Dirk Müller: Haben wir wirklich eine spätrömische Dekadenz hierzulande? Das hat jedenfalls Guido Westerwelle behauptet und gesagt und dementsprechend sind die Reaktionen ausgefallen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen hat eine neue Debatte ausgelöst, aber eines ist auf jeden Fall klar: Die Regierung, die Bundesregierung muss nun handeln, und sie hat es in einem ersten Schritt auch getan und einen Härtefallkatalog aufgelegt. Es gibt Kritik auf breiter Front und mein Kollege Jasper Barenberg hatte gestern Abend im Deutschlandfunk Gelegenheit, mit Tilo Gräser zu sprechen. Er ist Sprecher der Volkssolidarität. Seine erste Frage: Teilen Sie diese Kritik?
Tilo Gräser: Ja. Leider müssen wir auch feststellen, dass der Härtefallkatalog, der nun bekannt geworden ist, zu kurz greift, dass er nicht den Bedarfen der Betroffenen gerecht wird, dass er nicht den Anforderungen, die eigentlich stehen nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, gerecht wird.
Jasper Barenberg: Woran machen Sie das vor allem fest?
Gräser: Weil die Leistungen, die in diesem Katalog, in dem bekannten Katalog beschrieben werden, nicht ausreichen, um den Bedarf, der entsteht für Betroffene, zu decken. Einzelbedarfe sind nicht richtig berücksichtigt. Das ist gerade ein Problem für Leute, die ALG II nur bekommen oder Grundsicherung, dass solche Situationen nicht vorhersehbar sind, durch einmal Wechselfälle des Lebens, das gilt für die Gesundheit, oder wenn die Waschmaschine kaputt geht, oder in der Wohnung, was gemacht werden muss. So was ist nicht vorhersehbar und da müssten Einmalzahlungen wieder eingerichtet werden in dem Leistungskatalog, so wie es bis 2004 bei der Sozialhilfe üblich war.
Wir stimmen auch mit dem VDK zum Beispiel überein, dass Fragen des Gesundheitswesens, diese Bedürfnisse auch besser berücksichtigt werden müssen. Es kann nicht sein, dass die anstehenden Zusatzbeiträge nicht dazugehören, dass Zahlungen für Brillen nicht dazugehören, für orthopädisches Schuhwerk, und ganz wichtig ist auch der Kinder- und Jugendbereich, dass hier zu enge Leistungsvorgaben gegeben werden für Unterstützung von bedürftigen Kindern und Jugendlichen. Wenn immer davon geredet wird, dass Bildung ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Armut ist, muss hier auch beim Leistungskatalog in Hartz IV mehr getan werden.
Barenberg: Nun sagt die Regierung, es handele sich noch um keine abschließende Regelung. Ist das für Sie ein Zeichen der Hoffnung?
Gräser: Das kann natürlich positiv gedeutet werden, dass die Chance besteht, dass der Katalog erweitert wird, dass er dem realen Bedarf der Betroffenen besser angepasst wird. Davon gehen wir aus beziehungsweise das hoffen wir.
Barenberg: Nun soll ja in jedem Fall der einzelne Fall geprüft werden in den Jobcentern bei den Mitarbeitern dort. Heißt das, in der Praxis wird es eine Veränderung dahin gehend geben, dass doch mehr Menschen in den Genuss weiterer Hilfen kommen werden?
Gräser: Ich sage mal, auch hier gilt das Prinzip der Hoffnung. Es ist ja wohl so, dass der Katalog nur ein Vorschlag ist, wie das gehandhabt werden kann. Bisher ist ja bekannt, dass in den Jobcentern nicht nur gefördert wird, sondern eben auch viel gespart wird, und es besteht angesichts der bisherigen Praxis die Gefahr, wenn das kein bindender Leistungskatalog ist, sondern das im Ermessungsspielraum des jeweiligen Jobcenters liegt, dass es öfters dazu kommt, dass die Leistungen wieder nicht gewährt werden, weil eben der Spardruck, der auch auf der Bundesagentur für Arbeit und bei den Jobcentern angelegt wird, dass dementsprechend bestimmte Leistungen dann doch nicht gewährt werden für die Betroffenen.
Barenberg: Welches politische Kalkül, welche politische Stoßrichtung sehen Sie denn hinter dieser Liste, hinter dieser Regelung, die jetzt verabschiedet wurde?
Gräser: Ich denke, das ist ein Schnellschuss der Politik, um den Erwartungen, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entstanden sind, um diesem Druck entgegenzukommen, um diesen Druck abzumildern und ein Zeichen zu setzen, dass man etwas tut. Aber wie gesagt, es wird nicht genügend getan. Das reicht nicht aus, um die Situation wirklich für die Betroffenen zu klären, und es reicht eben auch in dem Sinne nicht aus, dass die Hartz-IV-Leistungen generell zu niedrig sind, was die Volkssolidarität und andere Verbände ja immer wieder kritisieren schon seit langer Zeit. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sagt, der Regelsatz muss für Erwachsene auf mindestens 440 Euro angehoben werden, für Kinder muss er auch entsprechend um mindestens 20 Prozent angehoben werden, um dem Bedarf für ein eigenständiges und würdiges Leben der Betroffenen gerecht werden zu können.
Barenberg: In diese Richtung, Herr Gräser, weist ja auch die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die eine wachsende Armut in Deutschland dokumentiert. Wie groß ist die Verantwortung, die die Bundesregierung, die jetzige, wie die alte Bundesregierung für diese Zustände trägt?
Gräser: Die steigende Zahl der Armen ist aus unserer Sicht ein Beweis für das erschreckende Versagen der Regierungspolitik in den letzten zehn Jahren. Es heißt ja, dass die Armut, die Zahl der Armen um ein Drittel zugenommen hat in den letzten zehn Jahren. Das ist ganz einfach ein Armutszeichen, ein Armutszeugnis für die Politik der Regierungen der letzten zehn Jahre.
Barenberg: Nun gibt die Bundesregierung heute schon 45 Prozent ihres Geldes aus für den Sozialetat. Wie viel mehr können wir denn noch leisten, wenn Sie sagen, die Regelsätze müssten generell angehoben werden?
Gräser: Es gibt ja eine Diskussion darum, ist der Anteil der Sozialleistungen in Deutschland zu hoch. Wenn man nach Europa schaut, liegt Deutschland, liegt die Bundesrepublik damit ja im Mittelfeld. Also es ist nicht zu hoch, was für Sozialleistungen ausgegeben wird. Man muss sehen, dass der Sozialetat auch Renten beinhaltet, viele gesetzliche Leistungen, die den Betroffenen beziehungsweise den Beziehern der Leistungen zustehen. Dazu zählt auch der Bereich der Krankenversicherung und, und, und. Also es geht nicht nur darum, Hartz IV zu erhöhen, oder dass jetzt durch die mögliche Erhöhung, durch die geforderte Erhöhung von Hartz IV der Sozialetat ins Unermessliche ausgedehnt wird. Das ist nicht der Fall.
Müller: Bei uns im Deutschlandfunk Tilo Gräser, Sprecher der Volkssolidarität, im Gespräch mit meinem Kollegen Jasper Barenberg.
Tilo Gräser: Ja. Leider müssen wir auch feststellen, dass der Härtefallkatalog, der nun bekannt geworden ist, zu kurz greift, dass er nicht den Bedarfen der Betroffenen gerecht wird, dass er nicht den Anforderungen, die eigentlich stehen nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, gerecht wird.
Jasper Barenberg: Woran machen Sie das vor allem fest?
Gräser: Weil die Leistungen, die in diesem Katalog, in dem bekannten Katalog beschrieben werden, nicht ausreichen, um den Bedarf, der entsteht für Betroffene, zu decken. Einzelbedarfe sind nicht richtig berücksichtigt. Das ist gerade ein Problem für Leute, die ALG II nur bekommen oder Grundsicherung, dass solche Situationen nicht vorhersehbar sind, durch einmal Wechselfälle des Lebens, das gilt für die Gesundheit, oder wenn die Waschmaschine kaputt geht, oder in der Wohnung, was gemacht werden muss. So was ist nicht vorhersehbar und da müssten Einmalzahlungen wieder eingerichtet werden in dem Leistungskatalog, so wie es bis 2004 bei der Sozialhilfe üblich war.
Wir stimmen auch mit dem VDK zum Beispiel überein, dass Fragen des Gesundheitswesens, diese Bedürfnisse auch besser berücksichtigt werden müssen. Es kann nicht sein, dass die anstehenden Zusatzbeiträge nicht dazugehören, dass Zahlungen für Brillen nicht dazugehören, für orthopädisches Schuhwerk, und ganz wichtig ist auch der Kinder- und Jugendbereich, dass hier zu enge Leistungsvorgaben gegeben werden für Unterstützung von bedürftigen Kindern und Jugendlichen. Wenn immer davon geredet wird, dass Bildung ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Armut ist, muss hier auch beim Leistungskatalog in Hartz IV mehr getan werden.
Barenberg: Nun sagt die Regierung, es handele sich noch um keine abschließende Regelung. Ist das für Sie ein Zeichen der Hoffnung?
Gräser: Das kann natürlich positiv gedeutet werden, dass die Chance besteht, dass der Katalog erweitert wird, dass er dem realen Bedarf der Betroffenen besser angepasst wird. Davon gehen wir aus beziehungsweise das hoffen wir.
Barenberg: Nun soll ja in jedem Fall der einzelne Fall geprüft werden in den Jobcentern bei den Mitarbeitern dort. Heißt das, in der Praxis wird es eine Veränderung dahin gehend geben, dass doch mehr Menschen in den Genuss weiterer Hilfen kommen werden?
Gräser: Ich sage mal, auch hier gilt das Prinzip der Hoffnung. Es ist ja wohl so, dass der Katalog nur ein Vorschlag ist, wie das gehandhabt werden kann. Bisher ist ja bekannt, dass in den Jobcentern nicht nur gefördert wird, sondern eben auch viel gespart wird, und es besteht angesichts der bisherigen Praxis die Gefahr, wenn das kein bindender Leistungskatalog ist, sondern das im Ermessungsspielraum des jeweiligen Jobcenters liegt, dass es öfters dazu kommt, dass die Leistungen wieder nicht gewährt werden, weil eben der Spardruck, der auch auf der Bundesagentur für Arbeit und bei den Jobcentern angelegt wird, dass dementsprechend bestimmte Leistungen dann doch nicht gewährt werden für die Betroffenen.
Barenberg: Welches politische Kalkül, welche politische Stoßrichtung sehen Sie denn hinter dieser Liste, hinter dieser Regelung, die jetzt verabschiedet wurde?
Gräser: Ich denke, das ist ein Schnellschuss der Politik, um den Erwartungen, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entstanden sind, um diesem Druck entgegenzukommen, um diesen Druck abzumildern und ein Zeichen zu setzen, dass man etwas tut. Aber wie gesagt, es wird nicht genügend getan. Das reicht nicht aus, um die Situation wirklich für die Betroffenen zu klären, und es reicht eben auch in dem Sinne nicht aus, dass die Hartz-IV-Leistungen generell zu niedrig sind, was die Volkssolidarität und andere Verbände ja immer wieder kritisieren schon seit langer Zeit. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sagt, der Regelsatz muss für Erwachsene auf mindestens 440 Euro angehoben werden, für Kinder muss er auch entsprechend um mindestens 20 Prozent angehoben werden, um dem Bedarf für ein eigenständiges und würdiges Leben der Betroffenen gerecht werden zu können.
Barenberg: In diese Richtung, Herr Gräser, weist ja auch die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die eine wachsende Armut in Deutschland dokumentiert. Wie groß ist die Verantwortung, die die Bundesregierung, die jetzige, wie die alte Bundesregierung für diese Zustände trägt?
Gräser: Die steigende Zahl der Armen ist aus unserer Sicht ein Beweis für das erschreckende Versagen der Regierungspolitik in den letzten zehn Jahren. Es heißt ja, dass die Armut, die Zahl der Armen um ein Drittel zugenommen hat in den letzten zehn Jahren. Das ist ganz einfach ein Armutszeichen, ein Armutszeugnis für die Politik der Regierungen der letzten zehn Jahre.
Barenberg: Nun gibt die Bundesregierung heute schon 45 Prozent ihres Geldes aus für den Sozialetat. Wie viel mehr können wir denn noch leisten, wenn Sie sagen, die Regelsätze müssten generell angehoben werden?
Gräser: Es gibt ja eine Diskussion darum, ist der Anteil der Sozialleistungen in Deutschland zu hoch. Wenn man nach Europa schaut, liegt Deutschland, liegt die Bundesrepublik damit ja im Mittelfeld. Also es ist nicht zu hoch, was für Sozialleistungen ausgegeben wird. Man muss sehen, dass der Sozialetat auch Renten beinhaltet, viele gesetzliche Leistungen, die den Betroffenen beziehungsweise den Beziehern der Leistungen zustehen. Dazu zählt auch der Bereich der Krankenversicherung und, und, und. Also es geht nicht nur darum, Hartz IV zu erhöhen, oder dass jetzt durch die mögliche Erhöhung, durch die geforderte Erhöhung von Hartz IV der Sozialetat ins Unermessliche ausgedehnt wird. Das ist nicht der Fall.
Müller: Bei uns im Deutschlandfunk Tilo Gräser, Sprecher der Volkssolidarität, im Gespräch mit meinem Kollegen Jasper Barenberg.