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Hassmails und Morddrohungen
Lokalpolitiker im Fadenkreuz

Übergriffe auf Kommunalpolitiker nehmen zu. Meist haben die Attacken einen rechtsradikalen Hintergrund, stehen in Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik. Die alarmierende Zahl des Bundesinnenministeriums: Mehr als 800 Übergriffe auf Mandatsträger gab es allein seit Beginn dieses Jahres.

Von Bastian Brandau, Uschi Götz und Ina Rottscheidt |
    Computertaste mit der Aufschrift Hass und Paragraphen-Zeichen.
    Insbesondere in Kommentaren in sozialen Netzwerken wird Hass gesät. (imago / Christian Ohde)
    Wenn Sven Scheidemantel das Haus verlässt und mit seinem Auto fahren will, macht er erst einmal einen Kontrollgang:
    "Na, einfach mal mit dem Fuß so ran, und dann ein bisschen gucken, ob irgendwo ein Grat abgeht oder irgendwas, einfach mal mit dem Finger prüfen, ob irgendwo was locker ist."
    Sitzen die Radmuttern noch fest? Liegt etwas unter den Reifen? Hat sich jemand an seinem Auto zu schaffen gemacht? Für Sven Scheidemantel ist das zur Routine geworden. Der parteilose Politiker sitzt im Kreistag von Bautzen und lebt in Arnsdorf, etwa eine halbe Stunde von der sächsischen Hauptstadt Dresden entfernt. Er engagiert sich gegen Rechtsextremismus. Meldet Gegendemonstrationen an. Tritt auf Bürgerversammlungen für Geflüchtete ein. Und hat sich damit Feinde gemacht.
    "Wenn ich also mit meinem Auto unterwegs bin, prüfe ich sowohl bei Fahrtantritt, weil das in einem öffentlichen Raum abgestellt ist, die Radmuttern, die ich auch schon angedreht vorgefunden habe, man sieht das einfach auch an gewissen Spuren. Wenn dort ein Radkreuz oder irgendwas dran war. Und ich bin da schon sehr vorsichtig und guck da auch, ob da irgendwas locker gemacht worden ist, oder Glasscherben hingelegt wurden. Und im Zweifelsfall lass ich das Auto stehen, wenn ich Bedenken habe, dass da irgendwas passieren könnte."
    Mit Bedrohungen im Internet ging es los. Scheidemantel spricht offen über den Hass, der ihm entgegenschlägt, ab und zu lacht er.
    "Ich zitiere mal so: Du Volksverräter, du bist wohl vom Wickeltisch gefallen, oder du angeblicher Menschenfreund, du wirst hängen, wenn wir an die Macht kommen, und so Geschichten, oder auch brennen, ja natürlich bei lebendigem Leib."
    Auch auf der Straße werde er beschimpft und bedroht, sagt Scheidemantel. Im Winter 2014 wurde er auf einem Supermarktparkplatz zusammengeschlagen:
    "Dann kam so aus dem Halbschatten eine Gruppe Jugendlicher auf mich zu und sprach mich an, ob ich der Herr Scheidemantel wäre, und ich bejahte das. Und kurz darauf hatte ich schon eine Faust im Gesicht und einen Tritt im Magen und lag auf der Erde. Meine Einkäufe so halb verstreut, und man trat dann noch gegen den Kotflügel des Autos, und dann "das nächste Mal geht’s nicht so glimpflich aus", und dann verschwand die Horde relativ schnell."
    Scheidemantel ist schon lange kein Einzelfall mehr. Gerade erst an diesem Donnerstag wurde in der schleswig-holsteinischen Gemeinde Oersdorf der Bürgermeister mit einem Kantholz niedergeschlagen. Ebenfalls in dieser Woche hat das Bundesinnenministerium alarmierende Zahlen herausgegeben: Demnach gab es mehr als 800 Übergriffe auf Amts- und Mandatsträger, allein seit Beginn des Jahres.
    An einem leerstehenden Haus in Loitz (Mecklenburg-Vorpommern) steht der Schriftzug "Loitz braucht keine Asylanten".
    Lokalpolitiker werden immer häufiger bedroht, dies hängt mit der Flüchtlingssituation zusammen, so Experten. (picture alliance / ZB / Stefan Sauer)
    Dabei handelte es sich meist um Volksverhetzung, Sachbeschädigungen oder Nötigung. In 18 Fällen jedoch ging es auch um tätliche Angriffe oder Brandstiftung. Selten gibt es Aufklärung. Der Kommunalpolitiker Scheidemantel ist seit dem Angriff vorsichtiger geworden, meidet manche Gegenden von Bautzen. Er spricht darüber mit einer gewissen Ironie:
    "Das hält fit, ich bin jetzt Mitte 40, und wenn man so viel rennen muss wie unsereiner stellenweise in der Stadt, dann ist das auch ein sportlicher Ansatz. Aber: Es ist natürlich eine Einschränkung von Lebensqualität. Also ich würde jetzt nie abends mit einer Freundin durch Bautzen laufen wollen. Da suche ich mir dann schon größere Städte, wie Leipzig oder Dresden, da macht das mehr Spaß."
    Sein politisches Engagement zurückzufahren, weniger kontroverse Themen anzugehen: Das ist für ihn keine Option.
    "Das Problem ist nur, dass man irgendwo sich noch im Spiegel angucken möchte, und bestimmte Entwicklungen, gerade in Bautzen, lassen mich nicht ruhen, ich kann da nicht anders, ich muss da raus. Schwierig ist es auch nicht unbedingt für mich, weil ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, ich habe keine Frau und Kinder, wo ich Rücksicht nehmen muss."
    Beschmierte Hauswände, Pöbelmails, Fäkalien im Briefkasten, tätliche Angriffe: Davon kann mittlerweile fast jeder Kommunalpolitiker berichten:
    "Januar 2016: In Zwickau werfen Unbekannte die Scheiben des Hauses der Oberbürgermeisterin ein; November 2015: In Nürnberg bekommt ein Mitglied des Stadtrates die eigene Todesanzeige geschickt; Oktober 2015: In Leipzig wird der Oberbürgermeister bedroht; der Bürgermeister der Brandenburger Stadt Bernau erhält ebenfalls Morddrohungen; Januar 2015: In Berlin zünden Unbekannte das Auto eines Bezirkspolitikers an; März 2015: der Magdeburger OB bekommt nach Morddrohungen Personenschutz."
    Auch Bundespolitiker wie Petra Pau oder Cem Özdemir wurden und werden bedroht. Doch vor allem seien Lokal- und Kommunalpolitiker betroffen, erklärt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes:
    "Also die Kommunalpolitiker sind natürlich näher dran. Der Bundespolitiker ist auf einer Veranstaltung vor Ort, aber der Bürgermeister oder Oberbürgermeister ist eben täglich auf dem Marktplatz oder geht zum Rathaus, die unmittelbare Betroffenheit ist auf der kommunalen Ebene viel größer."
    Volksverhetzung, Sachbeschädigungen oder Nötigung
    Und Personenschutz für die rund 300.000 Ratsmitglieder in Deutschland ist schlichtweg nicht leistbar. Gerade erst hat der Verband eine Umfrage gemacht, das Ergebnis: Von 1.000 Befragten berichten 47 Prozent von Übergriffen und Attacken, meistens von rechts, ab und zu von links. Und im Osten ist die Stimmung aggressiver als im Westen. Auch das ist ein Ergebnis.
    Landsberg spricht von einer regelrechten Hasswelle - nicht nur gegen Bürgermeister oder Landräte, sondern auch gegen Ratsmitglieder:
    "Das läuft eigentlich immer nach demselben Schema ab: Es hängt fast immer mit der Flüchtlingssituation zusammen. Zunächst gibt es beleidigende Mails, dann finden Bürgerversammlungen statt, da fliegen dann Gegenstände, dann werden die Drohungen intensiver, das heißt: "Wir wissen, wo du wohnst!", und "Wir wissen, wo deine Kinder zur Schule gehen!". Als nächste Stufe gibt es dann Farbbeutel vor der Haustür oder Beschädigung des Autos, und dann gibt es eben auch tätliche Übergriffe, einer der schlimmsten war der auf Frau Reker, die Oberbürgermeisterin von Köln."
    Es ist der 17. Oktober 2015 als klar wird: hasserfüllten Worten folgen auch Taten:
    "Einen Tag vor der Oberbürgermeisterwahl in Köln ist die parteilose Kandidatin Henriette Reker bei einem Messerangriffe schwer verletzt worden. Nach Angaben der Polizei wurde sie an einem CDU-Wahlkampfstand von einem Mann angegriffen, ihr Zustand sei inzwischen stabil. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen. Er soll fremdenfeindliche Motive angegeben haben."
    Deutschland ist erschrocken: Erstmals sind Worten Taten gefolgt. Reker hatte sich als Sozialdezernentin der Stadt stets für eine Flüchtlingspolitik engagiert.
    Einen Tag nach der Tat wird Reker, die noch schwer verletzt im Koma liegt, zur Oberbürgermeisterin von Köln gewählt. Einige Wochen später, bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt, erklärt sie:
    "Der Täter ist auf mich zugekommen und hat gefragt, ob er auch eine Rose bekommen könnte. Ich stand da mit den Rosen, und dann hat er eben das Messer rausgezogen und mir das Messer in den Hals gesteckt. Hat mich auch freundlich dabei angeguckt. Er hat mit dem Messerstich die Luftröhre durchtrennt, und dann bin ich eben sofort auch zu Boden gegangen."
    Die Vorsitzende Richterin im Prozess um den versuchten Mord an der damaligen Kölner Oberbürgermeister-Kandidatin Reker, Barbara Havliza, steht am 01.07.2016 in einen Verhandlungssaal des Oberlandesgerichts in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen).
    Die Vorsitzende Richterin im Prozess um den versuchten Mord an der damaligen Kölner Oberbürgermeister-Kandidatin Reker, Barbara Havliza. (picture alliance/dpa - Rolf Vennenbernd)
    Heute, ein Jahr später, bereitet ihr die Tat keine schlaflosen Nächte mehr:
    "Es ist jeden Tag präsent. Ich leide da nicht drunter, ich habe auch keine Zeit, da lange drüber nachzudenken, aber ich werde eben offen auch darauf angesprochen und mittlerweile kann ich damit wirklich ganz gut umgehen."
    Auch Reker ist überzeugt: Hassbotschaften im Netz, Pöbeleien und Drohungen sind der Nährboden für solche Taten. Oft zitiert sie die Schriftstellerin Hertha Müller, die sagte: "Wenn Worte, wie 'Volksverräter' und 'Lügenpresse' lange genug spazieren gehen, geht auch mal ein Messer spazieren."
    "Diese politische Kultur der Auseinandersetzung, die führt – davon bin ich zutiefst überzeugt – dazu, dass dann auch es zu solchen Tätlichkeiten kommt. Weil man muss sich ja mal vorstellen, es gehört ja eine gewisse Überwindung dazu, jemandem ein Messer irgendwie in den Körper zu stechen. Das kommt nicht von selbst und da muss eben ein Hasspotenzial aufgebaut sein, was auch nicht von selbst entsteht. Und wenn das immer wieder unterstützt wird durch Parolen, durch Menschen, die die Situation befeuern, dann wird das gefährlich für uns alle. Und deswegen trete ich immer dafür ein, dass wir auch eine angemessene, ruhige, argumentative politische Kultur pflegen."
    Schwierig ist das jedoch, wenn ein Teil der Gesellschaft mit Argumenten und Fakten nicht mehr zu erreichen ist. Das beobachtet Gerd Landsberg vom Städte und Gemeindebund tagtäglich. Pöbeleien gegen Politiker – aber übrigens auch gegen Lehrer, normale Bedienstete beim Sozialamt oder Politessen – habe es immer schon gegeben. Aber sie hätten eine neue Qualität, sagt er:
    "Auch ganz normale Äußerungen hier dieses Verbandes, ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Wir haben ein Modell zur Grundsteuer vorgelegt, das hat also mit Flüchtlingen überhaupt nichts zu tun. Darauf kriege ist eine Mail: Das sei typisch für uns Bonzen, wir wollten ja nur die Grundsteuer, damit man den Flüchtlingen noch mehr Geld in den Hintern schieben kann. Das hat mit Flüchtlingen überhaupt nichts zu tun, die gibt es seit hunderten von Jahren, es geht um eine rechtliche Frage, wie man sie verfassungsrechtlich sicher macht. Es gibt keinen Anlass mehr, den die Leute nicht irgendwie aggressiv mit Flüchtlingen in Verbindung bringen!"
    Als Landsberg im Sommer vorschlug, Flüchtlinge müssten mittelfristig, wenn sie gut integriert sind, auch im öffentlichen Dienst beschäftigt werden, überschlugen sich die Kommentare in einschlägigen Foren: Landsberg wolle "Asylanten zu Polizisten machen", war da zu lesen und - natürlich - von einer muslimischen Unterwanderung der deutschen Sicherheitskräfte.
    "Frau Salden, den Vorgang mit der Berliner Staatsanwaltschaft, können Sie mir den mal gerade ausdrucken?"
    Landsberg verlässt sein Büro, um einige Ausdrucke zu holen: Regelmäßig bekommt auch er Hass- und Drohbriefe via Mail oder auf Facebook. Manche sind 30 Seiten lang. Viele löscht er, einige hat er jedoch an die Staatsanwaltschaft Berlin weitergeleitet. Er blättert in einem dicken Stapel Papier:
    "Was haben wir denn da alles? "Ihr unsäglich saudummes Gequatsche von Flüchtlingen, die oft Analphabeten sind!" "Lass mal dein dümmliches Gutmenschen-Syndrom behandeln! Illegale Neger und muslimische Terrorsektenaraber gehören abgeschoben!" "Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Ehefrau das Gleiche erleidet, wie die Frauen am Kölner Hauptbahnhof!""
    Landsberg hat Anzeige erstattet, aber wie viele andere Politiker macht er auch er die Erfahrung: Es passiert relativ wenig. Eine Drohung wird nur verfolgt, wenn darin ein konkretes Verbrechen angekündigt wird. Zu aufwendig ist es, jeder anonymen Pöbelei nachzugehen. Der Chef des Städte- und Gemeindebundes fordert deshalb, dass Politiker-Stalking zum Straftatbestand werden müsse. Und mehr Aufmerksamkeit für das Thema, auch in Berlin:
    "Also ich glaube, dass wir von der Bundes- und auch von der Landespolitik erwarten müssen, dass sie das als Gefahr für die Demokratie erkennen, und dass sie zum Beispiel bei den Landeskriminalämtern Stellen schaffen, wo diese Dinge hin gemeldet werden, dass sie das konsequent verfolgen, die Staatsanwaltschaften darauf auch hinwirken und dass sie auch dafür sorgen, dass es auch zu Verurteilungen kommt, und diese Verurteilungen auch in der Öffentlichkeit deutlich werden.
    Beschimpft, bedroht und angegriffen
    Denn viele Ämter in der Kommunalpolitik sind ehrenamtlich. Wenn Menschen also nicht nur ihre Freizeit opfern, sondern zudem auch noch beschimpft, bedroht oder sogar tätlich angegriffen werden, dann hat das Folgen: Im Main-Kinzig-Kreis bei Frankfurt kündigte in diesem Sommer der Landrat Erich Pipa (SPD) an, nach Drohungen gegen ihn und seine Familie bei der nächsten Wahl nicht mehr anzutreten. Im März 2015 legte Markus Nierth sein Amt nieder. Der Oberbürgermeister von Tröglitz in Sachsen-Anhalt hatte wochenlange Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen hinter sich. Als die NPD schließlich einen Aufmarsch vor seinem Privathaus plante und er keinerlei Rückhalt in den eigenen Reihen hatte, reichte es ihm. In einem Interview mit dem ZDF sagte er:
    "Das geht nicht, das schaffe ich kräftemäßig nicht und meine Familie geht vor. Und das war dann schließlich auch der entscheidende Punkt für mich zu sagen: Ich weiche jetzt nicht aus Druck vor den Rechtsradikalen, weil ich Angst hätte. Aber ich sehe es nicht ein, dass ich noch mehr meinen Kopf hinhalte und die mich sogar persönlich ins Visier nehmen, dass sie vor meiner Haustür auftauchen und meine Kinder das miterleben müssen."
    Und auch in Oferdingen, einem Stadtteil von Reutlingen in Baden-Württemberg legte der Bezirksbürgermeister des Ortes, Ralph Schönenborn, vor einem Jahr sein Amt nieder.
    Dort war im Herbst 2015 der Streit um eine Flüchtlingsunterkunft eskaliert. Schönenborn wollte ein Containerdorf für 76 Flüchtlinge auf einem städtischen Grundstück bauen lassen, die Mehrheit seiner Ratskollegen war dagegen. Sie forderten seinen Rücktritt, er selbst und seine Frau erhielten anonyme Drohungen. Nach sieben Jahren im Amt legte der 55-jährige Steuerberater sein Amt nieder. Interviews gab er keine, in einer Stellungnahme erklärte er schriftlich:
    "Kontroverse Diskussionen sind in einer Demokratie der Normalfall und für die Meinungsbildung wichtig und notwendig. Wir alle in Deutschland suchen doch den richtigen Weg, mit einer solchen Völkerwanderung angemessen umzugehen. Eine Grenze wird aber dann überschritten, wenn Verunglimpfungen und Drohungen gegen Andersdenkende die Auseinandersetzung in der Sache belasten."
    In der Landeshauptstadt Stuttgart zeigte man sich entsetzt über die Eskalation in Oferdingen. Und Reutlingens Oberbürgermeisterin Barbara Bosch sagte:
    "Ich bin erschüttert vor allem wegen der Umstände, die dies veranlasst haben. Dass offensichtlich ein Klima vorhanden ist, das irgendjemand animiert hat, ihm eine anonyme Drohung zu schicken, mit einer Gefährdung für Leib und Leben."
    Heute, ein Jahr später, steht fest: Momentan müssen in Oferdingen keine Flüchtlinge untergebracht werden, die Kapazitäten in anderen Stadtteilen reichen zurzeit aus.
    Persönliche Bedrohungen aushalten
    Was bleibt ist die Frage, ob die Demokratie im Neckartal auf der Strecke geblieben ist. Erich Fritz, Bezirksbürgermeister des Reutlinger Stadtteils Sickenhausen, glaubt das nicht. Doch Werbung für mehr kommunalpolitisches Engagement sei der Fall Oferdingen auch nicht:
    "Es ist durchaus möglich, dass das Amt Schaden nimmt, weil die Bewerberlage für das Amt des Ortsvorstehers, in diesem Fall des Bezirksbürgermeisters, wie es in Reutlingen heißt, ist nicht immer so groß ist, beziehungsweise, man ist froh, wenn sich eine Person in der Regel aus dem Bezirksmeisterrat heraus bereit erklärt, dieses Amt, dieses Ehrenamt, zu übernehmen."
    Ortsvorsteher oder in diesem Fall Bezirksbürgermeister arbeiten ehrenamtlich, für Sitzungen bekommen sie eine Aufwandsentschädigung. Tag und Nacht sollten sie erreichbar sein, ansprechbar für Menschen in allen Lebenslagen. Das Amt fordere viel, sagt Paul Witt, Professor für Kommunales Wirtschaftsrecht und Rektor der Hochschule für Öffentliche Verwaltung in Kehl:
    "Ich glaube, wer für so ein Amt kandidiert, der muss eben damit rechnen, dass er auch mit schwierigen Situationen konfrontiert wird. Die meisten wissen das auch im Vorfeld und tun es dann trotzdem."
    Witt leitet seit vielen Jahren Bürgermeisterseminare, er schult mögliche Kandidaten, auch gewählte Rathausspitzen bereitet er auf das Amt vor. Das Geschäft sei schwieriger geworden, das hört er immer wieder. Natürlich stelle die Flüchtlingsfrage die Kommunen und Bürgermeister vor große Herausforderungen, räumt er ein. Da brauche es durchsetzungsstarke Persönlichkeiten:
    "Bürgermeister waren ja auch in der Vergangenheit, wenn sie Geschichte anschauen, immer Gestalter. Haben immer auf Situationen reagiert. Denken Sie die Nachkriegszeit, wo alles zerstört war, wo Wiederaufbau angesagt war. Das waren die Kommunen, das waren die Bürgermeister, die dann in ihren Gemeinden dafür gesorgt haben, dass möglichst schnell wieder ein funktionsfähiges Gemeinwesen da ist, und das ist jetzt eine ähnlich große Aufgabe, die die Bürgermeister haben, Integration der geflüchteten Menschen."
    Ein Großaufgebot der Polizei steht am 14.09.2016 in Bautzen (Sachsen) auf der "Platte", dem Kornmarkt.
    Ein Großaufgebot der Polizei steht am 14.09.2016 in Bautzen (Sachsen) auf der "Platte", dem Kornmarkt nach Auseinandersetzungen zwischen Asylbewerbern und Deutschen. (dpa/picture-alliance/Christian Essler)
    Doch muss ein Bürgermeister alles, auch persönliche Drohungen aushalten? Ja, meint Witt, der auch Autor eines Buches mit dem Titel "Karrierechance Bürgermeister" ist. Vorfälle wie Oferdingen seien Einzelfälle in Baden-Württemberg, betont er:
    "Wir haben um die 1.100 Bürgermeister in Baden-Württemberg und da gibt es diese Fälle nur sehr, sehr selten. Gott sei Dank, ich habe ein großes Vertrauen in die Wähler, die eben diese Bürgermeister wählen, selten verwählen sich die Wähler. Das heißt, sie wählen schon starke Persönlichkeiten, die auch diesen Druck dann aushalten können, wenn er denn auf sie zukommt."
    Immer wieder suchen Gemeinden verzweifelt nach geeigneten Rathausspitzen. Wirken die jüngsten Ereignisse nicht besonders abschreckend auf mögliche Kandidaten?
    "Wir haben jetzt eine Untersuchung gemacht in Kehl, die wissenschaftlich nachweist, dass die Zahl der Bürgermeisterkandidaturen im Land in den letzten 30 Jahren nicht rückläufig war. Die Untersuchung sagt nichts aus über die Qualität der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Also faktisch: Quantität ist nicht rückläufig, qualitativ weiß man es nicht."
    Dennoch hält Witt den Vorschlag vom deutschen Städte- und Gemeindebund, Politiker-Stalking unter Strafe zu stellen, für diskutabel:
    "Ich kann mir schon vorstellen, dass in anderen Bundesländern, das noch sehr viel massiver ist, gerade in den östlichen Bundesländern, aus der Sicht des Deutschen Städtetags sehe ich so eine Forderung als durchaus auch berechtigt an."
    Der Städte- und Gemeindebund fordert nach dem jüngsten Übergriff in Schleswig-Holstein, dass sich auch die Innenministerkonferenz im November mit dem Thema beschäftigen müsse.
    Und Sven Scheidemantel aus Bautzen zieht seine eigenen Schlüsse: Wie lange und unter welchen Umständen er sich weiterhin politisch in Sachsen arbeiten will, weiß er noch nicht. Vielleicht zieht er irgendwann zurück in die Großstadt, in deren Anonymität er sich sicherer fühlt. Der ländliche Raum hätte dann einen engagierten Politiker weniger:
    "Vielleicht wenn ich auch älter werde, in zehn, 15 Jahren, macht das vielleicht Sinn. Auf jeden Fall ist es so, wenn eben die Gewalt, die AFD-Zustimmung im ländlichen Raum noch mehr zunimmt, also wenn sie so Werte zwischen 40, 45 Prozent erreicht, ich glaub dann ist für mich auch eine Grenze erreicht, wo ich das einfach körperlich auch nicht mehr durchhalte, ständig angefeindet zu werden. Dann ziehe ich mich eher in eine Region zurück, wo ich mich da sicherer fühlen kann."