Archiv


Harald Welzer (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung

Seit das Interesse an kollektiven Identitäten, womit heutzutage zumeist nationale Identitäten gemeint sind, wieder zugenommen hat, erlebt auch die Beschäftigung mit unterschiedlichen Formen der Erinnerung und des Gedächtnisses einen Boom. Zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis zu unterscheiden, ist uns geläufig, auch die Differenz zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis mag einleuchten, was aber ist ein soziales Gedächtnis. Ein Sammelband, der genau diesen Titel trägt, also "Das soziale Gedächtnis" überschrieben ist, verspricht Aufklärung.

Stephan Wehowsky | 06.08.2001
    "Geschichte, Erinnerung, Tradierung" lautet der Untertitel. Diese Zusammenstellung wirkt, vorsichtig formuliert, beliebig, etwas unhöflicher gesagt: zusammengeschustert. Zig andere Begriffe fallen einem ein, die man an diese Stelle setzen könnte: Gedenken zum Beispiel, Verdrängung oder auch Wiederkehr. Ist das soziale Gedächtnis also so vage, dass sich sehr viele Begriffe als Stichworte dafür eignen würden? Das ginge ja noch. Tatsächlich ist der Sachverhalt, der mit dem sozialen Gedächtnis gemeint ist, noch viel verwickelter.

    Wie verwirrend die Sachlage ist, kann ein Lesererlebnis im wahrsten Sinne des Wortes illustrieren. Die Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft, Aleida Assmann, denkt über die Frage nach, inwieweit Erinnerungen den Anspruch einlösen können, wahr zu sein. Insbesondere interessieren sie dabei die traumatischen Erfahrungen in Konzentrationslagern, die sich in unserer Alltagssprache kaum darstellen lassen. Sie philosophiert darüber, dass Erinnerungen in körperlichen Reflexen gespeichert sein können oder auch im Medium sprachlicher Wiederholung. Unter anderem bezieht sie sich auf Marcel Proust, der den schönen Satz formuliert hat:

    "Unsere Arme und Beine sind voll von schlummernden Erinnerungen."

    Nur wenige Zeilen später kommt folgendes Zitat:

    "Meine frühen Kindheitserinnerungen gründen in erster Linie auf den exakten Bildern meines fotografischen Gedächtnisses und den dazu bewahrten Gefühlen - auch denen des Körpers."

    Die Fußnote weist den Autor aus: Binjamin Wlikomirski. Das ist derselbe Binjamin Wilkomirski, dessen so genannte Erinnerungen an seine Kindheit im Konzentrationslager als Fälschung entlarvt worden sind. Um so peinlicher war dieser Vorgang, als seine Erinnerungen sich nicht nur blendend verkauft hatten, sondern auch höchstes Lob von berufenen Stimmen erhielten. Also stutzt man und fragt sich geradezu entsetzt, ob Aleida Assmann davon gar nichts weiß. Geradezu kaltblütig geht Aleida Assmann auf den Fälschungsvorwurf ein. Sie bezweifelt gar nicht dessen Berechtigung, argumentiert dann aber folgendermaßen:

    "Der Fall Wilkomirski wird aber noch komplizierter durch die enthusiastische Rezeption, die dieses Buch erfahren hat. Ich habe mir sagen lassen, dass etliche seiner Leser, die die Schrecken, von denen er schreibt, am eigenen Leibe erfahren haben, sich in diesem Buch wiederentdeckten. Viele fanden ihre eigenen traumatischen Erfahrungen, die sie selbst sprachlos gemacht haben, in den Bruchstücken treffend artikuliert. Mit seinem Buch hat Wilkomirski eine Leerstelle besetzt. Für das, wovon sich die Vorstellung abwendet und wohin die Sprache nicht reicht, hat er wirkmächtige Bilder ... angeboten, und seine Projektionen wurden von den traumatisierten Überlebenden zurückverwandelt in den Ausdruck ihrer realen biographischen Erfahrungen. Wilkomirski wurde also keineswegs, wie ihn der New Yorker tituliert hat, als ein 'Gedächtnis-Dieb' wahrgenommen, sondern als einer, der eine für die Opfer brauchbare Erinnerung artikuliert hat, der ihnen das Gedächtnis zurückgibt."

    In dem auf Assmann folgenden Beitrag der Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch taucht seltsamerweise Binjamin Wilkomirski wieder auf.

    "Es sind kaum Zweifel geblieben, dass Wilkomirskis Erinnerungen erfunden sind - oder um es freundlich auszudrücken, dass sie ein Familienroman im Freudschen Sinne sind, eine Phantasie über Herkunft und Identität von derselben Überzeugungskraft, mit der Familienfotos uns an unsere Vergangenheit erinnern. ... Viele Forscher, die mit mündlichen Zeugnissen arbeiten, haben das Dilemma beschrieben, dass Erinnerung niemals als bloßer Spiegel der Vergangenheit arbeitet. Sie ist immer perspektivisch, verzerrt und voller blinder Flecken. Aber das bedeutet nicht, dass alle Erinnerungen und Lebensgeschichten in gleicher Weise erfunden sind. Die schmerzvolle Erfahrung bleibt, dass die Leben der meisten Überlebenden immer noch fragmentiert, dass ihre Erinnerungen immer noch zertrümmert sind."

    Was ist also das soziale Gedächtnis? Es ist, darin sind sich alle Autorinnen und Autoren einig, nicht die Summe der Erinnerungen einzelner, deren Glaubwürdigkeit als Zeitzeugen man zudem überprüfen könnte. Im Extremfall können objektiv unrichtige Erinnerungen in Bezug auf Einzelheiten gleichwohl den Kern eines Ereignisses authentisch bewahren. Und es kann sogar sein, dass sich das soziale Gedächtnis aus Quellen speist, die jedem historisch halbwegs gebildeten Menschen die Haare zu Berge stehen lassen. So berichtet der amerikanische Schulpsychologe Sam Wineburg, dass für die heutigen Amerikaner Filme wie "Schindlers Liste" oder "Forrest Gump" authentische Zeugnisse der Vergangenheit sind, aus denen sich ihr Geschichtsbild zusammensetzt. Am Anfang seines Beitrags stellt Wineburg den Lesern eine Aufgabe, die im Multiple-Choice-Verfahren zu lösen ist. Die Leser sollen erraten, aus welchem Jahr folgendes Statement stammt:

    "Gewiss kann keine amerikanische High-School darauf stolz sein, wenn von hundert Fragen über die einfachsten und offensichtlichsten Fakten der amerikanischen Geschichte lediglich 33 richtig beantwortet werden. "

    Dieses Statement stammt nicht aus den Jahren 1987, 1976 oder 1942, die Wineburg zunächst seinen Lesern zur Auswahl anbietet, sondern aus dem Jahre 1917. Wineburgs Kommentar:

    "Eine Zeit lange vor dem Fernsehen, der antiautoritären Erziehung, dem Zerfall der Familie oder was sonst zur Erklärung der miserablen Testergebnisse herangezogen wird. ... Die ganze Welt hat sich in den letzten 80 Jahren völlig verändert, nur eines ist gleichgeblieben: Schüler haben keine Ahnung von Geschichte."

    Im folgenden zeigt Wineburg, dass die Schüler als Diskutanten in Familiengesprächen, als Konsumenten von Nachrichtensendungen und als Teilnehmer an Gedenktagen sehr wohl über ein geschichtliches Wissen verfügen. Allerdings unterscheidet sich dieses geschichtliche Wissen von dem, was in den Schulen abgeprüft wird.

    Die Autorinnen und Autoren gehen nicht nur auf das Problem ein, dass der Begriff des sozialen Gedächtnisses sehr vielschichtig ist, sondern fragen auch, was wir eigentlich unter Geschichte verstehen. Zunächst wirkt es befremdlich, in einem Band, der sich immer wieder auf die traumatischen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts bezieht, einen Beitrag mit dem Titel, "Verständigung über Geschichte und Repräsentation von Vergangenheit im Alten Orient", zu finden. Der Ägyptologe Jan Assmann untersucht hier die Frage, welches Grundverständnis der Ereignisse gegeben sein muss, damit überhaupt so etwas wie Geschichtsschreibung zustande kommt. Solange die Welt als ein Geschehen begriffen wird, das sich in der Wiederholung gleich bleibt, gibt es zwar Riten zur Stabilisierung dieses Kreislaufs, nicht aber Geschichtsschreibung. Diese setzt etwas voraus, das Assmann mit Gerechtigkeit umschreibt. Er meint damit ein Prinzip, das die Handlungen sortiert und ihnen gute oder schlechte Folgen zuschreibt, die dann den Geschichtsprozess ausmachen:

    "In diesem Sinne habe ich von einer 'Geburt der Geschichte aus dem Geist des Rechts' gesprochen. Hier fungiert das Recht als der zentrale Geschichtsgenerator. Es ist diese aus dem Geist des Rechts geborene Geschichte, die noch Hegels Formel von der Weltgeschichte als Weltgericht zugrunde liegt."

    Man muss eine ganze Weile in diesem Buch lesen, bis einem deutlich wird, dass die Form dieses Sammelbandes, der die Vorträge einer Tagung, die im September 1999 von der Stiftung Niedersachsen abgehalten wurde, enthält, dem Thema des sozialen Gedächtnisses auf frappante Weise gerecht wird. Das soziale Gedächtnis erscheint hier in unterschiedlichen Zusammenhängen und Brechungen, es wird durch die Interessen und Hintergründe der Autorinnen und Autoren ganz unterschiedlich gedeutet und beleuchtet. Je länger man liest, desto vielschichtiger wird das Phänomen. Und auf zum Teil harmlos-amüsante Weise, zum Teil geradezu beklemmend wird deutlich, wie wirkmächtig dieses ungreifbare, man könnte daher auch sagen: weiche Phänomen des sozialen Gedächtnisses ist. So beschreibt die Kommunikationswissenschaftlerin Angela Keppler den Diaabend als eine ritualisierte Form, in der Familien ihr eigenes soziales Gedächtnis gestalten. Der Beitrag vom Psychoanalytiker Dori Laub wiederum beschäftigt sich mit der Frage, ob die Traumatisierungen des vergangenen Jahrhunderts Erinnerungen nicht geradezu auslöschen müssen - um den Preis unkontrollierbarer und schrecklicher Wiederkehr. So berichtet er davon, dass im vergangenen Jahrhundert jeder dritte Russe eines gewaltsamen Todes gestorben ist, gleichwohl aber Trauer darüber im russischen Volk nicht vorkommt. Es wäre nicht nur interessant, sondern von essentieller Bedeutung, nicht nur in Russland soziale und politische Vorgänge unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, in welcher Weise in ihnen sich das soziale Gedächtnis manifestiert.

    Stephan Wehowsky über Harald Welzer (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft mbH, Hamburg. 349 Seiten, DM 48,--.