"Hier haben Sie dann die Sachen alle schön, Männer, Frauen, Schuhe. Da haben Sie Geschirr noch…"
Heidemarie Cellyk verbringt ihre Tage in einer Art Kaufhaus. Der "Sozialfundus" in Neustrelitz in Mecklenburg bietet gebrauchte Möbel oder Kleidungsstücke an. Die 61-Jährige kümmert sich darum, dass Hemden oder Hosen einigermaßen in Schuss sind, bevor sie zum Verkauf angeboten werden. Der Job beim Sozialfundus wird von der Arbeitsagentur gefördert. Denn Heidemarie Cellyk lebt von Hartz IV. Das letzte Mal einen regulären Arbeitsvertrag hatte sie vor 22 Jahren - als Verkäuferin.
"Da bin ich aus dem Babyjahr gekommen, und dann war der Konsum in Konkurs, und damit meine Arbeit weg. Und so lange bin ich auch arbeitslos."
Am kommenden Dienstag veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit die aktuellen Arbeitsmarktdaten. Eine Zahl bleibt dabei lange schon stabil: Rund sechs Millionen Menschen in Deutschland leben von der sogenannten Grundsicherung, die in der Alltagssprache als "Hartz IV" bekannt ist. Etwa eineinhalb Millionen davon sind Kinder, und von den erwachsenen Hartz-IV-Beziehern sind viele nur vorübergehend auf die staatliche Hilfe angewiesen. Rund zwei Millionen Männer und Frauen aber leben dauerhaft von der staatlichen Unterstützung. Auch diese Zahl hat sich in letzter Zeit kaum verändert. Sie zu senken, hat sich der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, für dieses Jahr als eine Hauptaufgabe vorgenommen:
"Dass Menschen, die wenig Qualifikation haben und länger arbeitslos sind, in den Schwerpunkt, in den Blick kommen."
2014 soll also nach dem Willen der Bundesagentur zu einem Jahr der Langzeitarbeitslosen werden. Jüngere Erwerbslose sollen besser in Jobs oder auf Ausbildungsplätze gebracht werden. Die Agenturmitarbeiter sollen sich aber auch um ältere Langzeitarbeitslose intensiv kümmern. Zu ihnen gehört der 59-jährige Dietmar Stupe aus Freising bei München. Seit drei Jahren gibt er auf die Frage nach seinem Beruf die gleiche Antwort.
"Arbeitslos. Man gewöhnt sich mit der Zeit auch daran, dass man das ohne Scheu sagt, also bei mir ist es zumindest so."
Positive Statistiken, negative Erfahrungen in der Realität
Es ist gut zehn Jahre her, dass die Gesetze, die den Arbeitsmarkt in Deutschland regeln, grundlegend umgebaut wurden. Die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder hat dabei die Regeln für Leiharbeit deutlich gelockert. Auch die Möglichkeit für Arbeitgeber, Jobs zu befristen, wurde um einiges vereinfacht. Die Arbeitsverwaltung sollte sich von einer Behörde zu einem Dienstleister wandeln. Und vor allem wurden die Sozialleistungen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengelegt zum Arbeitslosengeld II, besser bekannt unter dem Namen Hartz IV. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, kurz IAB, erforscht im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit, wie sich die Beschäftigung in Deutschland entwickelt. Für den Vize-Direktor des IAB, Ulrich Walwei, ist die Bilanz zehn Jahre nach den Hartz-Reformen eindeutig:
"Wir haben einen Rekordstand bei der Erwerbstätigkeit, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat sich erholt und wir haben einen Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 2005 um 40 Prozent, und dazu haben die Reformen wesentlich beigetragen."
Zuletzt hatten gut 29 Millionen Menschen in Deutschland einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz - das sind rund drei Millionen mehr als im Jahr 2005. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ist im gleichen Zeitraum von fast fünf Millionen auf rund drei Millionen gesunken. Dennoch gibt es auch Wissenschaftler, die nicht ohne Weiteres eine positive Bilanz der Hartz-Reformen ziehen wollen. Professor Klaus Dörre von der Uni Jena hat mit einem Forscherteam das Thema "Hartz IV" nicht aus dem Blickwinkel der Statistik betrachtet - sondern aus einer soziologischen Perspektive.
"Wir wollten schauen, was sagen eigentlich diejenigen, die in der Praxis die Reformen umsetzen müssen, und die in der Praxis von ihnen betroffen sind, wie nehmen die das eigentlich war, wie gehen sie damit um?"
Über sieben Jahre hinweg haben die Soziologen der Uni Jena Gespräche mit knapp hundert Männern und Frauen geführt, die von Hartz IV leben, sowie mit rund 30 Fachleuten aus der Arbeitsverwaltung. Bei den Langzeitarbeitslosen ließen sich drei verschiedene Grund-Typologien herausarbeiten, haben die Soziologen aus Jena festgestellt - und zwar je nach der Einstellung zum Thema Arbeit. Eine dieser drei Typologien nennt Klaus Dörre die "Nicht-Arbeiter". Das sind Menschen, die sich im Bezug von Hartz IV auf Dauer einrichten - aber auch diese Gruppe ist in sich vielschichtig.
"Sie reicht vom Punk in der Jugendszene, der aus der objektiven Chancenlosigkeit, einen guten Job zu bekommen, subjektiv eine Tugend formt, nach dem Motto: Ich finde keine Arbeit - aus "ich kann nicht arbeiten", wird "ich will nicht arbeiten". Und sie reicht tatsächlich bis zu Einzelfällen, wo sich Familien besserstellen, wenn sie Hartz-IV-Leistungen beziehen, als einer Situation, wo man ohnehin nur eine prekäre, schlecht entlohnte, sehr belastende Jobs bekommen würde und das Entgelt möglicherweise noch unter den Hartz-IV-Sätzen wäre."
Gesellschaftliche Norm stark verinnerlicht
Weit häufiger anzutreffen sei aber eine ziemlich genau entgegengesetzte Typologie, sagt Klaus Dörre: Menschen, die er und sein Team als "Um-Jeden-Preis-Arbeiter" bezeichnen: Arbeitslose, die nicht nur jeden Job annehmen, der sich ihnen bietet, sondern die auch immer wieder - manchmal geradezu verzweifelt - versuchen, sich selbstständig zu machen, etwa in der Gastronomie oder im Dienstleistungsbereich. Als dritte und besonders große Gruppe haben die Forscher der Uni Jena eine Typologie beschrieben, die sie "Als-Ob-Arbeiter" nennen:
"Diese Gruppe hat objektiv keine Chance mehr, in eine reguläre Erwerbsarbeit am ersten Arbeitsmarkt hineinzukommen. Das heißt aber nicht, dass sie passiv sind, ganz im Gegenteil. Wir stellen fest, dass sie den Ein-Euro-Job, die Maßnahme, den Gelegenheitsjob, den Aushilfsjob oder auch das unbezahlte bürgerschaftliche Engagement so ausüben, als handele es sich um eine reguläre Erwerbsarbeit."
"Nicht- Arbeiter", "Um jeden Preis Arbeiter" oder "Als ob Arbeiter": Allen drei Gruppen sei dabei eines gemeinsam, heißt es von den Soziologen der Uni Jena: Die gesellschaftliche Norm, dass man arbeiten muss, sei bei den Menschen sehr stark verinnerlicht. Bei der Einführung der Hartz-Gesetze vor gut zehn Jahren habe allerdings bei vielen politisch Verantwortlichen und auch bei vielen Wirtschaftswissenschaftlern ein ganz anderes Menschenbild vorgeherrscht, meint Klaus Dörre.
"Ein bisschen stand und steht immer noch das Bild dahinter, dass es so was gibt wie die passiven Arbeitslosen, die es sich in der Hängematte des Wohlfahrtsstaates bequem machen und die deshalb ein bisschen Druck brauchen, die ein bisschen ins Laufen gebracht werden müssen, damit sie sich adäquat um Stellen bemühen."
Dabei denkt der Soziologe Dörre an Ökonomen wie Hans-Werner Sinn. Der Leiter des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung hatte damals die Hartz-Gesetze als Berater begleitet. Wenn Sinn hört, was Klaus Dörre von der Uni Jena als soziologisches Forschungsergebnis vorträgt, schüttelt er allerdings den Kopf.
"Ich glaube, er hat das Argument nicht verstanden. Das Argument ist genau andersherum: Jeder will arbeiten, es gibt aber nicht genug Arbeit. Und warum gibt es nicht genug Arbeit? Weil der Lohn zu hoch ist."
Hartz IV: Kollektive gesellschaftliche Abwertung
Der Ifo-Chef betont: Bei den Hartz-Gesetzen sei es nicht darum gegangen, vermeintlich faule Menschen anzutreiben. Er räumt aber ein: Es ging durchaus darum, dafür zu sorgen, dass Arbeitslose auch schlechter bezahlte Stellen annehmen - bei denen sie dann gegebenenfalls einen Zuschuss von der Arbeitsagentur bekommen.
"Kein Arbeitgeber ist ein Altruist und stellt Leute ein, wenn er dabei Verluste macht. Das heißt, die Leute, die er anstellt, die müssen für ihn Produkte mit erzeugen, die er dann verkaufen kann, und das bestimmt den möglichen Lohn, den er maximal zahlen kann. Ist der Lohn höher, dann verzichtet er auf diese Produktion, er würde ja auch pleite gehen, wenn er es versuchen würde, und die Jobs gibt es gar nicht erst. Also das ist das Problem, nicht die Faulheit der Menschen."
Anders als der Soziologe Klaus Dörre zieht der Volkswirtschafts-Professor Sinn eine rundum positive Bilanz der Hartz-Reformen. Die Arbeitsmarkt-Statistik spreche doch eine klare Sprache, sagt er:
"Dass wir 2,2 Millionen Arbeitslose weniger haben, und dadurch die Menschen haben inkludieren können in die Arbeitswelt, also das Außenseiterdasein beseitigt haben."
Was ein Außenseiter ist - das ist nach Ansicht von Klaus Dörre von der Uni Jena aber nicht nur eine Frage, die sich danach entscheidet, in welcher Spalte der Arbeitsmarktstatistik jemand aufgelistet wird. Dörre kommt nach der Befragung von Arbeitslosengeld-II-Beziehern und Mitarbeitern der Arbeitsverwaltung über sieben Jahre hinweg zu einem klaren Ergebnis: Die Hartz-Gesetze haben den Begriff "Außenseiter" neu definiert. Arbeitslosigkeit gilt inzwischen nicht mehr als ein Schicksal, das Menschen erleiden, weil ihre Firma pleite macht oder weil ihr Arbeitgeber im Zuge einer Wirtschaftskrise Stellen streicht, beobachtet er. Vielmehr - da ist der Soziologe überzeugt - haben die Hartz-Gesetze die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit den einzelnen Menschen zugeschoben.
"Die den Sprung schaffen, kreieren die Verhaltensnormen für diejenigen, die es nicht schaffen, und die damit ständig unter einem Vorbehalt stehen. Und auf diese Weise werden aus Arbeitslosen eben schlechte Arbeitslose, nämlich solche, die lange im Leistungsbezug verbleiben. Das heißt, der Status Hartz-IV-Bezug unterliegt einer kollektiven gesellschaftlichen Abwertung und wird stigmatisiert."
Soziologen sprechen von einem Stigma, wenn einer Personengruppe von anderen Gruppen negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Hartz-IV-Bezieher brauchen aber keine soziologischen Fachbegriffe, um zu beschreiben, worum es dabei geht.
"Als Hartz-IV-ler, du kommst nicht hoch, du hast die Chance nicht dazu, die geben dir die Chance nicht."
"Also ich bin vorher schon ein so tiefes Loch gefallen, dass ich auch nicht rausgehen wollte, immer mit dieser Angst mir steht es auf der Stirn geschrieben, ich bin arbeitslos. Mensch dritter Klasse, ganz einfach."
Tiefer Eingriff ins Privatleben
Neu ist es natürlich nicht, dass es vielen Arbeitslosen peinlich ist, keinen Job zu haben und von staatlicher Unterstützung zu leben, stellt der Soziologe Klaus Dörre fest. Seiner Ansicht nach haben die Hartz-Gesetze aber den Blick der Gesellschaft auf die Gruppe der Menschen ohne Arbeit verändert. Dörre ist sicher: In den 1970er- oder 80er-Jahren galt in der Arbeits-Gesetzgebung noch die Grundidee, wer in die Arbeitslosenversicherung einzahlt, erwirbt damit das Recht, auch Leistungen in Anspruch zu nehmen, wenn er seinen Job verliert. Das hat sich nach Einschätzung der Soziologen von der Uni Jena mit den Hartz-Reformen geändert. Denn seit den Gesetzesänderungen nehme der Staat das Recht für sich in Anspruch, nicht nur den Arbeitswillen der Menschen zu untersuchen - sondern weite Teile ihres Lebens.
"Das, was tatsächlich neu ist, ist, dass ganz tief in das Privatleben, in das Privateste der Leistungsbezieherinnen und Leistungsbezieher eingegriffen wird. Sie müssen zum Beispiel ihre Vermögensverhältnisse transparent machen und offen legen."
Dabei sehen sich viele Hartz-IV-Bezieher einem Widerspruch ausgesetzt, beobachtet der Soziologe Dörre. Offiziell werden sie bei den Arbeitsagenturen als Kunden bezeichnet, die nicht nur gefordert, sondern auch gefördert werden sollen. Doch die Sachbearbeiter werden von den Arbeitslosen oft nicht als Partner empfunden, die ihnen als Dienstleister dabei helfen, eine für sie passende Stelle zu finden. Das, was die Soziologen der Uni Jena abstrakt in Worte fassen, beschreiben Hartz-IV-Empfänger aus Bayern und Mecklenburg so:
"Man muss teilweise acht, neun, zehn Bewerbungen machen, aber das schafft man halt nicht jeden Monat. Wenn man es nicht schafft, und gibt nur vier oder fünf ab, kann es passieren, dass man Sanktionen kriegt. Und dann muss man sehen, wie man über die Runden kommt, wird das Geld gekürzt."
"Ich bin immer mit Angst hingegangen, das geh ich heute noch."
Viele Hartz-IV-Bezieher fühlen sich unverschuldet in einer Lage, in der sie die gesellschaftliche Norm nicht mehr erfüllen können, dass man arbeiten sollte; gleichzeitig haben sie das Gefühl, dass ihnen die Schuld an dieser Lage gegeben wird - das sind einige der Ergebnisse der auf sieben Jahre angelegten Studie des soziologischen Instituts der Uni Jena. In der Summe, so meint der Studienleiter Klaus Dörre, könne kein Zweifel daran bestehen: Hartz IV wird als Stigma empfunden.
"Wir haben das in der Studie provokativ so beschrieben, dass Hartz IV im Grunde zu vergleichen ist etwa mit der dunklen Hautfarbe in den Südstaaten der USA, also mit rassistischen Diskriminierungen, nur mit dem Unterschied, dass man seine Haut nicht loswird, während man aus dem Hartz-IV-Status rauskommen kann."
Ausgrenzung oder Inklusion?
Der Jenaer Soziologie-Professor Klaus Dörre stößt auch mit dieser Aussage auf entschiedenen Widerspruch des Münchner Volkswirtschafts-Professors Hans-Werner Sinn. Die Hartz-IV-Bezieher als ausgegrenzte Gruppe - darüber schüttelt der Ifo-Präsident nur den Kopf.
"Die Behauptung, hier sei eine Art Prekariat geschaffen worden durch die Hartz IV Gesetzgebung, ist einfach dummes Zeug, das an der Realität total vorbeigeht. Denn die Menschen, die jetzt hier Jobs bekommen, die hätten ja sonst gar keine Jobs gehabt."
Und diese Menschen, die seiner Ansicht nach nur durch die Hartz-Gesetze eine Stelle gefunden haben, seien nicht ausgegrenzt worden - im Gegenteil: Sie wurden wieder von der Arbeitsgesellschaft aufgenommen.
"Da reden wir über 2,2 Millionen extra Jobs, die dadurch entstanden sind. Dass das nicht so tolle Jobs sind, keine Dauer-Jobs mit einer vollen Arbeitsstelle, das ist klar, das wäre ja noch schöner gewesen. Aber sie müssen es vergleichen, mit dem was war."
Der Chef des Münchner Ifo-Instituts sieht keine Anzeichen dafür, dass die Hartz-Gesetze den sozialen Abstand zwischen Menschen mit viel Vermögen und Menschen mit nur sehr wenig Geld vergrößern. Zu einem anderen Ergebnis kommen bei dieser Frage allerdings Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. In einer Studie über die Verteilung des Wohlstands in Deutschland stellt das DIW fest: Im Jahr 2002 verfügten Arbeitslose im Schnitt noch über ein Vermögen von mehr als 30.000 Euro. Inzwischen ist dieser Wert deutlich gesunken, um fast die Hälfte, auf rund 18.000 Euro. Der DIW-Forscher Markus Grabka hat dafür eine Erklärung:
"Innerhalb der Gruppe der Arbeitslosen haben wir wesentlich mehr Langzeitarbeitslose. Und diese sind natürlich von der Hartz-IV-Gesetzgebung betroffen. Das heißt, sie müssen, bevor sie staatliche Transferleistungen in Anspruch nehmen, erst mal privates Vermögen aufbrauchen."
Beschäftigungswunder oder Schaffung eines prekären Arbeitsmarktes?
Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen geben also völlig unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob die Hartz-Gesetze Ausgrenzung und Stigmatisierung mit sich gebracht haben. Diese Unterschiede könnte man damit erklären, dass Soziologen und Ökonomen den gleichen Sachverhalt aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Allerdings kommen sie auch zu unterschiedlichen Einschätzungen, wenn es um nackte Zahlen geht. Der Soziologe Klaus Dörre beschäftigt sich nicht nur mit gesellschaftlichen Phänomenen, er findet auch Arbeitsmarkt-Statistiken erhellend. Wenn er sich die genauer anschaut, kommt er zu folgendem Schluss:
"Das sogenannte deutsche Beschäftigungswunder ist in Wirklichkeit gar kein so großes Wunder, wenn man genauer hinschaut, sondern es verdankt sich in erster Linie einem rasanten Anwachsen von unsicheren, wenig anerkannten, instabilen und auch gering entlohnten Jobs."
So zeigen Auswertungen des Instituts Arbeitsmarkt und Berufsforschung, dass die Zahl der Arbeitsstunden, die in Deutschland geleistet werden, keineswegs so schnell gestiegen ist, wie die Zahl der Arbeitslosen schrumpfte. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ist seit dem Jahr 2005 deutlich gesunken, um etwa 40 Prozent. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist aber im Gegenzug bei Weitem nicht so schnell gestiegen, sie legte nur um fünf Prozent zu. Ein Grund dafür liegt darin, dass immer mehr Beschäftigte in Teilzeit arbeiten oder einen Mini-Job haben. Die Arbeit wird also vor allem auf mehr Schultern verteilt. Die Zahl der Menschen mit einer sogenannten atypischen Beschäftigung - wie etwa befristeten Stellen, Teilzeitarbeitsplätzen oder Minijobs - ist seit dem Jahr 2000 um über ein Viertel angewachsen. Der Vize-Direktor des IAB, Ulrich Walwei, kennt diese Zahlen. Sie sind in seinen Augen aber kein Argument gegen den Erfolg der Hartz-Reformen. Der Anstieg der atypischen Beschäftigung sei schon vor den Hartz-Gesetzen zu beobachten gewesen, sagt Walwei.
"Man kann auf jeden Fall sagen, dass sich der Trend fortgesetzt hat in Richtung flexiblere Beschäftigung. Aber man kann nicht sagen, dass sozusagen dieser Trend herbeigeführt worden wäre durch die Reformen. Und ich kann nur sagen, dass wir diesen Trend auch schon in der Vergangenheit hatten. Und auch der schon relativ stark war."
Und der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, kann kein Problem darin erkennen, wenn Millionen von Menschen mal befristet arbeiten, mal in Teilzeit, mal auf Mini-Jobs, mal in der Zeitarbeit.
"Der Weg in den ersten Arbeitsmarkt ist schwierig, aber es sind eben viele Leute aus der Arbeitslosigkeit wenigstens in den Arbeitsmarkt gekommen, wenn auch nicht in einen Arbeitsmarkt mit einer Dauerbeschäftigung. Einige haben es aber doch geschafft, also der Weg ist nicht verbaut. Denn der Weg in eine dauerhafte Beschäftigung geht eben über irgendeine Beschäftigung."
Raus aus der Statistik, trotzdem noch arbeitslos
Mal drinnen und mal draußen - dieses Gefühl kennen Hunderttausende von Hartz-IV-Beziehern. Der 48-jährige Karl Schimmel und der 59-jährige Dietmar Stupe aus Freising bei München verbringen ihre Zeit momentan mit Ein-Euro-Jobs, die ihnen der katholische Wohlfahrtsverband Caritas vermittelt. Vorher hatten sie immer mal wieder befristete Jobs, für einige Wochen oder Monate. Große Hoffnung auf eine dauerhafte reguläre Stelle hat keiner von beiden mehr. Wenn sie hören, dass Wissenschaftler aus den Fachbereichen Soziologie und Volkswirtschaft die Frage, ob die Hartz-Gesetze ein Erfolg waren, ganz unterschiedlich beurteilen, dann wissen sie sofort, auf wessen Seite sie sich stellen.
"Man kommt in eine Maßnahme irgendwohin, sei es irgendwann oder irgendwas, dann bin ich aus der Statistik draußen, bin aber trotzdem auf Arbeitssuche und immer noch arbeitslos."
"Das ist ja auch Lug und Trug, weil wir bekommen wir auch weiterhin Hartz IV, sind im Prinzip noch arbeitslos gemeldet, aber in der Statistik sind die nicht vorhanden."
Heidemarie Cellyk aus Neustrelitz in Mecklenburg mag das Wort Arbeitsmarktreform gar nicht mehr hören. Nach 22 Jahren ohne festen Job ist sie mit den Nerven am Ende, erzählt sie.
"Dieses Ungewisse alles, auch wenn es wieder daran geht, wie jedes Jahr, kommt was Neues? Was kommt? Wird es besser, wird es schlechter?"
Auf Hilfe aus der Politik oder von der Arbeitsagentur setzt sie dabei nicht mehr. Denn nach über 20 Jahren ohne reguläre Arbeit ist für die 61-Jährige eines jetzt schon sicher: Auch wenn sie in Rente geht, wird sie zusätzlich von Grundsicherung leben müssen - so wie sie heute auf Hartz IV für Arbeitslose angewiesen ist.