Archiv


Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken

Nach dem Pisa-Schock vor gut einem Jahr sind viele neue Bildungsbücher erschienen. Ein gutes Zeichen – belegt es doch, dass man sich hierzulande wieder für das Lernen, für Bildung interessiert und – möglicherweise auch – engagiert.

Renate Faerber-Husemann |
    Mittlerweile gibt es unzählige Vorschläge für eine bessere Schule in Deutschland. Viele sind nachdenkenswert, aber auch manches Irrelevantes zu diesem Thema ist auf den Büchermarkt gekommen. Nicht so das Buch des Bielefelder Pädagogen Hartmut von Hentig, der es viele Monate abgelehnt hatte, sich überhaupt zu PISA zu äußern. Jetzt gibt er in seinem überarbeiteten und mit einem neuen umfangreichen Vorwort versehenen Buch "Die Schule neu denken" viele direkte und indirekte Antworten auf die Schulleistungsstudie PISA.

    Eine Stimme der reinen Vernunft hebt sich im Chor der aufgeregten Bildungspolitiker, Pädagogen und anderen Experten angenehm von vielem ab, was wir in den letzten Monaten lesen konnten. Die Stimme gehört Hartmut von Hentig, dem großen alten Mann der pädagogischen Wissenschaft. Er hat sich mit der bei ihm gewohnten Sorgfalt und Sachlichkeit mit den Ergebnissen der TIMSS- und PISA-Studien auseinandergesetzt – und den darauf folgenden hektischen Vorschlägen "zur Auslöschung der PISA-Schmach”, wie er spöttisch anmerkt.

    Leser, die wissen möchten, was der wohl bekannteste deutsche Pädagoge zu PISA und den Folgen zu sagen hat, werden allerdings zunächst verwirrt. Der 50-Seiten-Essay ist einer Neuausgabe der genau zehn Jahre alten Aufforderung "Die Schule neu denken” vorgeschaltet. Ein Hinweis darauf findet sich nur auf der Rückseite des Buches. Dabei wünschte man diesem Text möglichst viele Leser.

    Denn der Erziehungswissenschaftler vom Jahrgang 1925 relativiert so manche Ländervergleiche und setzt sich kritisch mit den Ergebnissen auseinander, die bei uns für so viel Betroffenheits-Lyrik und bisher so wenig Konsequenzen geführt haben. Die Gründe dafür sind wohl nicht nur im Bildungsföderalismus, den dickfelligen Bürokratien und den leeren Kassen zu suchen. Nichtspezialisten, so belegt Hentig an Beispielen, können den 548-Seiten –Bericht nicht verstehen, in dem kaum Vergleichbares in unverständlicher Sprache verglichen wird. Die kurzen Schlüsse der Bildungspolitiker, die nun nach bundesweiter Standardisierung mit regelmäßiger Überprüfung rufen, werden, so fürchtet er, ins Leere laufen, denn:

    Überprüfungen und die Angst vor ihnen tragen in der Regel zur Verbunkerung, nicht zum Wandel bei.

    Schlimmer noch aber ist für den engagierten Wissenschaftler, dass über die bedeutendsten PISA-Erkenntnisse am wenigsten diskutiert wird. Beispielsweise über die Tatsache, dass am besten jene Länder abgeschnitten haben, die ihre Schüler nicht frühzeitig in verschiedene Schulsysteme sortieren wie es bei uns immer noch üblich ist. Die PISA-Studie ist ein eindeutiges Plädoyer für die Gesamtschule, und das wird bisher ebenso verdrängt wie die zweite wichtige Erkenntnis, die beschämend ist für eine reiche "Wissensgesellschaft”, deren wichtigstes Kapital der Nachwuchs ist. Von Hentig:
    Der verstörendsten Enthüllung von PISA weicht man aus: der in Deutschland fortbestehenden Koppelung von sozialer Lage der Herkunftsfamilie und dem Kompetenzerwerb der nachwachsenden Generation - altmodisch gesprochen von Milieu und erreichter/erreichbarer Schulleistung.

    Das heißt: Es fehlt an Förderung und Ermutigung für Kinder aus schwächeren Milieus, sie landen nach vier Grundschuljahren in der Hauptschule, wo sie bis zum Ende der Pflichtschulzeit vor allem verwahrt werden, die Schule oft als halbe Analphabeten und ohne Abschluss verlassen. Hentig ist skeptisch, ob der jetzt angestrebte Ausbau der Ganztagsschulen allein ausreicht, um die eklatanten Mängel im System zu beheben:

    Wenn die Ganztagsschule nur die Ausdehnung des heute geläufigen Unterrichts von fünf auf acht Stunden bedeutet und nicht ein verändertes Lernen, ist sie ein Unglück für die Kinder und vermutlich auch für die Schulleistung.

    Mit Genugtuung weist Hentig übrigens darauf hin, dass die misstrauisch beäugten Reformschulen in Deutschland wie etwa die von ihm gegründete Bielefelder Laborschule oder die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden beim PISA-Test glänzend abgeschnitten haben.

    Wie eine Schule sein soll, die sich des ganzen jungen Menschen annimmt und gerade deshalb auch im messbaren Leistungsvergleich gute Ergebnisse erzielt, hat Hartmut von Hentig schon vor zehn Jahren in seinem damals viel diskutierten Buch "Die Schule neu denken” vorgeschlagen. Es ist entstanden unter dem Eindruck wachsender Gewalt innerhalb und außerhalb der Schulen.

    Seither ist vieles geschehen – und wenig zum Besseren. Vandalismus, Leistungsverweigerung, Gewalttätigkeit und latente Gewaltbereitschaft haben eher zugenommen – es wird nur weniger darüber geschrieben. Und deshalb ist das nun zehn Jahre alte kluge Buch so notwendig und aktuell wie 1993. Hentig fordert viel von einer neuen Schule. Sie muss den Kindern das Gefühl geben, angenommen zu werden, wichtig und erwünscht zu sein, ihre unterschiedlichen Fähigkeiten und Entwicklungsschritte zu akzeptieren. Immer wieder beklagt er die "Sehschwäche der Schule für die Seelenzustände der Kinder” und fordert - da ist er ganz kompromisslos, die Schule zum Lebensraum zu machen, an dem unterschiedliche Erfahrungen möglich sind:

    Weil die Schule schon jetzt für die Mehrzahl der Kinder für den größeren Teil des Tages der wichtigste, jedenfalls der einzig erträgliche (und für viele der einzig mögliche) Aufenthaltsort und das "Schullernen” die herrschende Lebensform sind, kann man die Schule auch zum Lebensort machen, an dem die lebensnotwendigen Erfahrungen ermöglicht werden.

    Hentig verlangt von den Schulbürokratien konsequentes Umdenken. Doch seine neue Schule könnte, selbst guten Willen vorausgesetzt, an vielem scheitern: An den abweisenden Gebäuden und ihrer lieblosen, vergammelten Einrichtung, die Experimente so schwer macht, an den falsch ausgebildeten, zu alten und ausgebrannten Lehrern, an der Gleichgültigkeit der Eltern, an zu vielen Regeln und zu wenig Autonomie.

    Ob PISA der heilsame Schock sein kann, der dazu führt, dass Bildungspolitiker und die unterschiedlichsten Expertengruppen nun größere Bereitschaft zeigen werden, "die Schule neu zu denken”? Das hat Hartmut von Hentig schon vor zehn Jahren gehofft:

    Die Schule frisst nicht die Kinder, wohl aber die Kindheit und Jugend. Sie entlässt die jungen Menschen kenntnisreich aber erfahrungsarm, erwartungsvoll aber orientierungslos, ungebunden aber auch unselbständig - und einen erschreckend hohen Anteil unter ihnen ohne jede Beziehung zum Gemeinwesen, entfremdet und feindlich bis zur Barbarei. Das Missverhältnis von Aufwand und Erfolg, von Absicht und Ergebnis ist so groß und jetzt so offensichtlich, dass allenthalben die Menschen bereit zu sein scheinen, zunächst einmal die hier vorgeschlagene Denk-Übung mitzumachen.

    Wir wissen inzwischen, wie sehr Hartmut von Hentig Anfang der neunziger Jahre irrte mit seiner Hoffnung, die Zeit sei reif für Veränderungen, einfach weil der Leidensdruck bei allen Beteiligten so groß war. Es ist bewundernswert, dass er nicht aufgehört hat, an die "praktische pädagogische Vernunft” zu glauben und auch heute, zehn Jahre später und nach dem PISA- Schock unermüdlich von der Schule "die Bildung eines Bürgerbewusstseins” anmahnt und verlangt:

    Der junge Mensch muss einen eigenen Willen und Gemeinsinn, Vernunft und Verantwortung ausbilden, damit er der Herr der Verhältnisse sein kann, dies wenigstens zu sein anstrebt. Ihm dazu zu verhelfen, ist Aufgabe der öffentlichen Pflichtschule.