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Harte Zahlen

Mehr als 14 Prozent der Erwerbsfähigen in Deutschland sind Funktionale Analphabeten: Sie können höchstens einzelne Sätze entziffern und sind kaum in der Lage, einfache schriftliche Arbeitsanweisungen zu lesen. Das ist ein erstes Ergebnis der Studie "Level-One" zum Analphabetismus in Deutschland.

Von Anke Petermann |
    Bis vor Kurzem gehörte er zu den etwa siebeneinhalb Millionen Menschen, die nur rudimentär lesen und schreiben können - der 51-jährige Lüneburger Uwe Boldt, der die Hauptschule besuchte.

    "Ich bin auch zur Schule eigentlich immer gegangen, aber ich bin immer mit durchgezogen worden, stand auch in den Zeugnissen: aus pädagogischen Gründen versetzt in Klasse soundso. Ich habe immer so die Arbeiten gemacht, wo ich nicht schreiben musste und habe mich immer versucht, drum rum zu gehen, dass ich da nicht ans Schreibpult musste, also immer die Arbeiten gemacht, wo ich nicht schreiben musste."

    Anke Grotlüschen, Professorin für Erwachsenenbildung, analysiert:

    "Die meisten haben tatsächlich einen Schulabschluss und sollten wenigstens mal so weit lesen gelernt haben, dass sie mit ein bisschen Abschreiben, ein bisschen Helfen-Lassen durchgekommen sind. Aber wenn man's die ganze Zeit nicht verwendet und es nie automatisiert gewesen ist, also nie flüssiges lexikalisches Lesen und Schreiben vorgelegen hat, dann kann das passieren, dass das wirklich in der Versenkung verschwindet."

    Weitere 13 Millionen Menschen in Deutschland, also ein zusätzliches Viertel der Erwerbsfähigen, kann nur langsam und fehlerhaft lesen und schreiben, fand die Hamburger Forscherin in ihrer Studie Level-One heraus. Das ist "mehr als eine Nische", so Bundesbildungsministerin Anette Schavan. Ein Grundbildungspakt von Bund und Ländern mit Beteiligung von Unternehmensverbänden und Gewerkschaften soll Abhilfe schaffen. 20 Millionen Euro will der Bund dafür zur Verfügung stellen. Wenn diese Summe nicht auf mindestens 100 Millionen aufgestockt werde, so meint Rita Süssmuth, Präsidentin des Deutschen Volkshochschul-Verbands, sei der nötige Quantensprung bei der Alphabetisierung Erwachsener aber nicht zu erreichen. Denn die Volkshochschulen als Pioniere in diesem Bereich erlebten,

    "dass sie angesichts der hohen Eigenbeteiligung der Kursteilnehmer allein gar nicht zurechtkommen können. Es fehlen Kursangebote. Aber selbst, wenn wir unser Kursangebot verzehnfachen würden, könnten wir nicht genügend allein erreichen. Also wir brauchen die Wirtschaft, die in ihren Betrieben funktionale Analphabeten mit ihren geringen Schreib- und Lesefähigkeiten haben, dass auch sie hilft, diese Personen zu ermutigen, zunächst zu identifizieren, damit sie sprachliche Grundbildung erhalten."

    Denn immerhin 57 Prozent der Menschen ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten sind berufstätig. Da sie befürchten, stigmatisiert zu werden, outen sie sich allerdings kaum. In einer Wiesbadener Erklärung zur sogenannten Alpha-Offensive forderte daher der Deutsche Volkshochschul-Verband eine bundesweite, medial gestützte Ermutigungskampagne, die Betroffene motiviert, Aufholmöglichkeiten auch wahrzunehmen. Speziell geschulte Bildungsberater sollen daran mitwirken. Mehr flächendeckende und wohnortnahe Lernangebote, fordert der Deutsche Volkshochschul-Verband. Uwe Boldt hat den Absprung geschafft und angefangen, lesen und schreiben zu lernen.

    "Der erste Schritt, erstmal dahin zu gehen, ist schwer, aber wenn man den ersten Schritt getan hat, dann geht das nachher leichter, weil man sieht, da sind noch andere, die dasselbe Problem haben und die teilweise noch schlimmer sind wie du selber."

    Seit vier Jahren belegt der Lüneburger Alphabetisierungskurse - die lange Dauer ist keine Seltenheit, weiß die Hamburger Professorin Anke Grotlüschen, die Alphabetisierungskurse stabilisierten Betroffene auch sozial:

    "Die Volkshochschulen machen eine ganze Menge Empowerment, wie es heißt, also sie stärken die Teilnehmer, bringen ihnen bei, wie man mit dem Internet umgeht, wie sie ihre Bank-Überweisungen machen können und Ähnliches, was ja eigentlich nicht klassische Lese- und Schreib-Lernarbeit ist. Es ist möglich, dass Menschen sehr, sehr langsam lernen, es gibt aber auch andere, und das ist zum Beispiel die Frage, ob das konzeptionell besser werden muss, die einen Crash-Kurs brauchen, die nicht zwei Stunden die Woche einen Kurs brauchen, sondern drei, vier, fünf, sechs, Wochen, wo gezielt literalisiert wird, auch Vollzeit, auch den ganzen Tag."

    Angebote, die derzeit entwickelt werden, so die Expertin für Erwachsenenbildung.