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Hartz-IV-Klagenflut am Sozialgericht in Berlin

Das größte Sozialgericht in Deutschland hat seinen Sitz in Berlin. Mehrere 10.000 Klagen gehen hier jährlich ein. Größtenteils dreht es sich bei den Klagen um Hartz-IV-Bezüge. Das Sozialgericht hat seine Jahresbilanz für 2011 gezogen.

Von Thorsten Jabs |
    Statt Berge abzutragen werden Berge angehäuft: 2011 gab es am Sozialgericht Berlin so viele offene Verfahren wie nie zuvor. 40.000 Aktenordner, die von den Geschäftsstellen eingeräumt, vorgelegt und weggeräumt werden müssten, erklärt Gerichtspräsidentin Sabine Schudoma:

    "40.000 Fälle, in denen Menschen auf eine Entscheidung warten. Berge sind in Berlin in der Regel harmlose Hügel. Der Aktenberg am Sozialgericht: Das ist der Harzer Brocken."

    Das Gericht müsste ein Jahr schließen, um diesen Berg abzuarbeiten, sagt Sabine Schudoma. Dabei hätten die Klagen das größte deutsche Sozialgericht im 12-Minuten-Takt erreicht. 43.832 waren es insgesamt – fast so viele wie im Rekordjahr 2010. Klagen zur Unfall- oder zur Krankenversicherung, bei der die Versicherten nicht ausreichend über ihr Sonderkündigungsrecht informiert worden seien, Klagen zum Schwerbehindertenrecht, die um mehr als 50 Prozent gestiegen seien, aber vor allem die Hartz-IV-Klagenflut treffe das Sozialgericht mit voller Wucht:

    "Kein Kläger bläst zum Sturm auf unser Sozialsystem. Kaum einer prozessiert aus Prinzip. Es sind auch nicht die Themen der Politiker, die die Hartz-IV-Kläger umtreiben. Nein, die Menschen, die das Sozialgericht anrufen, haben konkrete Anliegen aus ihrem Alltag."

    70 Prozent der eingehenden Klagen beträfen Hartz-IV, so Sabine Schudoma. Noch in diesem Monat erwartet sie die 150.000 Klage in sieben Jahren. Sie spricht von einer ernüchternden Bilanz. Die vier größten Anliegen des Berliner Arbeitslosen-Alltags sind nach ihren Angaben: Wird die Wohnung bezahlt, werden Einkommen auf die Leistungen angerechnet, wird das Geld wegen Sanktionen gekürzt und inwieweit werden gesetzliche Bearbeitungsfristen durch die Jobcenter verletzt. Dass die Probleme seit Jahren dieselben seien, habe vor allem einen Grund: Verbesserungsvorschläge versandeten in der Politik. Ein wesentlicher Schlüssel zur Entlastung der Sozialgerichte läge bei den Jobcentern. Vor allem durch die neue Rechtslage seien die Hartz-IV-Bescheide nach oben geschnellt, erklärt Sabine Schudoma. Das Problem sei jedoch, dass die Jobcenter mit ihrer Arbeit nicht hinterher kämen:

    "Bürger, oftmals vertreten durch Rechtsanwälte, wenden sich an das Gericht, will die Jobcenter zwingende Bearbeitungsfristen nicht beachten. Statt Rechtsfragen zu lösen, wird das Gericht zum Mahnbüro. Die Überforderung der Jobcenter führt zur Überlastung der Gerichte. Die Zeche zahlt der Steuerbürger. Und das ärgert mich."

    Mehr als die Hälfte der Hartz-IV-Klagen seien 2011 zumindest teilweise berechtigt gewesen. Um die Lage zu verbessern fordert Sabine Schudoma: Betroffene und Behörden sollten vor einem Widerspruchsverfahren ein klärendes Gespräch führen. Außerdem regt sie an, die Gerichtsgebühren für Jobcenter, die 2006 abgeschafft wurden, wieder einzuführen. Dies sei ein starkes Argument, um sich außergerichtlich zu einigen. Schon jetzt heiße das Erfolgsmodell: Schlichten statt richten, weil sich vier von fünf Fällen ohne Richterspruch erledigten. Dafür stehe auch die im vergangenen Jahr eingeführte Mediation, die in ausgewählten Verfahren eingesetzt werde.