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Hartmut Leppin über die Anfänge des Christentums
Althistoriker: Die Radikalität der ersten Christen schreckt mich ab

Wenn heutige Christen von 'Urchristen' schwärmen, hält Hartmut Leppin das für ahistorisch und gefährlich. Der Althistoriker warnt davor, bestimmte "Fantasien früher Christen für bare Münze" zu nehmen und daraus Normen abzuleiten. Das Christentum in seinen Anfängen sei anders gewesen, sagte Leppin im Dlf.

Hartmut Leppin im Gespräch mit Andreas Main |
Der Althistoriker Hartmut Leppin schaut zwischen Statuen hervor
Der Althistoriker Hartmut Leppin blickt in die Anfänge des Christentums (Uwe Dettmar)
Andreas Main: Es ist bereits im September 2018 erschienen, jenes voluminöse Buch von Hartmut Leppin, aber es ist eines dieser Bücher für die Ewigkeit, die kein Verfallsdatum haben, anders als manch ein hochaktuelles, ultrapopuläres Sachbuch. Hartmut Leppin schreibt über die Anfänge des Christentums. Der Band hat den Titel "Die frühen Christen: Von den Anfängen bis Konstantin". Hartmut Leppin ist kein Theologe, sondern Althistoriker. Er ist Leibniz-Preisträger und Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Im Übrigen ist er nicht zu verwechseln mit seinem jüngeren Bruder, dem evangelischen Kirchenhistoriker Volker Leppin, der öfter einmal zu hören ist in dieser Sendung. Dessen Schwerpunkte liegen eher im Mittelalter und in der Reformationszeit; Hartmut Leppins Forschungsschwerpunkt dagegen ist die Polyphonie des frühen Christentums. Hartmut Leppin ist uns zugeschaltet in einem Studio des Hessischen Rundfunks in Frankfurt, ein Gespräch, das wir aufzeichnen beziehungsweise aufgezeichnet haben. Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen, danke und guten Morgen Herr Leppin.
Hartmut Leppin: Guten Tag, Herr Main.
Main: Hartmut Leppin, so viele Stimmen in den ersten Jahrhunderten nach Christus, Sie sprechen von Mehrstimmigkeit, von Polyphonie. Wenn ich mich durch Ihr Buch durcharbeite, denke ich manchmal, war das nicht eher eine Kakophonie?
Leppin: Die Frage habe ich mir auch schon oft gestellt. Ich denke, es war insofern eine Polyphonie, weil die meisten Christen, die wir kennen, gemeinsame Ziele hatten, gemeinsame Vorstellungen davon, in welche Richtung das Leben sich entwickeln sollte, nämlich in Richtung eines ewigen Lebens.
"Die ersten Christen waren sich einig: Jesus war wichtig"
Main: Das ist also die Melodie, die sich durchzieht durch die ersten vier Jahrhunderte der Christentumsgeschichte - oder gibt es noch andere Melodien? Was ist das Gemeinsame?
Leppin: Das Gemeinsame ist die Vorstellung, dass mit der Gestalt Jesu irgendetwas ganz Besonderes passiert sei in der Welt. Was es genau war, ob Jesus ein herausragender Lehrer war, ob er der Messias war, ob er ein Wundertäter war mit besonderen Kräften, das blieb strittig, aber dass diese Gestalt Jesus so wichtig war, darin war man sich einig unter den Christen, anders als unter den Juden.
"Ungeheuer dynamisierend"
Main: Dies als Ouvertüre. Herr Leppin, jetzt gehen wir einmal ins Detail. Sie schreiben von Beweglichkeit im frühen Christentum. Der Grund ist der Fokus auf die Eschatologie in den Anfängen, die sogenannte Naherwartung. Wie skizzieren Sie als Historiker diese Einstellung?
Leppin: Das war die Vorstellung, die die frühesten Anhänger von Jesus gehabt haben müssen, dass er bald wiederkehren werde, noch zu ihren Lebzeiten, und dass dann das Ende der Welt eintreten werde. Das war eine ungeheuer dynamisierende, belebende, für diese Christen hoffnungsfrohe Erwartung, allerdings auch eine Erwartung, die einen davon lösen konnte, sich ansonsten in der Welt einzurichten.
Main: Auf jeden Fall brauchten Christen, die mit dem Ende in naher Zukunft rechneten, keine Kirchenbauten.
Leppin: Nein, die brauchten auch nicht unbedingt einen Bischof über sich oder einen Priester über sich. Die lebten oft in der unmittelbaren Gewissheit. Trotzdem gelang es den Christen, in dieser Welt sich einzurichten.
Ein Mosaik in der Apsis der römischen Kirche Santa Costanza aus konstantinischer Zeit zeigt Jesus Christus
Der Glaube der frühen Christen konzentrierte sich vorrangig auf Jesus (imago stock&people )
Main: Herr Leppin, wenn ich Ihnen zuhöre und Ihr Buch lese, komme ich zu dem Eindruck, dass diese christliche Welt damals sich extrem von dem unterscheidet, was Christentum heute ausmacht, also uns extrem fern ist. Würden Sie das so unterschreiben?
Leppin: Das würde ich auch so unterschreiben. Wir würden uns überhaupt gar nicht zurechtfinden in den frühen Gemeinden. Manche Dinge, die heute in evangelikalen Gemeinden in Afrika, Lateinamerika zelebriert werden, das Stimmenhören, die Verkündigung durch den Einzelnen, ist vermutlich näher an dem dran, was die frühesten Gemeinden repräsentierten als der streng gefasste evangelische Gottesdienst, den man heutzutage hat.
Main: Wenn also in gewissen christlichen Kreisen vom Urchristentum gesprochen wird und dieses voller Verehrung als Richtschnur genommen wird für heute, ist das für Sie keine mögliche Denkrichtung und wirklich unhistorisch?
Leppin: Ich glaube es ist ahistorisch. Es ist sogar gefährlich, weil das bestimmte Fantasien früher Christen für bare Münze nimmt und daraus dann eine Norm ableitet. Das ist in ganz vielen Kontexten möglich. Das geschieht auch in anderen Zusammenhängen in der Geschichte. Das kann dazu führen, dass bestimmte Dinge vom historischen Kontext abgelöst werden.
Wir müssen uns auch bewusst machen, diese frühen Christen hatten eine Ethik, die vor allem auf Einzelne ausgerichtet war. Die frühesten Christen haben gar nicht nachgedacht über komplexe soziale Zusammenhänge, über Gesellschaften. Auch die Politik war fern von diesen Christen. Es ging darum, wie ich mich meinem Nächsten gegenüber verhalte - und große christliche Gemeinschaften müssen über ganz andere Dinge nachdenken.
"Attraktiv: Erste Christen hatten großes Selbstvertrauen"
Main: Ihr Buch will ja ganz bewusst keine systematische Gesamtdarstellung sein, sondern bearbeitet bestimmte Aspekte christlichen Lebens in den Anfängen. Wenn Sie noch einmal zurückblicken: Was fasziniert Sie besonders, vielleicht sogar auch im Sinne gesellschaftlicher Relevanz für heute?
Leppin: Was mich beeindruckt bei den frühen Christen ist, dass das Leute waren, die in der Gesellschaft kein großes Ansehen besaßen, die weder eine herausragende Bildung besaßen noch reich waren noch zu einem hohen Amt gekommen waren und die dennoch mit einem ungeheuren Selbstbewusstsein etwas vertraten, was den meisten Zeitgenossen auch merkwürdig vorkam - und dass hier aus der Peripherie des Römischen Reiches, aus Galiläa und Judäa, etwas entstand, was dann ein gewaltiges, scheinbar übermächtiges Reich grundlegend transformieren sollte.
Main: Welche Erklärungen haben Sie dafür?
Leppin: Es sind Erklärungen, die man je nach historischer Phase auch unterschiedlich geben müsste. In der frühen Phase scheint mir wichtig zu sein, dass, soweit wir sagen können, die frühesten Anhänger von Christus Menschen waren, die durchaus einen gewissen sozialen Status hatten, die aber keine Chance besaßen, in die überregionalen Eliten aufzusteigen und allenfalls geringe Chancen, in die lokalen Eliten aufzusteigen, also in den Stadtrat zu kommen zum Beispiel.
Die konnten sich jetzt, indem sie sich zum Christentum bekannten, mit dem Gefühl schmücken, etwas zu wissen und erkannt zu haben, was all die vornehmen Herrschaften nicht wussten und nicht erkannt hatten. Das musste ihnen ein großes Selbstvertrauen gegeben haben und das war attraktiv.
In den Gemeinden konnten sie, wenn sie gut zu lehren wussten, wenn sie plausibel zu verkünden wussten, ein hohes Ansehen gewinnen, sodass es auch durchaus sozialgeschichtliche Gründe gibt, eines Statusgewinns, die erklären können, warum das Christentum für viele Menschen attraktiv war.
"Was mich abschreckt: die Radikalität der ersten Christen"
Main: Wir haben darüber gesprochen, was Sie fasziniert hat an den ersten Christen - jetzt die Frage, was schreckt Sie ab?
Leppin: Was mich abschreckt, ist die absolute Radikalität, mit der der Glaube vertreten wurde. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die heilige Perpetua, die zu Beginn des 3. Jahrhunderts zur Märtyrerin werden soll, die einen Säugling hat, die einen Vater hat, der sie anfleht, weiterzuleben und die ihren Vater zurückstößt und den Säugling aufgibt, um für Christus sterben zu können.
Das ist aber eine typische moderne Position, eine biedere, bürgerliche familienorientierte Position, die im Vergleich zu dieser Radikalität der Jenseitshoffnung und des Vertrauens darauf, dass Gott schon alles richten werde, natürlich schwach wirken kann, aber ich stehe dazu.
"Frauen in Ämtern sind Randphänomene"
Main: Herr Leppin, lassen Sie uns einmal ein paar Punkte, die für das Verständnis der Anfänge zentral sind und die bis heute heiße Eisen sind, durchdeklinieren. Was lässt sich sicher sagen über die Rolle der Frauen in den ersten christlichen Gemeinden?
Leppin: Wir haben in den frühsten Gemeinden Zeugnis über Frauen, die eine Lehrautorität besaßen, die mit Vollmacht sprechen konnten, wie das dann zum Teil ausgedrückt wird.
Wir haben auch Zeugnis von Frauen, die aufgrund ihres Verhaltens ein besonderes Ansehen gewannen, zum Beispiel die Witwen. Gewöhnlich wurde in der römischen Gesellschaft erwartet, dass Witwen sich wieder verheiraten, zumal wenn sie im gebärfähigen Alter waren. Viele Christinnen taten das nicht, und sie besaßen dann ein besonderes Ansehen in den Gemeinden, besaßen auch besondere Handlungsspielräume. Einige haben sogar Taufen vorgenommen und hatten dadurch eine herausgehobene Rolle, aber das dürfen wir nicht verwechseln mit einer modernen Vorstellung von Emanzipation. So konnte es auch eines der größten Lobe, einer der größten Lobsprüche für Frauen sein, dass sie sich wie ein Mann verhalten würden.
Die Jungfrau Maria mit ihrem neugeborenen Sohn Jesus von Nazaret. Glassmalerei in Passau.
Frauen waren auch im frühen Christentum nicht gleichberechtigt (imago / Danita Delimont)
Main: Also das heißt, so etwas wie das Priesteramt oder andere Ämter in dem Sinne haben Frauen nicht bekleidet?
Leppin: Es gibt Hinweise darauf, dass Frauen diakonische Funktionen ausgeübt haben. Es gibt vereinzelt Zeugnisse von Frauen, die auch das Abendmahl verteilt haben. Das sind aber, soweit wir es sehen können, Randphänomene, aber die Texte, die wir kennen, sind durch die Geschichte einer Kirche hindurchgegangen, die sehr stark die Männer privilegiert hat, sodass auch bestimmte Texte ausgeschieden sein können.
"Es gab auch Gemeinden, die ohne Hierarchie auskamen"
Main: Also, wenn wir jetzt das sogenannte "Urchristentum" Eins zu Eins zum Vorbild nähmen, dann kämen wir heute zu welchem Ergebnis?
Leppin: Ja, die Frage kann ich schwer beantworten, weil das, was unter Urchristentum verstanden wird, ja abhängt von den jeweiligen Leuten, die da Urchristentum konstruieren. Da ich keins konstruiere, kann ich da auch schlecht etwas sagen.
Main: Also, es wäre besser, eigene Wege heute zu finden, als sich an dem Punkt an den Anfängen des Christentums zu orientieren, so viel kann man dann wohl sagen?
Leppin: Ja, man kann vielleicht so viel sagen, dass die frühesten Christen sehr stark betont haben, dass die Eignung für irgendeine Funktion nicht an irgendwelchen äußerlichen Merkmalen wie Reichtum, wie Geschlecht hing, sondern daran, ob man von Gott inspiriert war.
Main: Herr Leppin, wann setzt so etwas, um auf einen zweiten Aspekt zu kommen, wann setzt so etwas wie eine Hierarchisierung ein?
Leppin: Wir haben Hinweise schon in dem ausgehenden 1. Jahrhundert, dann sehr verstärkt im 2. Jahrhundert. Da hören wir auch von der Trias "Bischof, Priester, Diakon", die sich herausbildet. Was wir nicht wissen: wie typisch diese Gemeinden waren. Es gab sie im 2. Jahrhundert, im 3. Jahrhundert. Es gab sie in großer Zahl. Es gab aber auch andere Gemeinden, die ohne Hierarchie auskamen, die sehr stark charismatisch organisiert waren.
Die Rolle des Bischofs war stets umstritten
Main: Was autorisierte einen Bischof?
Leppin: Einen Bischof autorisierte, dass er in der Gemeinde Anerkennung fand und das heißt, in irgendeiner gewählt wurde, was auch durch Akklamation geschehen konnte, und dass andere ihn anerkannten, was sich unter anderem dann in der Weihe durch andere Bischöfe niederschlagen konnte.
Aber das eine Wort Bischof konnte unter früheren Christen auch unterschiedliche Bedeutungen haben. Es konnte stärker auf eine Verwaltung gehen. Es gibt ein frühes Zeugnis, das allein von einer Wahl des Bischofs spricht. Das heißt, wir haben die Schwierigkeit, dass wir ein Wort haben, von dem wir glauben, dass wir es gut kennen - wie Bischof -, das aber in den Quellen ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann.
Main: Sodass womöglich auch in dem Punkt, wie sich das Bischofsamt am Anfang sehr widersprüchlich und ambivalent herausgebildet hat, dass sich darin widerspiegelt, was wir an Debatten heutzutage haben.
Leppin: Oder umgekehrt, die Vielfalt der Debatten ist möglich, weil es diese Vielfalt von Vorstellungen über Ämter, Bischöfe schon seit jeher gab.
Elitenbildung im Christentum
Main: Hartmut Leppin, wir versuchen, an Beispielen die Vielfalt des frühen Christentums durchzudeklinieren. Da kommen wir an einem Thema nicht vorbei, der Gnosis. Alles rankt sich vor knapp 2.000 Jahren um die Frage: Wie hältst Du's mit der Gnosis? Die ist uns wiederum so fern, dass ich sicher bin, dass selbst Theologen oft nicht wissen, was sich dahinter verbirgt. Versuchen Sie, uns zu erklären, was gnostisches Denken ausmacht.
Leppin: Ich spreche nicht von Gnosis, sondern von einem gnostischen Spektrum und meine damit Gruppen, die davon ausgehen, dass es eine bestimmte Erkenntnis gibt als Grundlage des wahren Glaubens - und zwar eine Erkenntnis, die exklusiv ist. Die meisten Christen gingen davon aus, dass die Wahrheit jedem Menschen zugänglich sei. Die Gnostiker hatten ein exklusiveres Verständnis und oft verband sich das mit langen Erzählungen darüber, wie die Welt entstanden sei, wie sie sich entwickeln werde. Es tauchen dann auch Namen auf, die anderswo aus mythologischen Kontexten bekannt sind. Die Weisheit spielt als Person, vorgestellt in einigen Texten, eine große Rolle, aber auch innerhalb dessen, was wir Gnosis nennen, gab es eben eine ganz große Vielfalt unterschiedlicher Auffassungen. Für mich ist der entscheidende Punkt diese Art der Elitarisierung innerhalb des Christentums. Ich sehe es insofern sehr stark wieder sozialgeschichtlich.
Main: Sie sprechen von Elite, von Exklusivität. Könnte man auch sagen, das waren sektiererische Gruppen?
Leppin: Das wäre mir zu normativ. Ein Theologe kann das gerne sagen. Als Historiker würde ich erst einmal sagen, sie sind Teil der Welt, die sich als christlich verstanden hat.
"Man erlebt dort eine völlig andere Vorstellungswelt"
Main: Was will das gnostische Spektrum, um Ihre Formulierung aufzugreifen, erkennen?
Leppin: Zunächst einmal will es erkennen, wie die Menschen zu Gott kommen und das wird von vielen hergeleitet aus Geschichten über die Welt, dass die Seelen vielleicht früher einmal bei Gott gewesen seien, einen Weg hinab in die Welt genommen hätten und sich wieder befreien müssten von allem Irdischen oder andere Geschichten dieser Art, die es einem möglich machten zu glauben, dass man einen sicheren Weg habe zu Gott.
Main: Also, auch wenn Sie, Herr Leppin, nicht normativ sein wollen, sind gnostische Texte für uns heute lesbar? Macht das Freude?
Leppin: Also, als Historiker habe ich an jedem Zeugnis vergangenen Denkens Freude, zunächst einmal. Was das Interessante ist bei den gnostischen Texten, ist die ungeheure Fantasie, mit der man sich die Geschichte der Welt vorstellt, die Kämpfe, von denen die Rede ist, die eigenartigen Namen, die auftauchen. Man erlebt dort eine völlig andere Vorstellungswelt, die sonst aus christlichen oder auch aus sonstigen Texten kaum bekannt ist - und das macht sie spannend. Wenn ich sie aber im Seminar behandele, habe ich große Schwierigkeiten, sie zu vermitteln.
Main: Weil es niemand versteht.
Leppin: Ja.
Main: Warum waren die dann damals so sehr der Stein des Anstoßes?
Leppin: Weil diese Christen, die sich für das gnostische Spektrum entschieden – es gab auch noch Juden, es gab auch noch andere Gruppen, die ähnliche Vorstellungen hatten –, weil diese Christen etwas beanspruchten, was viele beeindruckt haben musst, auch eine gewisse Sicherheit dessen, was sie sagen konnten, auch einen gewissen Stolz über das, was sie wussten im Vergleich zu anderen Christen, die sehr viel stärker mit dem Alltag rangen und mit der Erkenntnis rangen, bei denen auch Selbstzweifel viel stärker mitgedacht waren in der Glaubenspraxis.
Main: Bei den Katharern im Hochmittelalter blühte gnostisches Denken dann nochmals auf. Aber insgesamt haben sich die Gegenseite oder die vielen Gegenseiten gegen dieses gnostische Spektrum, was auch wieder sehr vielfältig war, durchgesetzt. Warum?
Leppin: Zum einen denke ich, dass diese klare Trennung zwischen Gut und Böse, dieser Dualismus, auf die Dauer nicht so stark überzeugen konnte. Hinzu kommt, dass die gnostischen Gemeinden ihrem Wesen nach kleiner waren und dass sie weniger schlagkräftig waren als Gemeinden, die etwa von einem Bischof geleitet wurden, der für eine straffe Organisation sorgte, der eine Kasse zur Verfügung hatte und dadurch die Gemeinden ganz anders stabilisieren konnte.
"Eher ein Unfall der Geschichte"
Main: Jetzt einmal zum Punkt Verhältnis Staat und frühe Christen. Dass aus dieser, ich sage einmal zugespitzt, jüdischen Sekte wenige Jahrhunderte später die Staatsreligion des Römischen Reichs wurde, ist das aus Ihrer Sicht in der christlichen DNA angelegt - oder ist das eher ein historischer Unfall?
Leppin: Ich würde es eher als einen Unfall sehen. Ich hatte ja schon erwähnt, die frühen Christen haben sich wenig Gedanken gemacht darüber, wie eine politische Ordnung aussehen sollte. Sie haben relativ früh sich entschieden, die, die wir kennen jedenfalls, dem Staat Steuern zu zahlen, insofern ihm treu zu dienen. Die meisten haben es abgelehnt, andererseits Militärdienst zu tun. Die allermeisten haben es abgelehnt, Ämter zu bekleiden, weil die mit Opfern für heidnische Götter verbunden waren. Sie haben sich geweigert, den Kaiser als Gott zu verehren, da sie nur einen Gott kannten, und haben dafür Verfolgung ertragen. Das heißt, sie waren dem römischen Staat loyal, aber er war ihnen völlig fremd. Da der römische Kaiser zugleich Priester war, war es eigentlich unvorstellbar, dass ein römischer Kaiser auch Christ werden könnte. Das haben auch manche Christen so formuliert.
Dann geschieht das Eigenartige. Konstantin, der schon eine gewisse Kenntnis vom Christentum besessen haben muss, erklärt einen Sieg in einer Schlacht, 312 nach Christus, mit der er Rom erobern konnte, die berühmte Schlacht an der Milvischen Brücke, damit, dass Gott ihm zum Sieg geholfen habe. Er habe einen Traum gehabt, eine Vision gehabt, das wird unterschiedlich überliefert, dass Gott ihm zum Sieg verholfen habe.
Ein Fresko von Raffael zeigt die Schlacht an der Milvischen Brücke
Ein Fresko von Raffael zeigt die Schlacht an der Milvischen Brücke (imago stock&people)
Das heißt, dieser Christengott wird gesehen wie ein ganz normaler antiker Gott, wie Jupiter oder Mars, die einem Menschen zu einem militärischen Sieg verhelfen. Solche Vorstellungen gab es im Alten Testament, das die Christen sich angeeignet hatten. Die waren aber den neutestamentlichen Christen zunächst einmal völlig fremd.
Dieses Ereignis, in meinen Augen eher ein Unfall, das führt dazu, dass Konstantin die Christen stützt und dann, und das ist hochspannend, sich der Eigenlogik der Christen aussetzt, dass Christen so stark betonen, dass sie einen exklusiven Glauben haben, dass Christen sich über Glaubensangelegenheiten streiten, daher dem Kaiser ganz neue Aufgaben zumuten.
Dadurch kann man nicht einfach den Aufstieg des Christentums nach Konstantin als einen kaiserlichen Akt beschreiben - aber ein Auslöser war dieser kaiserliche Akt, der dann dem Christentum Möglichkeiten gegeben hat, die bestimmte Christen zu nutzen wussten.
"Die Polyphonie blieb erhalten"
Main: Diese Entwicklung, weg von einer polyphonen Gruppe, hin zu einer Staatsreligion, wer hat davon am meisten profitiert?
Leppin: Wenn Sie das beziehen auf die Rolle in der Welt, die Bischöfe, die sich dann entwickelt haben. Wir hören von einem Senator, einem heidnischen Senator, der - ungefähr 60 Jahre nach Konstantin - sagt, er wäre am liebsten Bischof von Rom, weil er dann so viel Reichtum und Handlungsmöglichkeiten habe. Das heißt, das waren attraktive Ämter geworden.
Wenn man die Kriterien strenger Christen anlegt, und die gab es in dieser Zeit immer noch, dann würden sie sagen, es hat insgesamt eher geschadet. Es gab viele Menschen, die sich auch gegen diese Entwicklung sträubten. Es gab viele christlichen Minderheiten. Das heißt: Die Polyphonie oder Kakophonie blieb durchaus erhalten - trotz der starken Unterstützung des Christentums durch den Staat.
Das bedeutet auch, dass das Christentum immer wieder mit christlichen Argumenten kritisierbar war, was sicher zur Dynamisierung des Christentums beigetragen hat und dazu, dass das Christentum nicht unterging, als das Römische Reich im Westen unterging.
Die Christen konnten erklären, dass sie nicht auf das Römische Reich angewiesen waren. Sie konnten zum Beispiel mit der Vorstellung, dass es eine Kirche von Menschen gebe, die nicht als Institution fungiere, sondern die alleine auf dem Glauben beruhe, auch die Hoffnung haben, dass selbst, wenn sie eine Minderheit waren, trotzdem das Christentum, das eigentliche Christentum weiterleben könnte. Das gehört zu den großen intellektuellen Leistungen Augustins, dass er das durchdacht hat. Er war nicht der Erste, aber er hat es in besonders konsequenter Weise entwickelt.
"Eine lebendige Religion kann unterschiedliche Angebote machen"
Main: Abschließend und auf der Metaebene, Herr Leppin, was ist das Lehrreiche daran, wenn wir uns beschäftigen mit der Mehrstimmigkeit im frühen Christentum in dieser Phase der Religionsgeschichte?
Leppin: Das Lehrreiche ist für mich, dass eine gute Religion nicht darauf angewiesen ist zu behaupten, sie wüsste ganz genau, wie sich alles mit Gott verhalte, sondern dass eine lebendige Religion sehr unterschiedliche Angebote machen kann, ohne dass es ihr schadet.
Main: Hartmut Leppin, Historiker und Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sein Buch hat den Titel: "Die frühen Christen – Von den Anfängen bis Konstantin". Es ist erschienen im Verlag C. H. Beck, 512 Seiten kosten rund 30 Euro. Herr Leppin, danke dass Sie sich die Zeit genommen haben, danke für das Gespräch.
Leppin: Vielen Dank, Herr Main.
Hartmut Leppin: "Die frühen Christen - Von den Anfängen bis Konstantin"
C.H.Beck, 2.Aufl. 2019, 512 Seiten, 30 Euro
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.