Heinemann: Staatspräsident Chirac hat öffentlich von Divergenzen zwischen der französischen und der deutschen Regierung gesprochen und den Vorschlag der Bundesregierung zu den EU-Finanzen als "weder ausreichend noch zufriedenstellend" bezeichnet. Welche Punkte sind zwischen Paris und Bonn umstritten?
Strauss-Kahn: Wir sind in der Tat noch nicht einer Meinung. Es gibt noch Divergenzen; das ist ganz normal. Wir können eine Kofinanzierung der Agrarpolitik nicht akzeptieren. Damit würde ein Fundament der Europäischen Union in Frage gestellt: die Übertragung der nationalen Landwirtschaftspolitik auf die europäische Ebene. Es gibt außerdem noch unterschiedliche Auffassungen bei Details der Finanzierung. Wir sind der Meinung, daß es eine Obergrenze für die Ausgaben geben muß, übrigens im eigenen Interesse der Bundesrepublik. Die Deutschen sind der Meinung, daß ihre Nettozahlungen zu hoch sind. Der beste Weg zur Begrenzung dieser Zahlungen sind niedrigere Ausgaben. Wir hoffen also, daß die Ausgaben in allen Bereichen, Strukturfonds, Kohäsionsfonds, Agrarpolitik und so weiter, zurückgeführt werden. Die Staats- und Regierungschefs sind sich einig, daß die Agrarpolitik künftig 4,05 Milliarden Euro nicht überschreiten soll.
Heinemann: Herr Minister, hat die Bundesregierung den Gipfel schlecht vorbereitet?
Strauss-Kahn: Nein, absolut nicht. Das ganze ist ein sehr schwieriges Thema. Die Diskussion darüber hat übrigens schon vor der deutschen Präsidentschaft begonnen, und vor dieser Präsidentschaft gab es da keine großen Fortschritte. Man kann hier nicht von einer schlechten Vorbereitung sprechen. In der Geschichte der Europäischen Union gab es solche Situationen schon früher: Ein bißchen Dramatisierung, bevor man zu einer Lösung kommt, und in diese Phase kommen wir jetzt.
Heinemann: Herr Minister, Sie haben die Probleme gerade eben angesprochen. Die Briten beharren auf ihrem Beitragsrabatt, die Spanier wollen weiterhin Geld aus dem Kohäsionsfonds, die Franzosen sind gegen die Kofinanzierung. Alle befürworten eine Senkung der deutschen EU-Beiträge. Wie kann man auf diese Weise die EU-Finanzen reformieren und die Union auf die Osterweiterung vorbereiten?
Strauss-Kahn: Jeder muß dazu beitragen. Die Kohäsionsländer, die Spanier, die Portugiesen, die Iren, wollen um jeden Preis den Kohäsionsfonds beibehalten. Die Länder, die sich für die Strukturfonds interessieren, wollen auf jeden Fall mehr in diesem Bereich ausgeben. Die Franzosen beobachten die Landwirtschaftspolitik besonders aufmerksam. Die Briten wollen absolut nicht, daß man Hand an ihren Beitragsrabatt legt. Aber so geht das nicht. Alle müssen ihren Beitrag leisten. Wir Franzosen haben unseren Beitrag in der Agrarpolitik geleistet, und das erwarten wir auch von den anderen. In allen Bereichen müssen die Ausgaben begrenzt werden. Wir brauchen eine gerechtere Finanzierung. Deshalb schlagen wir vor, daß ein größerer Teil der Finanzierung proportional zum Bruttoinlandsprodukt eines jeden Landes geleistet werden sollte, also proportional zum Reichtum des jeweiligen Landes. Nur eine solche Maßnahme würde die Situation für die Deutschen verbessern und die deutschen Nettozahlungen verringern.
Heinemann: Herr Minister, der Gipfel in Berlin findet ohne funktionierende EU-Kommission statt. Gibt es aus Sicht der französischen Regierung bereits einen idealen Kandidaten für die Nachfolge von Jacques Santer?
Strauss-Kahn: Dazu möchte ich jetzt noch nichts sagen. Es steht fest, daß wir jetzt einen Ersatz für die Kommission finden müssen. Es gibt mehrere Kandidaten: Romano Prodi, Wim Kok, auch der Spanier Javier Solana wurde genannt. Darüber wird am Rande des Berliner Gipfels diskutiert werden. Alle die zur Zeit als mögliche Kandidaten genannt werden, verfügen über große Qualitäten und würden uns zusagen.
Heinemann: Oskar Lafontaine hat zu seinen Amtszeiten eine Harmonisierung der Steuern in Europa angemahnt. Die Briten waren darüber nicht amüsiert. Ist dieses Thema mit seinem Ausscheiden vom Tisch?
Strauss-Kahn: Ich halte dies für ein sehr wichtiges Thema. Ich war in dieser Frage immer der gleichen Meinung wie Oskar, unter der Bedingung, daß man Harmonisierung so versteht wie Oskar Lafontaine und ich das tun: als eine Annäherung, die dazu führt, einen anormalen Zustand, der jeden Wettbewerb zerstört, zu beenden. Das gibt es zum Beispiel bei der Unternehmensbesteuerung in einigen Ländern, und das führt dazu, daß Unternehmen innerhalb Europas den Standort wechseln, was absurd ist. Man darf Harmonisierung allerdings nicht so verstehen, wie unsere britischen Freunde sie verstanden haben oder getan haben als hätten sie es so verstanden, als wollten wir überall die gleichen Steuern und dieselben Steuersätze. Niemand hat das gesagt. Wir haben unterschiedliche historische und kulturelle Traditionen. Jeder von uns möchte in seinem Land die Möglichkeit behalten, die Steuern nach eigenem Gutdünken zu bestimmen. Harmonisieren heißt nicht uniformieren, heißt nicht überall dasselbe. Es heißt nur eine Annäherung herstellen und anormale Situationen zu vermeiden. Dieses Thema ist nach wie vor aktuell.
Heinemann: Herr Minister, erwarten Sie Änderungen oder neue Akzente in der deutschen Finanzpolitik, etwa auch im Umgang mit der europäischen Zentralbank?
Strauss-Kahn: Ich will mich nicht zur deutschen Innenpolitik äußern oder zu den Gründen, die Oskar Lafontaine zu seinem Rückzug geführt haben. Ich kenne seinen Nachfolger übrigens nicht. Ich werde ihn erstmals in Berlin treffen. Was die Koordinierung der Politik innerhalb des Euro-Elf-Rates betrifft, sind die Positionen zwischen der deutschen und der französischen Regierung nicht auseinander. Wir wollen mehr Koordinierung, eine Politik, die das Wachstum und Arbeitsplätze unterstützt. Wir müssen jetzt untereinander über die besten Schritte auf diesem Weg sprechen. Das betrifft nicht nur die europäische Zentralbank. Es wäre paradox zu glauben, jedes Wachstum hänge nur von der Zentralbank ab. Es gibt vielmehr andere Elemente der Wirtschaftspolitik, die wir auf den Weg bringen müssen. Das einzige was feststeht und wichtig ist, ist der gemeinsame Wille der deutschen und der französischen Regierung, Wachstum und Beschäftigung Priorität einzuräumen.
Heinemann: Der französische Wirtschafts- und Finanzminister Dominique Strauss-Kahn.