"16 June 1880: This morning we have arrived at Ems we are staying at the villa Monrepos which is situated on the Lahn. We travelled in sleeping cars Baby, Mamma, Marie and Sophie in one car and Papa and I in another We arrived here at a quarter to twelve."
Harry von Kesslers erster Tagebucheintrag - gut drei Wochen nach seinem zwölften Geburtstag. Das Englische verdankte sich wohl dem Rat des Vaters: Es galt, sich auf das Eliteinternat Ascot vorzubereiten. Über zehn Jahre lang wird er diese Übung in seinen fast täglichen Einträgen beibehalten. Übersetzt lautet sein erster Eintrag:
"16. Juni 1880: Heute Morgen sind wir in Ems angekommen. Wir wohnen in der Villa Monrepos, die an der Lahn liegt. Wir reisten in Schlafwagen - Baby, Mama, Marie und Sophie in einem Wagen, Papa und ich in einem anderen. Wir kamen hier um viertel vor zwölf an."
Harry von Kesslers erster Tagebucheintrag - gut drei Wochen nach seinem zwölften Geburtstag. Das Englische verdankte sich wohl dem Rat des Vaters: Es galt, sich auf das Eliteinternat Ascot vorzubereiten. Über zehn Jahre lang wird er diese Übung in seinen fast täglichen Einträgen beibehalten. Übersetzt lautet sein erster Eintrag:
"16. Juni 1880: Heute Morgen sind wir in Ems angekommen. Wir wohnen in der Villa Monrepos, die an der Lahn liegt. Wir reisten in Schlafwagen - Baby, Mama, Marie und Sophie in einem Wagen, Papa und ich in einem anderen. Wir kamen hier um viertel vor zwölf an."
Vom Jungen aus Bad Ems zum adeligen Chronisten
Der junge Kessler war hier schon ganz bei sich: voller Beobachtungseifer und in der Wahl des mondänen Bad Ems und seiner Sprache von europäischem Zuschnitt. Er verfolgte das Leben im Kurort so genau wie seine Diktion eine nüchterne blieb. Die Kulisse bildeten die mitunter geradezu schlossähnlichen Villen an der Fluss-Promenade. Auf der fand bereits vier Tage nach der Ankunft der Familie Kessler eine bedeutsame Begegnung statt – worüber sich am 20. Juni 1880 indessen nur ein äußerst lakonischer Eintrag findet:
"Heute Morgen kommt der Kaiser auf die Promenade und spricht mit Mama, das Wetter war schön, ist aber schlecht."
Der preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm I. hatte bereits im Mai 1879 die Kesslers in den erblichen Adelsstand erhoben – und blieb der Familie auch weiterhin verbunden. Insbesondere die geliebte Mutter des Zwölfjährigen, Alice von Kessler, hatte es dem Kaiser angetan. Dies und die Verdienste des vermögenden Vaters Adolf von Kessler haben vermutlich auch zur Empfehlung Wilhelms I. geführt, die Familie Kessler in den erblichen Grafenstand zu erheben.
Der preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm I. hatte bereits im Mai 1879 die Kesslers in den erblichen Adelsstand erhoben – und blieb der Familie auch weiterhin verbunden. Insbesondere die geliebte Mutter des Zwölfjährigen, Alice von Kessler, hatte es dem Kaiser angetan. Dies und die Verdienste des vermögenden Vaters Adolf von Kessler haben vermutlich auch zur Empfehlung Wilhelms I. geführt, die Familie Kessler in den erblichen Grafenstand zu erheben.
Als Harry Graf Kessler sollte der Junge aus Bad Ems - bis zu seiner Flucht vor den Nazis mit einem Unabhängigkeit garantierenden Vermögen gesegnet – fortan sein Diarium führen. Der Tagebuch-Herausgeber Roland S. Kamzelak hält fest:
"Es ist ja kein intimes Tagebuch, in dem man viel über die Person erfährt, sondern über die Dinge, mit denen er sich beschäftigt. Und die verändern sich im Laufe seines Lebens und sind immer wieder spannend."
"Es ist ja kein intimes Tagebuch, in dem man viel über die Person erfährt, sondern über die Dinge, mit denen er sich beschäftigt. Und die verändern sich im Laufe seines Lebens und sind immer wieder spannend."
Tagebuch der europäischen Kraftentfaltung
Allein seine Homosexualität musste geheim bleiben, alles wäre sonst gefährdet gewesen. Insgesamt aber entsprach dem Schillernden seiner Persönlichkeit und der Vielfältigkeit der Lebensumstände die Fülle der Professionen, Berufungen und Obsessionen, denen er folgte, die er ausübte und endlich auch protokollierte. Der promovierte Jurist Kessler war Kunsthistoriker, Verleger, Kunstsammler, Mäzen, Schriftsteller, Pazifist und Politiker. So entstand, wie es der Historiker Karl Schlögel in einer Rede über Harry Graf Kessler charakterisierte, eine Art Monument des untergegangenen Europas:
"Ein über 57 Jahre hin, in höchster Disziplin und nie nachlassender Sorgfalt geführtes Tagebuch, ein Protokoll Europas aus der Zeit seiner größten Kraftentfaltung, aber auch am Beginn seines Weges in den Abgrund."
"Ein über 57 Jahre hin, in höchster Disziplin und nie nachlassender Sorgfalt geführtes Tagebuch, ein Protokoll Europas aus der Zeit seiner größten Kraftentfaltung, aber auch am Beginn seines Weges in den Abgrund."
Der "Rote Graf" genannt
Vor allem wird der Graf Chronist der wilhelminischen Gesellschaft bleiben, deren Teil er war, und der doch nicht müde wurde, ihre moralischen und politischen Widersprüche offenzulegen. An dieser Grundhaltung der Wahrnehmung änderte die große Zäsur des Ersten Weltkriegs nichts, auch wenn der reaktivierte Kavallerieoffizier während seines knapp zweijährigen Fronteinsatzes die "Ästhetik des Schreckens" zu entdecken begann und sich dabei, wie er formulierte, fern der "Clichéküche der Kriegsrhetorik" wähnte. Nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich Kessler dem Pazifismus und Sozialismus zu. Roland Kamzelak:
"Spätestens 1919 kippt sein Interesse und seine Anschauung vollständig, er widmet sich ja dann auch anderen Themen, sozialen Themen, wird Sozialdemokrat und wird auch der 'Rote Graf' genannt."
Am 30. November 1937 starb Harry Graf Kessler, krank, verarmt und bald vergessen in einer Klinik in Lyon. Auf dem größten Friedhof von Paris, dem Père Lachaise, wurde er beerdigt, begleitet von einer nur kleinen Trauergemeinde. Es sollten fast dreißig Jahre bis zu seiner Wiederentdeckung vergehen.
"Spätestens 1919 kippt sein Interesse und seine Anschauung vollständig, er widmet sich ja dann auch anderen Themen, sozialen Themen, wird Sozialdemokrat und wird auch der 'Rote Graf' genannt."
Am 30. November 1937 starb Harry Graf Kessler, krank, verarmt und bald vergessen in einer Klinik in Lyon. Auf dem größten Friedhof von Paris, dem Père Lachaise, wurde er beerdigt, begleitet von einer nur kleinen Trauergemeinde. Es sollten fast dreißig Jahre bis zu seiner Wiederentdeckung vergehen.