Wenn Autoren über ihr Leben schreiben, dann läuft das normalerweise auf eine Bilanz hinaus. Sie rechtfertigen ihr Tun im Rückblick oder beklagen ihr Scheitern. Sie preisen ihre Leistungen oder stilisieren sich sogar zu Helden. Kurzum: Normalerweise wollen Biografen der eigenen Existenz im Nachhinein schreibend einen Sinn und Bedeutung verleihen – und sie sozusagen abschließend ins rechte Licht rücken. Doch mit dem herkömmlichen Sinn- und Wahrheitsbegriff hatte der japanische Erfolgsautor Haruki Murakami schon immer seine Schwierigkeiten. Und so legt der stark von Kafka und vom Magischen Realismus beeinflusste Japaner mit seinem neuen Buch nun auch eine völlig andere Art von Lebenserinnerungen vor. Nämlich solche, die sich statt einer faktischen einer poetischen Wahrheit verpflichtet fühlen. In diesen Erinnerungen gibt es weder den berühmten Roten Faden, noch spielt das typische Biographen-Thema des Erfolgs eine Rolle.
Stattdessen blickt der 72jährige Murakami in diesen acht Episoden allenfalls ein bisschen nostalgisch auf sein Leben zurück. Ansonsten aber schildert er seinen Werdegang auffallend wertfrei als eine Abfolge lose miteinander verbundener Erinnerungsbilder. Wobei ihn besonders die Zufallsmomente interessieren. So, als wollte er – im Gegensatz zu den meisten anderen Biografen – gerade das Willkürliche und eben nicht das Plan- und Erklärbare der Existenz betonen. Sein erstes, prägendes Liebeserlebnis schildert der Autor von daher bezeichnenderweise so:
"Eines Tages rannte sie im Flur mit wehendem Rock an mir vorbei. (…) Außer uns war niemand in dem langen, schlecht beleuchteten Flur des alten Schulgebäudes. Sie hielt eine Schallplatte an die Brust gedrückt, die With the Beatles mit dem genialen Schwarz-Weiß-Foto der vier Beatles im Halbschatten. (…) Das Mädchen war wunderschön, atemberaubend schön, zumindest aus meiner Perspektive. (…) Mein Herz hämmerte, mein Atem stockte, (…) nur eine kleine Glocke schrillte in meinen Ohren, als wollte jemand mir dringend etwas sehr Wichtiges mitteilen. All das dauerte nicht länger als zehn oder fünfzehn Sekunden. (…) Dies blieb meine einzige Begegnung mit dem Mädchen."
Literarisches Rätselspiel
Dies ist ein ganz typischer Murakami-Epiphanie-Moment: Gerade einmal 15 Sekunden dauert er und äußerlich passiert nicht viel: Ein Mädchen läuft mit einer Schallplatte im Arm an einem Mitschüler vorbei. Doch in der Wahrnehmung von Murakamis jugendlichem Alter Ego wird daraus eine Sensation. Und obwohl der Teenager nach dieser Zufallsbegegnung dann angeblich wochenlang nach dem Beatles-Mädchen suchte, konnte er es nirgendwo wiederfinden. War die Szene vielleicht eine Einbildung?
Tatsächlich spukt es nicht nur an dieser Stelle von Murakamis Erinnerungsgeschichten. Und schon bald kommen einem Zweifel, inwieweit diese überhaupt auf realen Erlebnissen beruhen. Denn wie schon in seinen Romanen verschwimmen auch hier ständig die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Wahrheit und Fiktion. Insofern wirkt der Autor als Chronist seines Lebens nicht allzu zuverlässig. Oder, mit anderen Worten: Haruki Murakami macht in diesem Erzählungsband aus seiner Biografie ein literarisches Rätselspiel.
Das wird vor allem in der Titelerzählung deutlich, die nicht umsonst die trickreiche Überschrift "Erste Person Singular" trägt. Darin gesteht der Ich-Erzähler gleich zu Beginn sein Faible fürs Verkleiden. Manchmal, so sagt er, schlüpfe er heimlich in Anzug und Krawatte – und schlendere danach, zum Biedermann gewandelt, unerkannt durch seine Heimatstadt: Sozusagen im Kostüm eines völlig anderen Menschen. Eines Abends aber, so heißt es, sei sein Verkleidungsspiel plötzlich aus dem Ruder gelaufen:
"Ich breitete einen dunkelblauen Anzug von Paul Smith (…) auf dem Bett aus und wählte ein passendes Hemd. (…) Und nachdem ich die Sachen angezogen hatte, betrachtete ich mich im Spiegel. Nicht schlecht. (…). Dennoch verspürte ich ein seltsames Unbehagen, gepaart mit einem Anflug von Schuldbewusstsein. (…) Je länger ich mich in meinem Anzug und meiner Krawatte betrachtete, desto stärker wurde es. Desto mehr schien mir, dass der Mann dort im Spiegel gar nicht ich war, sondern ein völlig Fremder. Aber, wenn ich es nicht war, wer war es dann?"
Das Spiel mit dem Zufall
Das Kippmoment einer tief greifenden Identitäts-Verunsicherung ist ebenfalls ein typisches Murakami-Motiv. Und altbekannt wirken auch der lakonische Sound und der vordergründig unspektakuläre Inhalt dieser Episoden. Da spricht Murakami dann etwa davon, dass er als Student in einer Pizzeria jobbte. Dass er jahrzehntelang zu Baseball-Spielen pilgerte. Dass er früh für den Jazz-Saxophonisten Charlie Parker schwärmte – und später für die Klavierstücke von Robert Schumann. Das klingt alles erst einmal nicht besonders aufregend, sondern nach einer gewöhnlichen Durchschnittsexistenz. Bis sich in diesen Geschichten dann aber immer etwas Überraschendes ereignet: Eine Zufallsbegegnung, eine Verwechslung oder ein Missverständnis. Immer nur eine Kleinigkeit. Und doch bringt es den jeweiligen Alter Ego-Helden stets so nachhaltig aus dem Tritt, dass das Erzählte plötzlich ins Surrealistische oder Phantastische kippt.
So berichtet Murakami etwa einmal von einem merkwürdigen Klavierkonzert, zu dem er eingeladen war. Denn vor der Konzerthalle angekommen, musste er feststellen, dass diese verschlossen war und niemand außer ihm vor Ort:
"Kein Lüftchen regte sich, kein Vogel zwitscherte, und kein Hund bellte. Der Himmel über mir war von grauen Wolken bedeckt. Also gab ich letztlich auf und machte mich mit schweren Schritten auf den Weg zurück zur Bushaltestelle, während ich mich die ganze Zeit fragte, was hier los war. (…) Eines war klar – der Klaviernachmittag fand nicht statt. (…) Vielleicht hatte das Mädchen mir einen Streich gespielt? (…) Auf einmal bekam ich keine Luft mehr. Ich geriet in Panik, es war, als würde ich von einer starken Strömung unter Wasser gedrückt."
Dieser Text ist ein gutes Beispiel dafür, wie meisterhaft es Murakami versteht, eine zunächst harmlose Anekdote in nur wenigen Sätzen in eine Alptraumvision zu verwandeln. Sein Ich-Erzähler erleidet prompt einen Erstickungsanfall, und macht wenig später die Bekanntschaft eines unheimlichen, älteren Herrn, der wie ein Geist aus dem Nichts auftaucht. Und spätestens hier – es ist die zweite Geschichte des Bandes – ist endgültig klar, dass es sich bei Erste Person Singular nicht um Rückblicke im klassischen Sinn handelt, sondern um biografische Fiktionen. Haruki Murakami nutzt seine Erinnerungen hier nur noch als Aufhänger, um sich eine alternative Lebensgeschichte herbeizufabulieren. Eine Biografie im Konjunktiv, in der Schreckens-Visionen ebenso ihren Platz haben wie unausgelebte oder unrealisierbare Sehnsüchte. Und womöglich, das schwingt in diesen Storys unterschwellig mit, verraten solche Träume viel mehr über ihn persönlich als jede Lebenschronik.
Eine alternative Lebensgeschichte
Zumindest wird der menschlichen Vorstellungskraft bei Murakami enorme Wirkmächtigkeit zugesprochen. So auch in einer Episode über Charlie Parker. Hier erinnert sich der Autor daran, wie er als Student 1963 einmal in eine freche Musikkritik verfasste, in der er behauptete, der 1955 verstorbene Jazzmusiker wäre angeblich noch quicklebendig – und hätte gerade erst eine Bossa-Nova-Platte aufgenommen. Ein jugendlicher Scherz, der bei Charlie-Parker-Fans gar nicht gut ankam. In der Erzählung aber treibt Murakami diesen Studenten-Gag nun noch weiter auf die Spitze, indem er behauptet, er habe Jahre später tatsächlich eine Bossa-Nova-Platte von Charlie Parker entdeckt: In einem Plattenladen in New York:
"Die Platte in der Hand stand ich sprachlos da. Irgendetwas tief in meinem Innern war wie betäubt. War ich wirklich in New York? Ja. (…) Ich fragte den langhaarigen jungen Mann an der Kasse, ob ich mir die Platte anhören dürfe, aber er schüttelte bedauernd den Kopf. Der Plattenspieler im Laden sei leider kaputt."
Ist Murakamis Studentenfantasie von 1963 also Wirklichkeit geworden? Wohl kaum. Doch auch wenn man in seinen autobiografischen Geschichten sicherlich nicht immer die faktische Wahrheit über den Autor erfährt: Man kommt in diesen Storys Haruki Murakami sehr nahe. Denn man erhält hier einen tiefen Einblick darin, wie dieser scheue Schriftsteller aus seinen Lebenserfahrungen, Träumen und Wünschen außergewöhnliche Literatur erschafft.
Haruki Murakami: "Erste Person Singular"
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Dumont Verlag, Köln. 224 Seiten, 18.99 Euro.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Dumont Verlag, Köln. 224 Seiten, 18.99 Euro.