Schon der Anfang dieses Tagebuchs ist symptomatisch: In einer Szene wie aus einem Henry-James-Roman kommt ein Zwölfjähriger mit seiner Familie in Bad Ems an – anno 1880 ein mondäner Tummelplatz für Monarchen und Millionäre aus aller Welt. Hinter dem Sohn eines steinreichen Hamburger Bankiers liegen traumatische Erlebnisse: das Mobbing durch Mitschüler in einem Halbinternat in Paris, der Selbstmord eines Lehrers nach einem Schülerstreich. Dazu noch verstörende Gerüchte über eine angebliche Affäre seiner Mutter, eine umschwärmte Schönheit der Belle Époque. Jetzt wollen ihn seine Eltern nach England schicken; in einem Eliteinternat in Ascot soll aus dem Jungen ein Gentleman werden.
Man könnte also vermuten, dass der angehende Diarist eine Menge zu verarbeiten hat. Und dass er wohl gerade deshalb seine Aufzeichnungen beginnt, um mit seinen Erlebnissen, Ängsten und Konflikten fertig zu werden. Tatsächlich aber verliert der Schreiber kein Wort über das, was hinter ihm liegt oder ihn innerlich bewegt. Zuerst vermerkt das Tagebuch nur lapidar die Ankunft der Familie in dem Kurort. Dann, schon einen Tag später, beschäftigt sich der junge Harry Graf Kessler ausgiebig mit der örtlichen Etikette und den unter den Gästen gerade angesagten Modefarben. Wenige Tage später beobachtet er, wie der deutschen Kaiser – auch er ein Verehrer seiner Mutter – gleich nach seiner Ankunft mit ihr auf der Emser Promenade parliert.
Im Grunde findet sich schon hier, in diesen ersten Einträgen, in nuce das, was den Diaristen Harry Graf Kessler zeitlebens ausmachen wird. Gleich noch ein Beispiel aus dem nun endlich erschienenen ersten Band dieser großen Tagebuch-Edition: Elf Jahre nach dem Kuraufenthalt in Bad Ems heißt es in Kesslers Journal unvermittelt, Onkel und Tante hätten ihm nahegelegt, eine gewisse "L." zu heiraten. Keine Silbe darüber, wie er zu diesen familiären Erwartungen steht oder welche Gefühle ihn mit der jungen Frau verbinden. Notierenswert findet es der damalige Student der Rechtswissenschaften dagegen, wie viel Zeit und Mühe die Pariser Damenwelt investiert, um à la mode auszusehen:
"L. erzählte mir, dass der Friseur Marcel, der ein besonderes Geschick hat, das Haar zu wellen, so überlaufen ist, dass er nur noch in seinem Appartement empfängt, wie Richet oder Péau; er frisiert die Damen, die am meisten bieten, zuerst und es werden 40, 100 bis zu 300 und mehr Franken geboten; manche Damen warten den ganzen Nachmittag und müssen schliesslich unverrichteter Sache weggehen."
9.000-seitige Tagebuch-Edition
Keine Frage: In der Geschichte der diaristischen Literatur ist das Tagebuch Harry Graf Kesslers nicht nur ein Höhepunkt. Es ist vor allem auch ein Sonderfall. Aber nicht etwa wegen seines beispiellosen Umfangs. 1880 begonnen, führte es der Kulturvermittler, Mäzen und Publizist bis zu seinem Tod 1937 in Armut und Exil nahezu ohne Unterbrechungen, also 57 Jahre lang. Anfangs in gewöhnlichen Schulheften, später selbstbewusst in mit Goldschnitt verzierten Bänden im Quartformat. Auf den Schauplätzen des Ersten Weltkriegs wechselte der Rittmeister und Kommandeur einer Artillerie-Munitionskolonne dann zu handlichen Wachstuchheften; an die Stelle von Tinte trat der praktische Bleistift. Die heute im Marbacher Literaturarchiv verwahrten Bände füllen in der jetzt endlich abgeschlossenen Tagebuch-Ausgabe 9.000 Seiten, ein einmaliges Zeitdokument.
Mit der Transkription begannen die Forscher bereits 1994, ehe die Edition zehn Jahre später kurioserweise mit dem zweiten Band begonnen wurde. Man kann sich denken, warum: Für seine Wiederentdeckung bot sich Harry Graf Kessler als junger Mann auf Weltreise durch Amerika und Asien eher an als die etwas weniger spektakulären Journale aus den Schul- und Studienjahren. Zumal diese auch noch größtenteils auf Englisch geschrieben sind, der Sprache seiner irisch-stämmigen Mutter. Jetzt ist dieses editorische Mammutprojekt also fertig. Ergebnis: neun ziegelschwere Prachtbände in Rot. Was so ziemlich das genaue Gegenteil von dem ist, was Kessler in einer düsteren Stunde als Schicksal für sein Diarium befürchtete. Mit 19, damals war er längst Abiturient auf dem elitären Hamburger Johanneum, schrieb aber noch auf Englisch, schimpfte er sich einen Narren für all die mit seinen Kritzeleien verschwendete Lebenszeit. Schließlich würde sich nie jemand für sein Tagebuch interessieren, nicht einmal seine Erben.
"Whom does it interest? Me? I hardly ever read it. My heirs? Ten to one the minute I have closed my eyes and they have got my body out of the house they will sell it to some pork-butcher to wrap saussages in."
Widerspruch zur Gattung Tagebuch
Dass Kesslers Tagebücher nicht als Einwickelpapier beim Metzger endeten, hängt mit dem zusammen, was diese Aufzeichnungen ausmacht. In gewisser Hinsicht sind sie nämlich ein Widerspruch zur Gattung Tagebuch überhaupt. Für den Germanisten Michael Maar zum Beispiel sind Journale der Ort, wo ein Individuum all die erlittenen oder vielleicht auch nur eingebildeten Kränkungen oder Enttäuschungen festhält. Harry Graf Kesslers Leben war nun, man kann es nicht anders sagen, eine Enttäuschung in Fortsetzungen: Angefangen von der erhofften Karriere im Auswärtigen Amt, die sich im Lauf seines Lebens gleich mehrfach zerschlug, über seine künstlerischen Ambitionen bis zu seiner schon im Ansatz scheiternden Politikerkarriere als friedensbewegter "roter Graf" in der Weimarer Zeit. Zeitlebens auf der Suche nach seiner Bestimmung, legte sich Kessler über seinen Gefühlshaushalt jedoch immer nur ausnahmsweise und eher in homöopathischer Dosis Rechenschaft ab. Selbst ein Ereignis wie die öffentliche Demütigung im Juni 1906, die der damalige Museumsdirektor durch seinen Dienstherrn, den Weimarer Großherzog, wegen seiner allzu avantgardistischen Kunstpolitik erlitt, verschweigt das Tagebuch. Und wäre längst vergessen, hätte nicht Kesslers Freund Henry van de Velde den Vorfall festgehalten: Jedem Würdenträger, jedem hohen Regierungsbeamten habe der von einer Reise zurückgekehrte Großherzog an jenem Tag vor versammeltem Hof die Hand gereicht. Nur Harry Graf Kessler habe er den Handschlag verweigert und ihn dabei zugleich mit einem "Ausdruck offener Verachtung" bedacht …
Wenig Interesse am eigenen Ich
Nur wenig Psychodrama, Nabelschau oder Konfession also auf diesen 9.000 Tagebuch-Seiten. Sicher, es gibt Ausnahmen. Im neuen Band zum Beispiel, als Kessler an seinem 20. Geburtstag in einem dramatischen Eintrag über den Sinn seines Lebens grübelt und beschließt, keinesfalls wie sein Vater eine "money-making-machine" zu werden. Eine selbstbewusste Absage an die patriarchale Ordnung, die ihn mit anderen Vertretern seiner Generation verbindet wie Erich Mühsam oder Robert Musil. Und einmal will Kessler sogar von einer Brücke springen – ausgerechnet die deutsche Kriegsniederlage 1918 bringt ihn, diesen großen Kultureuropäer, vorübergehend an den Rand des Suizids.
Doch unterm Strich interessierte ihn sein Ich herzlich wenig, weshalb man auch nach Träumen in diesem Tagebuch lange suchen muss – als ob nicht längst das Zeitalter Sigmund Freuds angebrochen gewesen wäre! Und bis heute führt Kesslers notorische Diskretion in Sachen Intimleben zu allerlei Spekulationen über seine mögliche Homosexualität. Wo andere Tagebuchautoren der Epoche wie Arthur Schnitzler oder Oscar A. H. Schmitz akribisch-stolz ihre erotischen Abenteuer registrierten, finden sich bei Harry Graf Kessler nur einige rührend unschuldig wirkende Einträge, etwa über Erlebnisse in seinem Militärjahr mit Kameraden:
"Abends bei Dunkelwerden wieder mit Dungern und Veltheim zum Baden im Mühlbach; ein merkwürdiges Bild, wir drei nackten Menschenkinder im Mondschein auf der Wiese. Später mit Dungern bei wunderbarem Mondschein hinaus auf die Felder."
Nein, was Harry Graf Kessler zeitlebens fasziniert, sind nicht die "stillen, dunklen Abgründe", wie er einmal notiert, sondern es ist der "Wellenschlag der Oberfläche". Wobei man "Oberfläche" fallweise mit "Welt", "Kunst" oder "Gesellschaft" übersetzen muss. Und "Wellenschlag" mit der anbrechenden Moderne, die Kessler und seine Zeitgenossen Richtung Zukunft peitscht. Dabei begibt sich der Graf mit seismografischer Sensibilität just immer genau dorthin, wo seine Zeit kenntlich wird: ob er als junger Weltreisender im New York des Jahres 1892 den um Aufmerksamkeit kämpfenden Reklamewahn beobachtet, als Nijinsky-Verehrer 1913 die Premiere der Skandaloper "Le Sacre du printemps" oder als Weltkriegsoffizier die mörderische Geschäftsmäßigkeit in den militärischen Schaltzentralen. Es ist dieses Amalgam aus Weltfülle und Zeitdiagnose, das Kesslers Journal zu einem einzigartigen Kaleidoskop macht für seine Epoche der Umbrüche und Paradoxien. Im November 1907 findet man Harry Graf Kessler zum Beispiel auf einer Modenschau in Paris. Danach entstehen Sätze, wie sie ebenso aus Musils Jahrhundertroman "Der Mann ohne Eigenschaften" stammen könnten:
"Man sitzt wie vor einem seltsamen Ballett, in dem über die Physionomie der Zeit bestimmt wird. Zwischen den Traumgewandungen für den Abend werden unvermittelt knappe, fesche Strassenkleider gezeigt, Stoffe und Linien genau berechnet auf Regennasse Strassen (…). In diesem Gegensatz zwischen einem bis zum Perversen gehenden Esoterismus und einer schmucklosen aber eleganten Nützlichkeit scheint mir der Charakter der jetzigen Mode und vielleicht der Zeit selbst zu bestehen (…) das gleichzeitige Ja und Neinsagen zur modernen Wirklichkeit (…). Die Zeit umfasst Byzanz und Chicago, Hagia Sophia und Maschinenhalle, man versteht sie nicht, wenn man blos die eine Seite sehen will."
Immer wieder verwandelt sich Harry Graf Kessler dank seiner früh geschulten Beobachtungsgabe und Erinnerungsfähigkeit in eine Art Videokamera auf zwei Beinen, um dann zuhause das Erlebte in seinem geschliffenen Stil festzuhalten. So entstehen faszinierende Reise- und Naturimpressionen, Kunstbetrachtungen und Situationsbeschreibungen, Gesprächsskizzen und Menschenporträts. Wie früh das beginnt, zeigt gerade der neue Band: 1891 besucht der 23-Jährige mit ein paar Freunden den gerade zum Rücktritt gezwungenen Reichskanzler Bismarck. Anschließend rekonstruiert der junge Kessler auf sechs Seiten bis ins Kleinste dessen Polit-Monologe bei Sekt und Zigarren, mit präzisem Blick für Details und die Reaktionen der Anwesenden.
Jet-Set-Leben zwischen Kunst und Politik
An Zeit zum Schreiben mangelte es Harry Graf Kessler offenkundig nicht: Nach dem frühen Tod seines Vaters führte der lebenslange Junggeselle ein Jet-Set-Leben, mit erlesen ausgestatteten Wohnungen in Weimar und Berlin; in London war stets ein Hotelappartement für ihn reserviert. Seine finanzielle Unabhängigkeit erklärt zumindest zum Teil seine an Forrest Gump erinnernde Gabe, erstaunlich oft in seinem Leben kulturhistorisch gesehen zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Wie etwa, als Gerhart Hauptmann und die Berliner Freie Bühne für den Urknall des Naturalismus sorgen:
"5 März 1893. In Hauptmanns ‚Weber‘ auf der Freien Bühne im Neuen Theater. Contrast zwischen dem entzückend zierlich, zart u luxuriös ausgestatteten Theater, das bis auf den letzten Platz von einem elegant gekleideten, überraffinierten, frenetisch klatschenden Publikum erfüllt war u. dem Stück, dessen hohlwangige, fieberäugige Hungergestalten all diesen zarten mittelst Raubbau gezüchteten Culturblumen den Untergang verkündeten."
Auch wenn Harry Graf Kessler natürlich selbst ein solches Treibhausgewächs war, den faulen Zauber seiner - der Wilhelminischen Epoche - durchschaute er wie kein Zweiter. Ob als Stammgast der großen Berliner Salons oder Gesprächspartner von Politikern, ob auf Bällen, Soireen und Dinners, immer wieder gelangt er zu beißenden Beobachtungen der deutschen Upperclass. So etwa, wenn ihm auf einem Ball die hohen Damen mit ihren geschminkten Gesichtern wie eine Riege "schlecht aufgeputzter Theaterprinzessinnen" erscheinen. Etliche seiner Einträge über die Rituale und Etikette der Elite lesen sich wie Anschauungsmaterial zu den soziologischen Einsichten eines Georg Simmel oder Max Weber. Zum Beispiel seine Reflexionen über die Klatschsucht des Adels.
"Hofball in Weimar. (…) Alles ist von Intriguen und Aigriertheit untergraben. Grund: Alle Leute haben Nichts zu tun und haben unendlich viel Zeit. Alle Leute fühlen sich zurückgesetzt, schon weil sie an einem kleinen Hof und in einem kleinen Land agieren statt in Berlin. Allen bieten sich die Intrigue und der Klatsch als die am leichtesten zu erreichende Beschäftigung. Daher knistert und knattert es immerfort im Untergrund von springenden Minen, oder richtiger von Lustfeuerwerk, mit dem man sich die Zeit vertreibt. Ein Studium hier lehrt Einen die kleinen Seiten der menschlichen Seele besser kennen als irgendwo anders: Reinkulturen des menschlichen Schimmelpilzes."
Schon lange vor Kriegsausbruch hält Kessler den Untergang der höfischen Gesellschaft für unvermeidlich. Wie auch anders, wenn ihm aus dem Gesicht Wilhelm II. nur dessen "Bulldoggenwille" entgegenspringt und ihm dessen Gemahlin in ihrem Glitzerkleid "wie ein billiges Knallbonbon" vorkommt. Bestätigt findet Harry Graf Kessler seine Urteile, als er Ende Dezember 1918, mitten in den Revolutionswirren, die geplünderten kaiserlichen Privatgemächer im Berliner Schloss besichtigt:
"Die Nippes Schränke des Kaisers sind leer, die Glasscheiben zerschlagen. Was den Matrosen an den Plünderungen zu Schulden kommt, scheint nicht festzustellen. Die Privaträume, Möbel, Gebrauchsgegenstände, übriggebliebenen Andenken und Kunstobjekte der Kaiserin und des Kaisers sind aber so spiessbürgerlich nüchtern und geschmacklos, dass man keine grosse Entrüstung gegen die Plünderer aufbringt; nur Staunen, dass die armen, verschreckten, phantasielosen Wesen, die diesen Plunder bevorzugten, im kostbaren Gehäuse des Schlosses zwischen Lakaien und schemenhaften Schranzen nichtig dahinlebend weltgeschichtlich wirken konnten. Aus dieser Umwelt stammt der Weltkrieg (…)."
"Der rote Graf"
Verblüffend freilich sind seine engen Kontakte zu den Novemberrevolutionären. Umso mehr als Kessler nach 1914 erstaunlich lange vom Kriegsvirus infiziert war. 1918 wurde er von den Arbeiter- und Soldatenräten sogar vorübergehend als Botschafter nach Warschau geschickt. Doch war die Spannweite seiner Bekanntschaften und Begegnungen schon früh ein Charakteristikum von Kesslers Leben; nicht ohne Grund handelte er sich nach dem Krieg mit seinem Engagement für Frieden und Republik den Spitznamen "Der rote Graf" ein. Kessler bewegte sich nie nur in den Komfortzonen der feinen Gesellschaft. In den letzten Kriegsjahren zum Beispiel war er ebenso in Hindenburgs Hauptquartier zu finden wie am Kaffeehaustisch mit sozialkritischen Künstlern wie George Grosz, Johannes R. Becher oder Wieland Herzfelde.
Tatsächlich war es gerade die moderne Kunst, die ihn schon vor der Jahrhundertwende für die anstehenden Umbrüche sensibilisierte. Und die er selbst nach Kräften förderte: ob als Mitbegründer der Kunstzeitschrift "Pan" oder in seiner Zeit als Weimarer Museumsdirektor, ob als heimlicher Co-Autor von Hofmannsthals "Rosenkavalier" oder in der Zwischenkriegszeit als Verleger der bibliophilen Cranach-Presse. Oder eben zeitlebens als Kunstliebhaber und Mäzen. Als solcher ließ er sich von Henry van de Velde die Wohnung möblieren, entdeckte Max Liebermann und saß Edvard Munch Porträt. Berührungsängste kannte er offenkundig nicht; den verarmten Paul Verlaine zum Beispiel suchte der stets dandyhaft-elegant gekleidete Kessler in seinem Pariser Elendsquartier heim:
"Mit einiger Mühe seine Wohnung in einem ärmlichen Arbeiterhause der rue St Victor über vier nach Katzen, Kohl und trocknenden Proletarierwindeln riechenden Treppen entdeckt. Durch eine dunkle Vorkammer, in der der Geruchssinn Einen vermuten lässt, dass die warmen, wolligen an den Wänden hängenden Gegenstände, durch die man sich mühsam hindurchwindet, Unterröcke sind, tastet man sich zu der Thür des Einen Zimmers hin, das die ganze Wohnung des grössten lyrischen Dichters Frankreichs bildet. Ich klopfe an und trete ein. (…) Im Bett liegt angezogen und mit Pantoffeln an den Füssen Verlaine. Er steht auch zunächst nicht auf. Der bizarre Sokrateskopf erhebt sich kaum aus den unordentlich verschlafenen Kissen."
Das Tagebuch als Ruhepol?
Viel ist in der Forschung darüber gerätselt worden, warum Harry Graf Kessler überhaupt so ausführlich und diszipliniert Tagebuch führte. Geschah es mit Blick auf eine Autobiografie, von der 1935 nur ein erster Band erscheinen konnte? Oder war das Tagebuch eine Art lebenslanger Rechenschaftsbericht gegenüber seiner verehrten Mutter, wie der Kessler-Biograf Friedrich Rothe vermutete?
Vielleicht liegt die Antwort am Ende doch im Psychologischen. Lebenstechnisch führte der Graf quasi eine mobile Existenz und war lange vor der Ära der Privatjets heute in London und morgen in Paris. Begegnungen mit sage und schreibe 14.000 Personen an über 4000 Orten haben die Herausgeber in seinen Tagebüchern gezählt – und deshalb von Anfang an umfangreiche Register von Personen und Schreiborten zur Erschließung bereitgestellt. Dass man im Gegenzug auf Stellenkommentare verzichtet hat, ist natürlich schade, aber doch verschmerzbar; immerhin ist jeder Band mit einer ausführlichen Einleitung versehen. Jedenfalls: Notorisch umtriebig, wie Kessler war, und dazu noch dauerhungrig auf das Neue und Moderne, verkörperte der Graf wie kein Zweiter dieses "Zeitalter der Nervosität". Daher dürfte sein Tagebuch der Ort gewesen sein, wo Kessler zur Ruhe kam – und zugleich die so erbarmungslos Richtung Moderne dahinstürmende Zeit zumindest momentweise zu sich selbst fand. Als Nächstes will das Marbacher Literaturarchiv den Text des Tagebuchs vollständig online stellen, im Sinne einer "Hybrid-Edition". Damit wäre Harry Graf Kessler dann wohl endgültig in der Zukunft angekommen.
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Erster Band: 1880–1891.
Hrsg. v. Roland S. Kamzelak
Klett-Cotta, Stuttgart 880 Seiten, 65,- Euro
Hrsg. v. Roland S. Kamzelak
Klett-Cotta, Stuttgart 880 Seiten, 65,- Euro
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Gesamtausgabe (Bände 1-9)
Klett-Cotta, Stuttgart, angekündigt für 28.2.2019 für 473,- Euro
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