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Harms: Deutsche Politik lässt Draghi keinen anderen Weg

Die Entscheidung von EZB-Chef Mario Draghi zum Staatsanleihenkauf von Euro-Krisenländern sei Resultat des Nichthandelns der Bundesregierung, sagt die Grünen-Politikerin Rebecca Harms. Die Koalition traue sich wider besseren Wissens nicht, die richtigen Schritte zu unternehmen.

Rebecca Harms im Gespräch mit Birgit Wentzien |
    Birgit Wentzien: Politik zu machen bedeutet, dass man im Zweifel auch mit Niederlagen rechnen muss – sagen Sie, Frau Harms. Rechnen Sie kommende Woche mit einer Niederlage, wenn das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Mittwoch wieder einmal über Europa urteilt und der Politik wieder einmal sagt, wo es langgeht?

    Rebecca Harms: Wenn das Verfassungsgericht in Deutschland grundsätzlich gegen die wichtigen Kriseninstrumente entscheidet, die wir uns in der Krise des Euros und der Krise der Europäischen Union gegeben haben, dann ist das eine Niederlage, die Folgen haben muss für die deutsche Politik in der Europäischen Union.

    Wir haben versucht, auf der Grundlage der bestehenden Verträge und natürlich in Respektierung der deutschen Verfassung das zu tun mit den Rettungsschirmen und anderen Krisenmaßnahmen, was wir für angemessen halten und was wir auch für angemessen halten, nicht nur, um Krisenländern wie Griechenland, Irland, Portugal, Spanien oder Italien zu helfen, sondern um auch deutsche Interessen, die Interessen von deutschen Bürgerinnen und Bürgern in der Europäischen Union, zu sichern.

    Wentzien: Wenn Sie sagen "angemessen” für das Urteil jetzt am kommenden Mittwoch, womit rechnen Sie genau? Die obersten deutschen Richter werden ja unter anderem über den dauerhaften Europäischen Rettungsschirm ESM entscheiden müssen, von dem die Kritiker ja sagen, damit verliert der Bundestag sein Haushaltsrecht, das sei ein Milliarden-Euromonster, außerhalb jeder demokratischen Kontrolle – was wird Karlsruhe genau zu diesem Monster sagen?

    Harms: Ich kann das Urteil nicht vorwegnehmen, aber man soll ja auch die Richter und das Verfassungsgericht insbesondere respektieren. Wenn das Verfassungsgericht alles das konterkariert, was zu einem guten Teil dazu gedient hat, einen Absturz der gemeinsamen Währung und ein tieferes Abgleiten der Europäischen Union in die Krise zu verhindern, wenn das Verfassungsgericht dazu "nein" sagt, dann bekommen wir allerdings Verhältnisse, die unkalkulierbar werden und die dann eher solche Maßnahmen, wie sie jetzt in Deutschland ja so hart kritisiert werden, wie sie in der EZB von Draghi und mit einer Ausnahme allen seinen Kollegen in den Mitgliedsstaaten befürwortet werden, die dann tatsächlich das ersetzen müssen, was wir bisher gemacht haben.

    Wentzien: Auf Draghi, auf den Chef der Europäischen Zentralbank in dieser Woche, kommen wir gleich, Frau Harms. Also Sie sagen: Sie erwarten – höre ich aus Ihren Worten –, dass Karlsruhe das, was bislang an Rettungsmaßnahmen angeschoben worden ist, bestätigt und nicht konterkariert?

    Harms: Das wünsche ich mir, weil – das wäre ein Bekenntnis des Verfassungsgerichts auch zu den Notwendigkeiten für die Zukunft, für die gute Zukunft der Europäischen Union und der Deutschen in der Europäischen Union, beizutragen.

    Wentzien: Gesetz den Fall, Karlsruhe sagt "nein". Was passiert dann?

    Harms: Wenn Karlsruhe nein sagt, dann muss die Krisenpolitik neue überdacht werden. Ich glaube, dass wir dann noch viel schneller darüber reden müssen, wie wir den ausreichenden Unterbau, den politischen und vertraglichen Unterbau für die Währungsunion schaffen. Wir reden ja bisher immer nur über kurzzeitige Instrumente. Wir reden nie darüber, dass eine Fiskal- und Wirtschaftsunion mehr ist als die Kriseninstrumente, die bisher die Deutschen schon so erschüttern.

    Wir reden dann auch über Souveränitätsübertragung nach Brüssel aus den Nationalstaaten, weil wir ohne stärkeres politisches Gewicht und ohne gemeinsame Verantwortung für Haushalts- und Wirtschaftspolitik die gemeinsame Währung gar nicht halten können.

    Wentzien: Was würden Sie sagen, wir kommen auf Draghi zu sprechen: Hat Politik denn überhaupt noch den Hut auf im Verfahren, hat Politik überhaupt noch Entscheidungsraum? Nach der Ankündigung von Mario Draghi, dem Chef der Europäischen Zentralbank in dieser Woche, denn Draghi will ja notfalls unbegrenzt Geld drucken, weil sich die Euro-Länder gegenseitig nicht mehr genug helfen. Das ist doch – in der Summe zusammengefasst – ein Armutszeugnis für nationale und für europäische Politik?

    Harms: Zuerst mal: Was will Draghi, was will die Europäische Zentralbank, was wollen – mit einer Ausnahme – alle die, die an der Spitze der Notenbanken der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stehen? Mit einer Ausnahme sind alle dafür, den Staaten, die ihre Staatsanleihen nicht mehr finanzieren können, den Staaten zu helfen ...

    Wentzien: ... die eine Ausnahme sollten wir nennen, Frau Harms ...

    Harms: ... das ist Deutschland ...

    Wentzien: ... Jens Weidmann, der letzte Retter von Politik, der Chef der Bundesbank.

    Harms: Ob Jens Weidmann der Retter von Politik ist oder ob er sich an einer Stelle querstellt, die die falsche ist, darüber wird man wahrscheinlich heute noch nicht entscheiden können. Aber aus meiner Sicht ist es so, dass Herr Draghi, so wie auch schon vorher Herr Trichet, ungefähr vor einem Jahr, auch im Sommer – Herr Draghi hat entschieden, dass die politischen Maßnahmen nicht ausreichen, um die Finanzmärkte zu beruhigen und die Situation in der Europäischen Union zu stabilisieren.

    Die Anleihenaufkäufe werden dazu beitragen, es ist keineswegs beabsichtigt, da unkontrolliert Geld zu drucken. Die Geldmenge in Europa soll weiter unter Kontrolle gehalten werden. Und es gibt auch viele Ökonomen, die sich heute anders, als die deutsche Debatte das vermuten lässt, zu Wort gemeldet haben und gesagt haben, eine Inflationsgefahr gibt es durch Draghis Maßnahmen jetzt nicht.

    Was für Deutschland wichtig ist, ist, dass erkannt wird, dass Frau Merkel und Herr Schäuble die guten und besseren Instrumente, also den Altschuldentilgungsfonds, der nicht bedingungslos gewesen wäre, sondern auch von den Ländern, denen man hilft, viel verlangt hätte, abgelehnt haben. Sie haben auch bisher nicht mitgemacht bei den Vorschlägen, eine Banklizenz für den ESM zu gewähren.

    Das wären beides Schritte gewesen, die mehr demokratische Kontrolle und auch bessere politische demokratische Kontrolle für die Bedingungen dieser Maßnahmen produziert hätten. Also was Draghi heute macht, ist eigentlich die hundertprozentige Konsequenz aus dem Nichthandeln, aus dem auch, finde ich, wider besseres Wissen Nichthandeln der deutschen Bundesregierung – die aus Angst vor einer schwierigen Debatte in Deutschland sich nicht traut, die Instrumente zu unterstützen, die fast alle anderen Europäer für richtig halten.
    (zu EZB-Entscheidung Anleihenkäufe)

    Wentzien: Frau Harms, da muss ich aber Sie als Demokratin fragen: Was legitimiert Draghi, was legitimiert die Europäische Zentralbank, genau dies anzukündigen. Mit welchem demokratischen Recht entscheidet Draghi, wie er jetzt entschieden hat?

    Harms: Draghi hat entschieden, was auch schon Herr Trichet entschieden hat, dass es für die gemeinsame Währung, und damit eben auch für die Bürgerinnen und Bürger in dem gemeinsamen Währungsraum, unverzichtbar ist, jetzt stabilisierende Maßnahmen zu ergreifen. Wer genau hinguckt, der sieht, dass auch Herr Draghi das nicht jenseits der politischen Debatte und der Anforderungen, die in Geberländern so eine große Rolle spielen, macht. Auch Herr Draghi wird natürlich nur da Anleihen aufkaufen in großem Umfang, wo die Staaten sich unter Sanierungsprogramme, harte Sanierungsprogramme, begeben.

    Das ist eine Bedingung, die ist immer wiederholt worden. Und deswegen ist Herr Draghi eben nicht außerhalb des politischen Raums, aber er kauft, so wie auch das Herr Trichet das vorher getan hat, der Politik Zeit, damit die, die bisher verweigerten Schritte für eine Vertiefung der Währungsunion vorbereiten kann.

    Wentzien: Aber demokratisch legitimiert ist das in keinem Fall.

    Harms: Ich bin immer angetreten für den demokratisch besseren Weg. Da unterscheide ich mich überhaupt kaum von den meisten meiner Kollegen aus allen Ländern, auch aus Deutschland, selbst den CDU-Kollegen im Europäischen Parlament. Wir wollen das mit den Mitteln, die wir unterschiedlich befürworten, das mit den Mitteln – also Altschuldentilgungsfonds oder auch Banklizenz für den EFSF immer verbunden wird, eine starke demokratische Kontrolle.

    Wir laufen ja seit Jahren Sturm in Brüssel als Abgeordnete des Europäischen Parlaments für die bessere Einbeziehung des Europäischen Parlaments und auch eine starke Zusammenarbeit des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente bei der Kontrolle gerade dieser Krisenpolitik. Draghi geht den anderen Weg, aber auch, weil die Politik, insbesondere die deutsche Politik ihm ja gar nichts anderes übrig lässt.

    Wentzien: Sie beschreiben ein Paradox und zugleich ein Vakuum von Politik. Selten wurde ja Politik so wenig Achtung entgegen gebracht, und selten war das Tun von Politik so wichtig wie heute. Warum ist das so, möchte ich Sie gern fragen. Wenn wir auf das Parlament schauen, dem Sie angehören, Frau Harms, das ist das Europaparlament, in dem ja Wesentliches passiert – dieses Geschehen aber wird kaum verfolgt. Nur wenige verstehen das parlamentarische Geschehen im Europaparlament. Und das ist, meine ich, der gravierendste Tatbestand. Nur ganz wenige Bürger scheint dieser Umstand eigentlich auch ernsthaft zu kümmern. Wie lässt sich damit als Parlamentarier eigentlich leben?

    Harms: Als ich 2004 aus der deutschen Politik nach Brüssel gegangen bin, da standen wir in einer Situation: Wir waren voller Hoffnung, die Europäische Verfassung sollte verabschiedet werden. Es stand auch dieser große Schritt der Erweiterung des Beitritts der osteuropäischen, südosteuropäischen Staaten an. Wir waren damals alle, nicht nur ich, sondern wir alle waren sehr enthusiastisch und dachten, es bricht eine neue Zeit für die europäische Demokratie an.

    Diese Verfassung ist gescheitert. Wir mussten uns alle in Brüssel damit konfrontieren, dass die europäische Öffentlichkeit heterogener ist, dass das europäische Interesse immer wieder in nationalen Debatten hinten angestellt wird und dass jeder nationale Wahlkampf im Zweifelsfall dafür gut sein kann, zulasten des europäischen Interesses Politik zu vertreten. Heute sind wir in einer sehr schwierigen Situation. Die europäische Demokratie ist eben immer noch jung, das Europäische Parlament hat sich nicht die Rechte holen können gegen die Interessen der Mitgliedsstaaten, die es eigentlich haben müsste. Wir sind gleichzeitig mehr denn je in dieser Krisenpolitik gefordert, für Demokratie zu sorgen.

    Ich bin manchmal ratlos, wie das weitergehen soll. Ich werde aber, so wie ich das auch von vielen meiner Kollegen wahrnehme, ich werde nicht nachlassen, dieses Thema "Demokratie" zum Thema zu machen, gerade weil mir so missfällt, mit welcher Doppelbödigkeit viele der Regierungen in Brüssel und zu Hause Politik machen. Das ist wirklich nicht in Ordnung, dass unser Finanzminister oder unsere Bundeskanzlerin genau wissen, was man tun muss, um die Währung und die Europäische Union zu stabilisieren, aus Angst, im nächsten Wahlkampf das aber nicht erfolgreich vertreten zu können, dann eben diesen undemokratischen Weg über die Zentralbank akzeptieren.
    (Kritik am Krisenmanagment Merkel)

    Wentzien: Eigentlich müsste es doch, wenn man die Wesentlichkeit und Wichtigkeit des Europaparlaments sieht, genau umgekehrt sein. Es müsste ein Kraftparlament sein in diesen schwierigen und bewegten Zeiten. Wo, Frau Harms, ganz simpel gefragt, wo geht denn jetzt eigentlich die Demokratie hin, wenn sie nicht im Europaparlament landet?

    Harms: In Deutschland ist das ja zu beobachten, dass sich das Parlament, der Bundestag sich auch gestützt auf Entscheidungen in Karlsruhe zum maßgeblichen Parlament gerne auch machen will, was europäische Entscheidungen angeht. Jede weitere Finanzierung soll ja in Zukunft, wenn es schlimm kommt, im Haushaltsausschuss und im Bundestag debattiert werden. Das ist aus der Sicht des Bundestages vielleicht ein guter, demokratischer Weg. Aus meiner Sicht ist es unmöglich, bestimmte Entscheidungen, die ganz Europa betreffen, nur aus der nationalen Perspektive gut zu treffen.

    Wentzien: Was sagen Sie den Bürgern? Jüngste Umfragen haben das gerade wieder festgestellt, drei Viertel aller Bürger in Deutschland fürchten, dass sie schlussendlich die Rechnung werden bezahlen müssen für die gesamten Eurorettungsmaßnahmen. Das sind gewaltige Vorbehalte und das ist eine Riesenportion Skepsis in diesen Zeiten. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie darauf angesprochen werden?

    Harms: Erstens wollen wir natürlich versuchen, auch gerade ich mit meiner Fraktion, mit meinen Kollegen in Deutschland, dass nicht das kommt, was die meisten befürchten, nämlich dass nur die kleinen Leute und die ordentlichen Steuerzahler in der Europäischen Union die Quittung für die gesamte Krisenpolitik bezahlen. Das ist meiner Meinung nach die größte Ungerechtigkeit in dem Ganzen, dass wir Schuldenpolitiken und Bankenpolitiken, Bankenstrategien, die auf hohes Risiko gesetzt haben, dass wir die am Ende ausgleichen mit öffentlichen Geldern, die auf dem Rücken eben der braven kleinen Leute und des Mittelstandes zusammengetragen worden sind.

    Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern das gilt auch für andere Länder, die sich in der Krise solidarisch für die Europäische Union und die Stabilisierung der Währung engagieren. Ein wirklich großer Mangel ist bisher, dass wir in erster Linie gewährleistet haben, Banken wieder zu stabilisieren, ohne dass der Finanzsektor tatsächlich schon dazu beigetragen hat, dann auch in die Kosten mit einzusteigen. Die Beteiligung der Banken, die Beteiligung des Finanzsektors, die Beteiligung auch der Wohlhabenden, die ja in diesen Bereichen in erster Linie auch sehr viel mitverdienen, das ist etwas, was als Aufgabe vor uns liegt und worüber die politische Auseinandersetzung in Brüssel und in Deutschland auch geführt werden muss.

    Wentzien: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, zu Gast ist Rebecca Harms, Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament und Mitglied im grünen Parteirat (Anmerkung der Redaktion: Die falsche Bezeichnung "stellvertretende Vorsitzende" wurde nachträglich in "Ko-Fraktionsvorsitzende" korrigiert). Frau Harms, die SPD und auch Ihre Partei, die Bündnisgrünen, kritisieren die Bundesregierung. Sie haben es gerade wieder getan. Sie sorgen im Bundestag aber immer wieder für entscheidende Mehrheiten bei allen Rettungsmaßnahmen, die da beschlossen worden und auch diskutiert worden sind. Werden Sie das auf Dauer durchhalten? Denn irgendwann müssen Sie es ja auch Ihren Wählern erklären.

    Harms: Ich bin immer einverstanden damit gewesen, dass bestimmte Schritte, die in Brüssel angesichts der Krise im Kompromiss verabredet worden sind zwischen den Staats- und Regierungschefs, dass die im Bundestag dann auch eine Mehrheit gefunden haben, zuletzt eben auch die Entscheidung über den ESM, den gemeinsamen Rettungsschirm. Die Frage, was Frau Merkel richtig macht und was Frau Merkel falsch macht, die Frage, wo Herr Schäuble konsequent und wo er inkonsequent ist, darüber muss in Deutschland auch den Bürgerinnen und Bürger auch mehr Klarheit vermittelt werden.

    Ich finde, dass die Bereitschaft, vor der nächsten Bundestagswahl weite Schritte zur Stabilisierung der europäischen Währungszone, aber auch der Europäischen Union insgesamt zu gehen, dass diese Bereitschaft mehr verlangt als die kleinen Schritte, die wir bisher gemacht haben. Und was Frau Merkel schafft, ist den Leuten zu vermitteln, dass sie mit ihrer Vorsicht und vorgeblichen Umsicht einerseits das Nötigste zur Stabilisierung der Europäischen Union tut und andererseits dafür sorgt, dass es die Deutschen nicht zu viel kostet.

    Tatsächlich glaube ich, dass wir immer wieder mehr Geld aufgewendet haben, weil wir zu kleine Schritte gegangen sind und dass wir inzwischen einen politischen Schaden in Deutschland angerichtet haben, an dem wir noch lange reparieren und arbeiten müssen.

    Wentzien: Aber wenn Sie die Kommunikation ansprechen, also das Gespräch mit dem Bürger, wird da zu wenig kommuniziert oder zu wenig substanziell gesprochen, und will der Bürger das eigentlich alles hören und verstehen?

    Harms: Also, ich habe hier gerade in Hannover eine interessante Lektion bekommen. Mir wurde hier erzählt, dass in Bürgergesprächen, die meine Kollegen im Landtag zu Europa geführt haben, dass ihnen da gesagt wird, dass man das ganze Gerede von der Krise gar nicht mehr hören könne, denn es gäbe doch gar keine Krise. Und das hat bei mir alle Alarmglocken schrillen lassen. Es gibt natürlich in Deutschland nicht die krisenhaften Entwicklungen, die man jetzt in gerade auch den Ländern des Südens, also in Griechenland, in Süditalien oder in Portugal sehen kann. Das bedeutet aber nicht, dass Deutschland nicht, wenn wir da nicht stabilisierend eingreifen, dass Deutschland sich nicht infiziert.

    Die Kanzlerin scheint ja bis über die Wahlen suggerieren zu wollen, dass Deutschland auf eine Art immun ist gegen die Instabilität und gegen Rezession, wirtschaftlichen Abschwung. Das Gegenteil davon ist aber richtig. Und das wird versäumt, in der deutschen Debatte auch tatsächlich zu erklären. Wir haben unser Schicksal, das Schicksal des Landes, das Schicksal unserer Industrie und unserer Wirtschaft, das Schicksal unserer Politik sehr weit verknüpft mit den Daten, die ebenfalls zur Europäischen Union gehören.

    Schlechte Entwicklungen in großen Teilen der Europäischen Union werden zwangsläufig zu schlechten Entwicklungen führen. Und deshalb ist jedes Handeln für die Vertiefung der Währungsunion, für die Demokratisierung der Währungsunion, vor dem Frau Merkel jetzt immer zurückschreckt, immer im größten und weitreichenden Interesse der Bürger Deutschlands.

    Wentzien: Sie beschreiben Defizite aus Ihrer Sicht der handelnden Bundeskanzlerin. Sie haben zuvor Kritiker im Regierungslager beschrieben. Aber, Hand aufs Herz, Frau Harms, so ganz so einmütig geht es in Sachen europäische Rettungsmaßnahmen bei Ihnen daheim in der Bündnis/Grünen-Fraktion und in der Partei auch nicht zu. Im Sommer gab es eine heftige Debatte im Grünen Parteirat, schlussendlich dann nur eine ganz knappe Mehrheit für den Dauerrettungsschirm ESM und den Fiskalpakt. Wir stark sind bei Ihnen die Kräfteverhältnisse also derer, die sehr skeptisch sind und Dackelfalten und Stirnfalten haben, wenn sie an Europa denken und derer, die sagen, Europa, das ist so etwas wie Staatsraison?

    Harms: Bisher ist mein Eindruck gewesen, dass die Grünen kein Zweifel plagt an der Notwendigkeit, in der Europäischen Union weiter für Vertiefung einzutreten. Die Frage, mit welchen Wegen wir jetzt in der Krise arbeiten, die ist immer wieder umstritten. Den größten Streit gab es eigentlich um den Fiskalpakt, den ja auch gerade Frau Merkel in der Europäischen Union durchgesetzt hat. Dafür habe ich auch sehr großes Verständnis, weil dieser Pakt nach wie vor das macht, was die Krise nicht entschärft, sondern verschärft hat.

    Durch ganz einseitige Austeritätspolitik in den Krisenländern haben wir da nicht Stabilität erreicht, sondern wir haben erreicht, dass es in diesen Ländern bergab geht. Die Haushaltskassen sind leer. Es werden durch den Abschwung, der durch europäische Vorgaben oder Troikavorgaben entsteht, alle wirtschaftlichen Entwicklungen gebremst. Also, an der Stelle gab es wirklich Streit.

    Was wir als Grüne wollen, ist ein Ansatz für die gemeinsame europäische Stabilitätspolitik, der auf zwei Beinen steht. Wir wollen eine umfassende Solidarität innerhalb der Europäischen Union. Wir sind ganz sicher, dass wir unsere Währung nicht stabil halten können, so lange nicht klar ist, dass die Staaten füreinander eintreten, wenn die Staaten ihre Schuldenlasten nicht mehr tragen können. Wir wollen das aber nicht zu jedem Preis und bedingungslos. Also, die Bedingungen müssen dafür stimmen. Und dafür steht bei uns eben der Begriff der Solidität. Und das ist eine andauernde Auseinandersetzung.

    Wentzien: Das ist das Wollen, das Sie beschreiben, das Wollen der Grünen. Ich habe Sie aber danach gefragt, wie das Sein zu beurteilen ist. Also, gibt es Skeptiker und wenn ja, wie groß ist die Gruppe gegenüber denen, die Europa wollen?

    Harms: Die Erfahrungen, die ich mache, ist, dass die Grünen insgesamt, auch Grünen nahe Bürger, die sich in den Veranstaltungen, die wir zu Europa organisieren, mit uns treffen, dass die viele Fragen haben, die alle beantwortet werden müssen, dass am Ende bei denen, mit denen wir diskutieren, aber eigentlich doch immer wieder das Bekenntnis für die Dauerhaftigkeit der Europäischen Union und auch die Notwendigkeit der besonderen Leistungen Deutschlands in dieser Europäischen Union da ist.

    Wentzien: Eine persönliche Schussfrage bitte: Frau Harms, seit 2004 sind Sie Mitglied im Europaparlament. Wäre das nicht eigentlich das Zeichen einer bekennenden Europäerin, wenn Sie sich jetzt bewerben würden und auch Ihren Hut in den Ring schmissen für eine Spitzenkandidatur der Bündnisgrünen?

    Harms: Ich sehe das genau anders herum. Ich glaube, dass tatsächlich wir uns bekennen müssen dazu, stark Politik auch in Brüssel in der Europäische Union für die Europäische Union zu machen. Und für mich wäre das ein Stück weg von Europa, wenn ich behaupten würde, die bessere und einflussreichere Europapolitik wird in Berlin gemacht.

    Wentzien: Vielen Dank.


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