Der Horror beginnt mit einem Scherz. Seth und Carter, zwei New Yorker Hipster, die ein Tonstudio in Williamsburg betreiben, basteln aus dem im Park unbemerkt aufgenommenem Gesang eines Schachspielers einen Blues Song. Anschließend erfinden sie Interpret und Label, stellen den Song ins Internet und gaukeln einer von Echt- und Reinheit besessenen Fanszene vor, es handele sich um eine bisher unbekannte Aufnahme aus dem Jahr 1928. Eine Sensation – simpel motiviert:
"Carter sucht in seinem Leben nach Bedeutung und einem Gefühl der Tiefe. Wie wir alle lebt er in einer Welt der leicht verfügbaren kulturellen Zeichen und Symbole. Es ist sehr einfach von einer Sache zur nächsten und von dort zur nächsten und übernächsten zu springen. Er hat Geld, er verfügt über die nötigen Zugänge, mehr als andere. Er kann alles haben, aber nichts fühlt sich echt an, deshalb sehnt er sich nach etwas Wahrhaftigem."
Bloß, diese Wahrhaftigkeit entsteht im Tonstudio, einer akustischen Zeitmaschine. Durch Synthese wird das Authentische noch authentischer. Der Gesang von heute erhält seinen besonderen Wert nur, weil er nach der Bearbeitung klingt, als wäre er in einem Sarg aufgenommen worden. Vergangenheit und Gegenwart sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Das Neue ist nur ein Sample, schon bei der Herstellung zum Witz degradiert. Es herrscht schöpferischer Stillstand in Hipster-Land. Die Aneignung des Vergangenen kann das Bedürfnis nach Intensität in der Gegenwart nicht befriedigen.
Musik als Distinktionsmittel nostalgischen Sehnsucht
Hari Kunzru schließt in diesem als Gesellschaftssatire angelegten Romananfang die Geschichte von Vereinnahmung und Kommerzialisierung schwarzer Musik durch weiße Musiker und Produzenten mit dem Authentizitätswahn der Gegenwart kurz. Den beiden Hipstern Carter und Seth dient die Musik letztinstanzlich nur als Distinktionsmittel ihrer nostalgischen Sehnsucht. Eine Form des Selbstmitleids, auf die auch der nicht übersetzte Titel "White Tears" Bezug nimmt:
"Meine amerikanische Verlegerin wollte diesen Titel nicht. Sie hat versucht, was sie konnte, um ihn zu ändern. Es ist eine sehr provokante Wendung. Sie taucht vor allem in Internetdiskussionen über Rassethemen auf, wenn ein Schwarzer einem Weißen gegenüber zum Ausdruck bringen möchte, dass er sein eigenes Leid im Vergleich zu anderen zu stark betont oder eifersüchtig auf den Erfolg eines Schwarzen ist."
Die Sache beginnt zu kippen, als Carter und Seth von einem Mann kontaktiert werden, der behauptet, der erfundene Musiker, Charlie Shaw, habe tatsächlich gelebt. Kurz darauf wird Carter überfallen und schwer verletzt. Er fällt in ein Wachkoma und Seth gerät in eine existenzielle Krise. Die schwerreiche Familie von Carter schmeißt ihn aus dem gemeinsam bewohnten Apartment und verwehrt ihm den Zugang zum Tonstudio. Gefangen in einer Abwärtsspirale macht er sich mit Carters Schwester Leonie auf den Weg nach Mississippi, auf die Suche nach Charlie Shaw.
Roadmovie und Geistergeschichte
Zu diesem Zeitpunkt passiert etwas mit dem Text, eigentlich war es von Anfang an da, aber jetzt ist es nicht mehr zu übersehen. Auf die gleiche Art wie das Leben von Seth erodiert, beginnen die Zeitgrenzen im Text zu verschwimmen. Die Vergangenheit schimmert durch, zuerst nur wie durch Stoff, den man vor eine Lampe hält, dann immer mehr, bis wir mit Seth auf drei Erzählsträngen durch ein ganzes Jahrhundert der Rassentrennung, der Unterdrückung und der Übervorteilung der Schwarzen im südlichen Amerika unterwegs sind. Der Roman wird plötzlich zu einem Roadmovie und einer magischen Geistergeschichte über Rassismus in den USA, alles gleichzeitig.
"Eine Geistergeschichte handelt immer von etwas Vergangenem, das voreilig beerdigt wurde. Etwas, das unvollendet geblieben ist und in die Gegenwart drängt. Deshalb glaube ich, ist das eine sehr gute Form, um zu vermitteln, was ich erzählen wollte: Die Geschichte der Sklaverei, und das, was darauf folgte. Eine Epoche ohne klärende Auseinandersetzung, ohne Versöhnung. Ja, die voreilige Beerdigung der Amerikanischen Geschichte, darum geht es in diesem Buch zum Teil, und um die Geister dieser Geschichte, die uns heute verfolgen. Um darüber schreiben zu können, habe ich mich gefragt, wie es sich anfühlt, verfolgt zu werden. Die Antwort war, dass es sich so anfühlen muss, als hätte man den Kontakt zur Zukunft verloren. Als würde man sich vorwärts bewegen und dabei immer wieder nach hinten gezogen werden, wie ein Schwimmer, der einer Strömung ausgesetzt ist."
Blues strikes back
Das literarische Verfahren, das Hari Kunzru dafür kunstfertig zur Anwendung bringt, folgt dem gleichen Prinzip, mit dem Carter und Seth sich im ersten Teil des Romans den Bluesgesang aus dem Park angeeignet haben. Nur unter umgekehrten Vorzeichen. Der Song ergreift jetzt Besitz von Seth, von seinem Körper. Wie ein böser Geist aus der Vergangenheit. Nicht er schiebt die Regler am Mischpult rauf und runter, lässt etwas rauschen und knarzen, bis seine Hipster-Freunde staunen, sondern die Geschichte hat ihn am Wickel, und zerrt ihn bis in die Gräber ermordeter schwarzer Zwangsarbeiter. Die brutale Vergangenheit des Blues wird für Seth zur verfluchten Realität der Gegenwart. Blues strikes back, wenn man so will.
Erzählt wird das alles in einem stets realistischen Ton aus der Ich-Perspektive von Seth. Schnörkellos, mit prägnanten Dialogszenen treibt die Lektüre einen immer weiter hinein in das Moskitosummen Mississippis. Konsistent eingewobene Marker, Schilder, die auf Rassentrennung in einer Bar hinweisen, oder die Art der Ansprache eines Polizisten, verraten, auf welcher Ebene man sich gerade befindet. Die reibungslos verzahnten Zeitwechsel verbunden mit einem geschickt getimten Erzähltempo erzeugen zudem fast wie nebenbei eine Spannung, die einen aufgeregt durch den Text treibt.
Gegenwart und Vergangenheit fusionieren
Je näher Seth Charlie Shaw zu kommen scheint, desto stärker ergreift der Songgeist Besitz von ihm. Gegenwart und Vergangenheit fusionieren immer mehr zur Gleichzeitigkeit eines Schreckens, dem Seth und der Leser vollkommen ausgeliefert sind. Die Schilderung der Vergangenheit dient Hari Kunzru dabei nicht als makabere Dekoration, die ein grimmiges Bewusstsein für die Historie des Rassismus in den USA heraufbeschwören soll. Im Gegenteil, sie ist ein Vehikel, mit dem drängende Aspekte der Gegenwart im Zusammenhang mit der Vergangenheit illustriert werden. Dramaturgisch zusammengehalten von einem Bluessong – als Erbsünde und literarischem Bindfaden.
Die Pointe am Ende zeigt scheinbar eine blutige Rachefantasie. Vor allem aber ist dies der Schlussakkord eines konsequent durchdachten Gedankenexperiments, das die Machtverhältnisse zwischen weiß und schwarz, arm und reich für einen kurzen Moment umdreht, und damit im Rückschluss auf den gesamten Roman aufzeigt, welche Gewalt von einer kulturellen Bemächtigungspraxis ausgehen kann. Es ist dieses erzählerisch brillant umgesetzte Ineinandergreifen von verschiedenen Diskursen, das "White Tears" eine ungeheure Dringlichkeit verleiht und den Text zu einer nachhallenden Lektüre macht.
Harry Kunzru: "White Tears"
Liebeskind Verlag, München, 352 Seiten, 22 Euro
Liebeskind Verlag, München, 352 Seiten, 22 Euro