Er war gegen rationale Wissenschaft und idealisierte den rohen Naturzustand des Menschen. Die Geschichte galt ihm als Ursache des Übels, die Zivilisation als Verderbnis schlechthin. So lauten Merksätze über Jean-Jacques Rousseau, aber auf sie ist das Werk dieses seltsam widersprüchlichen Aufklärers nicht zu reduzieren. In Frankreich war er geistiger Vater für gnadenlose Revolutionäre wie Robespierre, für Verschwörer vom Schlage Blanquis. In Deutschland hob ihn die Romantik auf ihren Schild, über den Kulturkritiker Oswald Spengler wurde Rousseau gar zum heimlichen Patron nationalsozialistischer Gemeinschaftsideologien. Angesichts dieser Verzerrungen und Vereinnahmungen hat Hartmut von Hentig sich erst einmal wieder Rousseau selbst zugewandt, hat ein Leben in den Blick genommen, das vom Werk nicht zu trennen ist:
Ich habe am Rousseau immer bewundert, wie er mit seiner Schwäche umgeht, die Befreundung mit der eigenen Schwäche, über die die anderen hergefallen sind, die die anderen lächerlich gemacht haben. Es ist der Autor Rousseau selber ein Ich-Sprecher. Er weiß, was er weiß, aus sich, aus seinem Leiden, aus seiner Erfahrung, aus seiner Selbstergründung. Daraus kann man und darf man nicht allgemeine, aseptische Lehren machen wollen.
Nicht einmal um ein Lehrbuch, sondern nur um den Abriss in einem Lexikon sollte es ursprünglich bei Hentigs Wiederbeschäftigung mit dem französischen Aufklärer gehen: Als leidenschaftlicher Pädagoge, dessen eigene Jugend geprägt war durch die Lektüre von Rousseaus autobiographischen "Bekenntnissen" oder seinem Erziehungsroman "Emile", als wacher Leser also mochte der Autor Hartmut von Hentig niemandem einen derartigen Extrakt zumuten. Beschnitten um die abenteuerlichen Lebenserfahrungen, verkürzt auf akademische Thesen wäre da etwas Wesentliches verloren gegangen, etwas, das Biographie und Bücher Rousseaus wie bei kaum einem anderen Denker innig verbindet – das fortwährende Gedankenexperiment:
Wir haben wie bei Platon auch bei Rousseau nicht gesehen, dass es sich um Gedankenexperimente und nicht um Handlungsexperimente handelt. Es gibt durchaus Philosophen, die Praktisches, praktische Veränderung der Welt im Sinn haben. Und wenn, dann war Rousseau so einer - und im Übrigen der Platon auch.
Das zu erkennen, bedarf es schon eines längeren Essays – einer appetitanregenden Rousseau-Essenz von kaum mehr als 100 Seiten. Und eines Titels, der verspricht, dass hier "Die wohlgeordnete Freiheit" winkt – und das in krisengeschüttelten Zeiten, in denen das deutsche Feuilleton den weniger ums Gemeinwohl als um sein Eigenwohl besorgten Bürger auf die Barrikade zitiert.
Wenn irgendeiner uns heute lehren kann, was es heißt Bürger zu sein, dann ist es Rousseau und im unmittelbaren Kielwasser von ihm Immanuel Kant. Das sind die beiden, die uns zeigen, dass wir und wie wir die Gesellschaft konstituieren, durch einen gedachten Vertrag. Dass wir – nun ja – Citoyenfunktionen wahrnehmen im doppelten Sinn des Wortes: erkennen, wo sie sind – und dann auch ausüben.
Wie aber kommen diese Individualisten – diese durchaus nicht mit einer "Ich-AG" zu verwechselnden "citoyens" – zusammen, wie gestalten sie Rousseaus "contrat social" und vor allem das von dem französischen Aufklärer anvisierte Gemeinwohl? Der Gesellschaftsvertrag mag für Rousseau ein Gedankenexperiment, eine hypothetische Konstruktion zur Erforschung der idealen Gesellschaft gewesen sein – die Folgerungen des Philosophen hält von Hentig für durchaus praktikabel. Er findet es bedenkenswerter denn je, dass bei demokratischen Abstimmungen, dass im Parlament wie auch in jeder anderen politischen Organisation der Gedanke an das Gemeinwohl jeden Einzelnen leiten sollte. Nach dieser Maßgabe nämlich würde die unterlegene Minderheit nicht einfach zahlenmäßig überstimmt, sondern argumentativ eines Besseren belehrt. Das wäre die Alternative zu den machtpolitischen Schach- und Winkelzügen, die die Politik nicht nur der Berliner Republik beherrschen.
Es werden vorher so genannte Pakete geschnürt, das heißt man hat, bevor die Gedanken aufeinander los gelassen werden, hat man sich ausgetauscht, sich der Zustimmung versichert. Und so geht es dann in ein Zählverfahren hinein, von dem wir behaupten, es sei eine Ab-Stimmung. Das ist es nicht. Es ist ein Zählen von so und soviel Personen – wissen wir ja schon vorher, wie viel es sind. All das statt einer nötigen Erörterung, weil wir das "Gemeinwohl" noch nicht kennen, es weiß ja keiner, was das ist, in diesem und in jenem und im nächsten Fall.
Wenn auch von Hentigs alter ego Rousseau keine Handlungsanweisungen gibt, so findet der Pädagoge zumindest die einleuchtend prägnante Formulierung, dass ein Gedankenexperiment, dass die Aufmerksamkeit des tätigen Staatsbürgers der "Erkennbarkeit des Gedachten" gelten muss. Das klingt doch schon viel besser als jene "Kommunizierbarkeit" oder "Transparenz", die uns allerorten um die Ohren geschlagen wird. Und im Gegensatz zu Berufspolitikern, die immer mehr auf massenmediale Propaganda vertrauen, sieht der emeritierte Pädagogikprofessor die Schwächen der institutionalisierten Demokratie, des allzu großen Staatswesens.
Die große Polis, da wird das schon ganz und gar unüberschaubar. Ich weiß, was ich da für eine Forderung stelle. Aber wir haben ja gerade eben wieder gesehen, dass eine Regierung von Maßnahme zu Maßnahme hupft, eine durch die andere stützt, deshalb Vertrauen verliert, weil es das Grundkonzept nicht gibt. Das gründlichere Nachdenken vergeht uns in unseren Parlamentsgebaren und -zyklen.
Der Ausblick ist – mit den Augen Jean Jaques Rousseaus – nicht allzu rosig. Beinah scheint es, als habe sich seit dem 18. Jahrhundert nichts Grundlegendes verändert. Was aber nur für die anhaltende, geradezu brennende Aktualität dieses "Alten vom Berge" spricht:
Nur kleine Gemeinwesen können wirklich demokratisch sein. Große Gebilde wie Frankreich bedürfen der Monarchie – die dann andere Kontrollmechanismen haben muss. Aber die Willensbildung der vielen Einzelnen wird gegen die Staatskamarilla nicht ankommen.
Jochen Stöckmann war das über Hartmut von Hentigs: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit, erschienen im Verlag C.H. Beck. Es hat 126 Seiten und kostet 14.90 €.