoren, die nicht in die Höhe bauen durften, das Leben in unterirdische Passagen verlegt haben. Der „Tagesspiegel“ hat dann hinzugefügt, es sei eigentlich das Gegenteil dessen gewesen, was Sie eigentlich wollten. Stimmt das?
Stimmann: Erst mal stimmt Ihre Beschreibung nicht. Die Friedrichstraße besteht … da gibt es keine Vorschriften zu Materialien. Da gibt’s das Gebäude von Galeries Lafayette, was gerade wieder den Eigentümer gewechselt hat, das besteht zu 100 Prozent aus Glasfassade. Andere Fassaden haben Stein-Glas-Fassaden, also das ganze Angebot an Fassaden bildet sich in der Friedrichstraße ab. Die Friedrichstraße ist sozusagen immer beschrieben in den Abschnitt zwischen, ich sag mal, Dussmann und den Linden und der ehemaligen Grenze an der Kochstraße. Danach geht es auch noch weiter mit der Friedrichstraße, da traf das aber nicht zu, sondern es geht immer nur um den Teil in der ehemaligen DDR. In der Tat, es entsprach nicht meinen Vorstellungen, wir wollten es kleinteiliger bebauen, aber die Eigentümer, die rechtlich neuen Eigentümer, die kamen immer zu meinem Büro und haben gesagt, wissen Sie, wir kommen in Vertretung der ehemaligen Eigentümer, die Sie vergast haben, und wir wollen unsere Rechte haben. Und da hab ich gesagt, das ist in der Tat so, ich bin einer der Deutschen, die sich schuldig gemacht haben oder schuldig fühlen und auch auf lange Zeit noch schuldig sind, mit diesem Thema umzugehen. Aber wir wollen Sie zu nichts zwingen, also zwingen, Material zu verwenden, sondern ich hab denen erzählt was über ihre Vorfahren, über die Geschichte der Friedrichstadt, als es dort jüdische Eigentümer gab oder den Leipziger Platz oder den Pariser Platz.
Ich hab immer berichtet über die Geschichte der Straße und was uns vorschwebte. Eine der Ideen war, sie können alles bauen, was sie wollen, aber wir wollen nicht, dass die Häuser höher sind als 22 Meter und maximal 30 Meter. Das ist nicht die barocke Höhe, die barocke Höhe war viel niedriger, sondern das war die Höhe der Bauordnung aus den 20er-Jahren, also aus den guten demokratischen 20er-Jahren. Da hat man gesagt, weißt du, das ist eine barocke Stadt, die hat relativ schmale Straßen, und es gibt dort zwei Kirchen, den deutschen und französischen Dom, es gibt den Gendarmenmarkt mit der Bebauung, und das ist das, was wir respektieren wollen, also den Stadtgrundriss und die Proportionen des Stadtgrundrisses, das Profil der Friedrichstraße war uns wichtig. Deswegen, haben wir gesagt, könnt ihr nicht höher bauen als 30 Meter maximal und 22 Meter bis zur Traufhöhe. Wenn ihr was anderes wollt, das ist auch möglich, dann muss die Stadt, dann muss in Deutschland – meistens kamen die aus den USA oder aus Frankreich oder aus sonst wo Ländern –, da muss in Deutschland ein Bebauungsplan gemacht werden. Und da kann man auch in der Friedrichstraße an der Ecke Unter den Linden ein 150 Meter hohes Hochhaus hinbauen, nur ich kann Ihnen das nicht genehmigen. Was ich Ihnen genehmigen kann, ist ein Gebäude, das sich einfügt. Das ist ein …
Detjen: Das ist der Begriff aus dem Baugesetzbuch.
Stimmann: … eine Vokabel aus der …
Detjen: § 34 Baugesetzbuch.
Stimmann: Ja, das ist aus dem Baugesetzbuch, aber das Wort … Das müssen Sie sich immer vorstellen, wir haben Englisch geredet oder es wurde übersetzt, und allein das Wort „einfügen“!! Da haben die gesagt: ‚Sie wollen mir vorschreiben, Sie wollen mir vorschreiben, dass ich mich einfügen muss, schon wieder?!‘ Da hab ich gesagt, ja, es tut mir leid, Sie müssen sich nicht einfügen. Wenn Sie darauf beharren, ein Hochhaus zu machen, dann müssen wir einen Bebauungsplan machen, und dann müssen wir damit ins Landesparlament, und dann muss das Landesparlament darüber befinden, und dann dauert das zwei Jahre wahrscheinlich …
Detjen: Jetzt schildern Sie die Methoden natürlich, mit denen Sie durchgesetzt haben, sozusagen Ihre geschmacklichen Vorstellungen…, also Sie waren ja derjenige, der definiert hat, was sich einfügt.
Stimmann: Nein, nein, nein.
Detjen: Ich lese noch mal ein Zitat vor, Hans Stimmann: „Ich bin doch kein Geschmacksdiktator, bloß weil ich ein ganz gutes Vermögen habe, gute von schlechter Architektur zu unterscheiden.“
Stimmann: Das ist ja sozusagen das Thema der Architektur im Detail, also der Fassadengliederung mit Erdgeschoss und mit dem Übergang zum Dachgeschoss und so weiter, und so weiter, aber darüber rede ich ja noch gar nicht, sondern wir reden erst mal darüber, dass wir entschieden haben, die Neubauten müssen sich einfügen, und dieses Einfügen ist geregelt im deutschen Baugesetzbuch. Und wenn man was anderes will, wenn sich etwas nicht einfügen will – und wer will sich schon gerne einfügen, schon gar kein Grundstücksbesitzer –, aber da habe ich gesagt, wenn Sie was anderes wollen, meine Unterstützung hat das nicht, ich finde das falsch, aber trotzdem, wir können es versuchen. Stellen Sie einen Antrag für ein Hochhaus und wir machen darauf einen Vorschlag für einen Bebauungsplan, der geht ins Berliner Landesparlament. Und da werden Sie sehen, was Sie davon haben, das wird nicht genehmigt, da bin ich ziemlich sicher, weil die Leute stolz sind auf den Gendarmenmarkt und auf diese ganzen Proportionen, die damit zusammenhängen – also ein komplexes Geschehen, in dem Geschichte eine große Rolle spielte. Dieses Thema Geschichte und die Rolle der Geschichte spielte ja schon mal eine Rolle. Als der Krieg zu Ende war und amerikanische und sowjetische und britische und französische Sektoren gebildet wurden, da spielte Geschichte eben keine Rolle. Da haben wir gesagt, wir fangen bei null an. Das Hansaviertel und das Kulturforum, da spielt Geschichte keine Rolle, das kann man wollen. Ich wollte das nicht, sondern ich wollte nach all den Verlusten von Erinnerungen, dass wieder ein Stück Geschichte in die Stadt zurückkehrt – nicht als nostalgische Tapete oder auch nicht als Rekonstruktion von ehemaligen Bürgerhäusern, sondern einfach nur in den Proportionen der Straßen und Plätze. Also der Pariser Platz sollte wieder aussehen, wie der Pariser Platz mal ausgesehen hat. Da sollte das Brandenburger Tor das wichtigste Gebäude sein. Das ist unser Bilbao Gate sozusagen, wir brauchen keinen Frank Gehry am Pariser Platz, hab ich dem Frank Gehry erklärt, wir haben da ein Gehry-Building schon, das Building ist das Brandenburger Tor, das Symbol der Einheit von Berlin – steht auch für andere Symbole, aber es ist sozusagen eines der großen Symbole unserer Stadt oder unseres Landes, und deswegen ist das der Maßstab für alle anderen Bebauungen. Die müssen sich alle unterordnen. Also wer daneben ein knallbuntes Haus bauen will, der konkurriert ja mit dem Brandenburger Tor, und da hab ich gesagt, das finde ich falsch. Nur am Pariser Platz hat das Berliner Parlament dann auf der Grundlage meiner Vorschläge eine Gestaltungssatzung gemacht, der einzige Ort in ganz Berlin, wo es eine Gestaltungssatzung gegeben hat, am Pariser Platz. Das war natürlich höchst unbeliebt bei den Investoren und auch unbeliebt bei den Verkehrsplanern und unbeliebt eigentlich bei allen.
In einer unter autoritären Verhältnissen entstandenen Gründerzeitwohnung kann man gut wohnen, ohne dass man ein autoritärer gründerzeitlicher Hausbesitzer wird.
Detjen: Und das Interessante ist, zu sehen, was für lebhafte und zum Teil ja – Sie haben das ja selber geschildert – erbitterte Diskussionen sich daran immer wieder entzündet haben, wenn es um Geschichte, um den Umgang mit der Geschichte in der Stadt, im Bauen geht. Das kann man bis in diese Tage, bis in die Gegenwart nachvollziehen, lebhafteste Diskussionen um die gegenwärtige Stadtbaudirektorin Petra Kahlfeldt. Es gibt Protestschreiben von Architekten, und da spalten sich die Lager, und das wird dann auch immer wieder bis heute mit Ihrem Namen in Verbindung gebracht, das Stimmann-Lager, das Anti-Stimmann-Lager. Zum Abschluss gefragt: Wie geht’s Ihne damit, gehört das zu einer lebendigen Stadtentwicklungskultur, dass das auch polarisierend zugeht, dass auch Sie eine Rolle in der Polarisierung spielen, oder enttäuscht Sie das auch, dass manche Konflikte bis heute nicht befriedet scheinen?
Stimmann: Es gehört in Berlin dazu, wir sind eben die Stadt, die Jahrzehnte gespalten war, mit unterschiedlichen Auffassungen. Wir haben eine andere Vorstellung von Stadt gehabt in Ost- und Westberlin. Das war und ist der Grundkonflikt bis heute, also wie viel Geschichte – nicht in der Architektur –, wie viel Geschichte im Stadtgrundriss wollen wir zulassen, oder wollen wir die Welt wieder neu erfinden. Meine eigenen biografischen Erfahrungen sind der Versuch für eine andere Form von Gesellschaft, für eine bessere Form, für eine demokratische Gesellschaft. Dafür eine Stadt neu zu erfinden, ist falsch gewesen. Das war gut gemeint, aber es ist falsch. In einer unter autoritären Verhältnissen entstandenen Gründerzeitwohnung kann man gut wohnen, ohne dass man ein autoritärer gründerzeitlicher Hausbesitzer wird. Es gibt keine unmittelbare Beziehung zwischen Hausform und Stadtform und politischer Gesinnung, das ist aber die Auffassung bis heute sehr vieler Leute, dass dem so ist. Das sind Glaubensfragen, und die sind bis heute nicht zu Ende gedacht, weil sie so stark verbunden sind mit unserer eigenen Identität.
Detjen: Der Streit, die Auseinandersetzung geht also weiter, aber diese Sendung geht zu Ende. Hans Stimmann, vielen Dank für Ihre Erzählungen, vielen Dank für Ihre Zeit!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.