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Harald Martenstein: "Wut"
Der Sohn wurde zum Punching Ball

Harald Martenstein erzählt von einem Tabu. Denn nicht nur Väter werden gegenüber ihren Kindern manchmal gewalttätig. Auch Mütter können zuschlagen. So wie die Mutter des Romanhelden Frank. Frank will tough sein. Und es dauert lange, bis er anerkennt, wie prägend die Gewalt seiner Mutter für ihn war.

Von Oliver Pfohlmann |
Harald Martenstein: "Wut" Zu sehen sind der Autor und das Buchcover, auf dem ein überaus stark zerschlissenes Geschirrhandtuch zu sehen ist.
Hat keine Angst vor skandalträchtigen Themen: der Autor und Kolumnist Harald Martenstein (Foto: Hans Scherhaufer / Cover: Ullstein Verlag)
Was für eine furchtbare Szene: Da drückt eine Mutter ihren Sohn gegen die Wand, prügelt wie von Sinnen auf ihn ein, beschimpft ihn als "Schwächling", spuckt ihm ins Gesicht. Doch der Junge steht nur da und schaut seiner Mutter in die Augen, mit kaltem Hass. Weil er weiß, wie sehr sie sich danach sehnt, dass er vor ihr zusammenbricht. Dass er heult und um Gnade bettelt. Auch wenn er mit seiner Nichtreaktion die Wut seiner Mutter erst recht entfacht, nichts ist für den Sohn in diesen Momenten wichtiger, als seinem Gegenüber den ersehnten Triumph zu verweigern.

Die Mutter will, dass er um Gnade bettelt

Wer das Opfer von Kindesmisshandlung geworden ist, leidet darunter oft sein Leben lang. Harald Martenstein, Jahrgang 1953, erzählt in seinem neuen Roman eindringlich von den Folgen früh erfahrener Gewalt, darunter Schamgefühle oder die Angst vor Berührungen und Bindungen.
"Die Liebe ist ein Problem, weil sie verwundbar macht. Vor der Liebe muss man sich hüten."
Doch geht der Journalist und Autor ebenso der Frage nach, was gerade eine Mutter zu solchen Taten treibt und ob ein Verzeihen trotz allem irgendwann möglich ist. Dass die "Wut", mit der wie das Buch betitelt ist, zum Teil autobiografisch ist, daraus macht Martenstein keinen Hehl. Umso mehr Wert legt er aber in seinem Prolog auf das richtige Etikett.
"Dies ist ein Roman, keine Biographie und keine Reportage. Ein Anderer als ich könnte ihn nicht schreiben, denn ich arbeite, wie jeder Romanautor, im Steinbruch meiner Erinnerungen, eigne mir dieses an, verwerfe jenes, erfinde dazu und vergesse. Ich habe mir alle Freiheiten genommen, die das Genre Roman gestattet."
Wie schön! Kann man da nur sagen. Ersparen wir uns also bitte die Authentizitätsfalle, die uns der Boom autofiktionaler Literatur à la Karl Ove Knausgård beschert hat. Denn die einzig angemessene Antwort auf die immer gleiche langweilige Frage "Haben Sie das alles wirklich erlebt?" lautet natürlich: Wen kümmertʼs?
Und weil sich Martenstein auch nicht in – Zitat – "Selbstmitleid und Anklagen" verlieren will, schafft er die fürs Erzählen produktive Distanz, indem er einen ausgedachten Protagonisten für sich erfindet. Frank, so der Name von Martensteins ich-erzählendem Helden, liefert abgehalfterten Comedians als Ghostwriter die Pointen. Privat ist er mit einer fatalen Vorliebe für nicht minder beschädigte Frauen gesegnet, die ihn letztendlich sogar zum Mörder werden lässt.

Eine Therapie sieht das Opfer als "Schwäche"

Aber hat Martensteins Hauptfigur nicht schon zu Beginn eingeräumt, dass man seinem, aufs Löschen programmierten Gedächtnis besser sowieso nicht trauen sollte? Die Bitte seiner Ehefrau, endlich eine Therapie zu machen, stößt jedenfalls auf taube Ohren. Schließlich wäre das Herumstochern in der eigenen Vergangenheit aus Franks Perspektive auch nur wieder ein Zeichen von Schwäche.
So gesehen kann man Martensteins Roman auch als eine Art literarische Ersatztherapie verstehen. Dabei rekonstruiert der Autor mit großem erzählerischen Furor ein familiäres Geflecht aus Gewalt, das über die Generationen hinweg überschreitet und dem Wiederholungszwang folgt. Sein Ursprung liegt in der unmittelbaren Nachkriegszeit: Maria, Franks spätere Mutter, wächst elternlos aus: Im Bordell einer Tante auf, landet dann aber danach ausgerechnet in einer Klosterschule. Zumindest vorübergehend, denn zeitlebens wird sich die ebenso schöne wie kluge Frau mit ihrer mangelnden Selbstbeherrschung selbst im Weg stehen. Maria träumt davon, Ärztin oder Anwältin zu werden, und hätte auch das Zeug dazu. Doch scheitert sie an sich selbst – und mehr noch an den patriarchalen Verhältnissen in der Adenauer-Ära. Schlussendlich muss ihr heranwachsender Sohn als Sündenbock oder besser gesagt Punchingball dafür herhalten dienen, dass sie ihre Träume nicht verwirklichen kann.
"Maria schaffte es nicht, sich für dieses Geschöpf aufzuopfern, das war ihr klar. Ihr war auch klar, dass man ihr diese Tatsache vorwerfen konnte, vor einem imaginären Gericht. Aber war diese Forderung, die nach Aufopferung, überhaupt legitim? Schade, sagte sie manchmal, als sie viel älter war, dass ich keine Rechtsanwältin werden durfte. Meinen Fall würde ich gern durchfechten."
Martensteins erwachsener Protagonist glaubt, dass Maria weder in ihrer Rolle als Mutter überfordert noch sadistisch veranlagt gewesen ist. Wut sei für seine Mutter einfach nur ein jederzeit verfügbarer "Stresskiller" gewesen, ein Ventil, um sich abzureagieren, mit nahezu Orgasmus-ähnlichen Qualitäten. Erst spät erkennt der um Verständnis ringende Frank, wie sehr er selbst dieses fatale Verhaltensschema als Erbe in sich trägt.
Was Harald Martenstein in "Wut" in einem zwischen Drastik und Zärtlichkeit changierenden Ton gelingt, ist keine geringe literarische Leistung: Eine Figur erst von ihrer abstoßendsten Seite zu zeigen, um dann all ihren Fehlern zum Trotz Sympathie und Mitgefühl für sie zu wecken. Auf zwei Zeitebenen nähert sich Martensteins tragikomischer Roman seinem fantastisch-grotesken Finale. Das allerdings gerät zum schwächsten Teil des Romans. Man kann sich denken, warum. Es liegt an der Hybrid-Natur dieses Werkes, das eben nicht nur ein Roman, sondern auch ein quasi-therapeutisches Erinnerungswerk sein will. Wenn plötzlich die Toten wieder lebendig werden und sich Untaten, ja ganze Handlungsstränge als bloße Albträume entpuppen, so schimmert hier allzu aufdringlich die private Erlösungslogik durch. Schade eigentlich.
Harald Martenstein: Wut. Roman.
Ullstein Buchverlage, Berlin. 272 Seiten, 22 Euro