Erler: Guten Morgen.
Gerner: Die Frage an Sie: Sehen Sie noch Möglichkeiten für eine friedliche Lösung?
Erler: Wenn man sich die Vergangenheit anguckt- eben ist schon das Stichwort Budjonnowsk gefallen - dann muss man sagen, die einzige Hoffnung ist, dass die russische Seite die Lösung eines solchen Problems anders betrachtet, wenn sich der Geiselfall mitten in Moskau ereignet als wenn er sich in Tschetschenien oder fern in der Kaukasischen Region, denn alle Male, ob das Budjonnowsk, oder wie die Orte heißen, gewesen ist, ist es nicht ohne großes Blutvergießen abgegangen.
Gerner: Die meisten Experten sagen, die Forderung nach Rückzug aus Tschetschenien an die Adresse Putins werde Putin nicht erfüllen. Auf was, glauben Sie denn, werde sich Putin wohlmöglich einlassen?
Erler: Die Möglichkeit, dass man sagt, das Ziel ist erreicht, nämlich dass die Weltöffentlichkeit noch einmal in drastischer, dramatischer Weise auf den Konflikt in Tschetschenien aufmerksam geworden ist, das könnte eine Botschaft an die Geiselnehmer sein, verbunden vielleicht mit einem freien Abzug für die Freilassung der Geiseln, und dann ist es denkbar, dass noch andere Forderungen der Geiseln, die allerdings bisher nicht bekannt sind, erfüllt werden, während natürlich die Beendigung des Tschetschenien-Krieges im Sinne der Separatisten innerhalb von sieben Tagen schon rein technisch fast nicht umsetzbar ist.
Gerner: Glauben Sie denn, wie es Putin sagt, dass der Kampf gegen den tschetschenischen Terror oder dass der tschetschenische Terror aus dem Ausland importiert worden ist? Im erweiterten Atemzug fällt ja auch das Wort El Kaida bei Putin manchmal. Glauben Sie, dass dieses Netz sozusagen schon auf Tschetschenien liegt?
Erler: Also, es ist sicherlich nachweisbar, dass es Querverbindungen zwischen afghanischen Basen und den Separatisten in Tschetschenien gegeben hat, aber ich denke, durch solche Äußerungen versucht Putin auch ein bisschen von einer Frage abzulenken, die sich in der russischen Öffentlichkeit jetzt mehr und mehr stellt. Wir haben ja eine sehr starke Präsenz von Sicherheitskräften – nicht nur in Moskau, sondern in ganz Russland – in den letzten Monaten und Jahren, vor allem seit der Tschetschenien-Krieg wieder aufgeflammt ist, erleben müssen, und, es ist eigentlich eine Rundumkontrolle in der russischen Öffentlichkeit organisiert worden. Da fragen sich natürlich viele, wie es eigentlich möglich ist, dass mitten in Moskau 40 bewaffnete Leute einen Theatersaal in ihre Hand bekommen, und, ich denke, dass es sich hier mit diesen Spekulationen auch ein bisschen darum handelt, von dieser, in der Tat dringlichen Frage, abzulenken.
Gerner: Herr Erler, wenn wir mal auf die Geiseln jetzt gucken: Die 75 Ausländer deuten ja greifbar, sehbar an, dass es sich bei dieser Geiselnahme um eine Internationalisierung des Tschetschenien-Krieges handelt. Wenn das in Moskau möglich ist, rückt damit der Konflikt auch näher an den Westen, an Deutschland heran?
Erler: Theoretisch ja, aber ich meine, die Bereitschaft, die ja schon von den Geiselnehmern angekündigt worden ist, die jetzt dort eingedrungen ist, die Ausländer freizulassen – und ich hoffe, dass sie das auch im Sinne der möglicherweise zwei deutschen Betroffenen umsetzten werden -, zeigt ja, dass sie sich eindeutig an die russische Seite richten. Die Weltöffentlichkeit ist ja durch die mediale Teilnahme an diesem Ereignis beteiligt. Also, dieses Ziel ist ja erreicht worden, aber ich denke schon, dass die Rebellen darauf achten werden, dass jetzt nicht durch Geiselhaft von Ausländern eine negative Reaktion, auch ganz speziell gegen diese Geiselnahme, aber auch gegen das tschetschenische Anliegen, international entsteht. Sie müssten eigentlich ein Interesse daran haben, dass sich ihre Aktion ausschließlich gegen Russen richtet.
Gerner: Die Videos der mutmaßlichen Entführer, die im arabischen Sender Al-Dschasira gelaufen sind, erinnern ja fatal an bekannte Bilder vergangener Monate. In diesen Videos sei die Tat auch angekündigt worden, heißt es. Welchen Reim machen Sie sich darauf?
Erler: Na ja, ich glaube, es gibt schon so etwas wie ein Modell terroristischen Vorgehens, das geprägt worden ist von El Kaida und das hier kopiert wird. Das ist ja, wenn man so will, ein sehr modernes Vorgehen, wo es nicht nur darauf ankommt, vor Ort irgendeine Aktion zu machen, sondern dafür zu sorgen und eine Inszenierung zu planen, die eben dazu führt, dass möglichst weltweite Aufmerksamkeit erreicht wird. Ich denke, das sind schon fast schablonenhafte Vorgehensweisen, auf die wir uns für die Zukunft einrichten müssen. Das ist nicht ein Beweis dafür, dass El Kaida hier dahinter steckt. Das ist eher ein Beweis dafür, dass die perfektionistischen Methoden, die da angewandt werden, Schule machen.
Gerner: Gegen die die Staatsmacht aber recht ohnmächtig ist.
Erler: Das ist ganz offensichtlich der Fall und das wird in Russland – da bin ich ziemlich sicher – die Diskussion darüber entfachen, wie viele Opfer, zunehmend auch russische Opfer, eigentlich dieser Krieg noch kosten soll. Das ist im Westen gar nicht so bekannt, dass die Zahl der russischen Opfer hier wächst, weil nach dem 11. September im Grunde genommen ein größeres Stillschweigen auch international über den Tschetschenien-Konflikt gelegt worden ist.
Gerner: Stillschweigen – wenn ich das Stichwort aufnehmen darf, Herr Erler. Nach dem 11. September speziell hat es ja eine Art Freibrief für Putin mit Blick auf die Tschetschenien-Auseinandersetzung gegeben. War das richtig?
Erler: Ich würde es nicht Freibrief nennen, sondern es ist der russischen Politik gelungen, im Grunde genommen in das Thema 11. September und Terrorismus, auch – ich sage noch einmal – mit einer berechtigten Brücke, einzufädeln. Es gibt Querverbindungen zwischen El Kaida und Ausbildung und Terroristen in Tschetschenien – das ist gar keine Frage -, aber es ist natürlich nicht dasselbe, sondern ein eigener regionaler Konflikt, und durch die sehr spontane und nachdrückliche Unterstützung der russischen Politik für die Maßnahmen gegen El Kaida und Taliban hat es sozusagen eine Gegenleistung gegeben. Und diese Gegenleistung heißt: Weniger Aufmerksamkeit, weniger Gespräche, weniger Mahnungen in Richtung Tschetschenien. Ich glaube, dass sich das jetzt mit einem Schlag verändern wird, weil die Weltöffentlichkeit wieder stärker darauf guckt: Was passiert eigentlich in diesem kaukasischen Zipfel?
Gerner: Herr Erler, ein klares Wort: Haben Helmut Kohl und Gerhard Schröder mit Blick auf das gute deutsch-russische Verhältnis zu lange geschwiegen, zu lange den Konflikt um Tschetschenien bagatellisiert?
Erler: Ich glaube nicht, dass sich irgendetwas durch diese Gespräche geändert hat. Es ist nach wie vor so, dass in jedem Gespräch das Thema angesprochen wird. Es ist nur die Frage, wie es getan wird. Aber wenn man es anders gemacht hätte, hier zu einer schnelleren Lösung gekommen wäre, da habe ich sehr große Zweifel. Es ist nach wie vor die russische, bisher ungelöste Aufgabe, einen politischen Weg aus diesem Konflikt zu suchen und Putin...
Gerner: Und der Westen kann da nichts tun? Erler:...offensichtlich keine Chance hat, das Thema, den Konflikt militärisch zu lösen.
Gerner: Und können wir als Westeuropäer das befördern?
Erler: Wir können eigentlich immer nur wieder anbieten, auch in Form einer bestimmten Internationalisierung, zu helfen. Bisher ist es genau das, was die Russen nicht wollen, aber es gibt ja Institutionen, beispielsweise die OSZE, die eine wichtige davon ist und auch Erfahrung vor Ort hat, die hier helfen könnten, und ich bin immer noch der Meinung, dass dies einer der wenigen Möglichkeiten ist, einen Versuch zu machen, doch noch zu einer politischen Lösung vor Ort zu kommen.
Gerner: Danke an Gernot Erler, den Fraktionsvize der SPD.
Link: Interview als RealAudio
Gerner: Die Frage an Sie: Sehen Sie noch Möglichkeiten für eine friedliche Lösung?
Erler: Wenn man sich die Vergangenheit anguckt- eben ist schon das Stichwort Budjonnowsk gefallen - dann muss man sagen, die einzige Hoffnung ist, dass die russische Seite die Lösung eines solchen Problems anders betrachtet, wenn sich der Geiselfall mitten in Moskau ereignet als wenn er sich in Tschetschenien oder fern in der Kaukasischen Region, denn alle Male, ob das Budjonnowsk, oder wie die Orte heißen, gewesen ist, ist es nicht ohne großes Blutvergießen abgegangen.
Gerner: Die meisten Experten sagen, die Forderung nach Rückzug aus Tschetschenien an die Adresse Putins werde Putin nicht erfüllen. Auf was, glauben Sie denn, werde sich Putin wohlmöglich einlassen?
Erler: Die Möglichkeit, dass man sagt, das Ziel ist erreicht, nämlich dass die Weltöffentlichkeit noch einmal in drastischer, dramatischer Weise auf den Konflikt in Tschetschenien aufmerksam geworden ist, das könnte eine Botschaft an die Geiselnehmer sein, verbunden vielleicht mit einem freien Abzug für die Freilassung der Geiseln, und dann ist es denkbar, dass noch andere Forderungen der Geiseln, die allerdings bisher nicht bekannt sind, erfüllt werden, während natürlich die Beendigung des Tschetschenien-Krieges im Sinne der Separatisten innerhalb von sieben Tagen schon rein technisch fast nicht umsetzbar ist.
Gerner: Glauben Sie denn, wie es Putin sagt, dass der Kampf gegen den tschetschenischen Terror oder dass der tschetschenische Terror aus dem Ausland importiert worden ist? Im erweiterten Atemzug fällt ja auch das Wort El Kaida bei Putin manchmal. Glauben Sie, dass dieses Netz sozusagen schon auf Tschetschenien liegt?
Erler: Also, es ist sicherlich nachweisbar, dass es Querverbindungen zwischen afghanischen Basen und den Separatisten in Tschetschenien gegeben hat, aber ich denke, durch solche Äußerungen versucht Putin auch ein bisschen von einer Frage abzulenken, die sich in der russischen Öffentlichkeit jetzt mehr und mehr stellt. Wir haben ja eine sehr starke Präsenz von Sicherheitskräften – nicht nur in Moskau, sondern in ganz Russland – in den letzten Monaten und Jahren, vor allem seit der Tschetschenien-Krieg wieder aufgeflammt ist, erleben müssen, und, es ist eigentlich eine Rundumkontrolle in der russischen Öffentlichkeit organisiert worden. Da fragen sich natürlich viele, wie es eigentlich möglich ist, dass mitten in Moskau 40 bewaffnete Leute einen Theatersaal in ihre Hand bekommen, und, ich denke, dass es sich hier mit diesen Spekulationen auch ein bisschen darum handelt, von dieser, in der Tat dringlichen Frage, abzulenken.
Gerner: Herr Erler, wenn wir mal auf die Geiseln jetzt gucken: Die 75 Ausländer deuten ja greifbar, sehbar an, dass es sich bei dieser Geiselnahme um eine Internationalisierung des Tschetschenien-Krieges handelt. Wenn das in Moskau möglich ist, rückt damit der Konflikt auch näher an den Westen, an Deutschland heran?
Erler: Theoretisch ja, aber ich meine, die Bereitschaft, die ja schon von den Geiselnehmern angekündigt worden ist, die jetzt dort eingedrungen ist, die Ausländer freizulassen – und ich hoffe, dass sie das auch im Sinne der möglicherweise zwei deutschen Betroffenen umsetzten werden -, zeigt ja, dass sie sich eindeutig an die russische Seite richten. Die Weltöffentlichkeit ist ja durch die mediale Teilnahme an diesem Ereignis beteiligt. Also, dieses Ziel ist ja erreicht worden, aber ich denke schon, dass die Rebellen darauf achten werden, dass jetzt nicht durch Geiselhaft von Ausländern eine negative Reaktion, auch ganz speziell gegen diese Geiselnahme, aber auch gegen das tschetschenische Anliegen, international entsteht. Sie müssten eigentlich ein Interesse daran haben, dass sich ihre Aktion ausschließlich gegen Russen richtet.
Gerner: Die Videos der mutmaßlichen Entführer, die im arabischen Sender Al-Dschasira gelaufen sind, erinnern ja fatal an bekannte Bilder vergangener Monate. In diesen Videos sei die Tat auch angekündigt worden, heißt es. Welchen Reim machen Sie sich darauf?
Erler: Na ja, ich glaube, es gibt schon so etwas wie ein Modell terroristischen Vorgehens, das geprägt worden ist von El Kaida und das hier kopiert wird. Das ist ja, wenn man so will, ein sehr modernes Vorgehen, wo es nicht nur darauf ankommt, vor Ort irgendeine Aktion zu machen, sondern dafür zu sorgen und eine Inszenierung zu planen, die eben dazu führt, dass möglichst weltweite Aufmerksamkeit erreicht wird. Ich denke, das sind schon fast schablonenhafte Vorgehensweisen, auf die wir uns für die Zukunft einrichten müssen. Das ist nicht ein Beweis dafür, dass El Kaida hier dahinter steckt. Das ist eher ein Beweis dafür, dass die perfektionistischen Methoden, die da angewandt werden, Schule machen.
Gerner: Gegen die die Staatsmacht aber recht ohnmächtig ist.
Erler: Das ist ganz offensichtlich der Fall und das wird in Russland – da bin ich ziemlich sicher – die Diskussion darüber entfachen, wie viele Opfer, zunehmend auch russische Opfer, eigentlich dieser Krieg noch kosten soll. Das ist im Westen gar nicht so bekannt, dass die Zahl der russischen Opfer hier wächst, weil nach dem 11. September im Grunde genommen ein größeres Stillschweigen auch international über den Tschetschenien-Konflikt gelegt worden ist.
Gerner: Stillschweigen – wenn ich das Stichwort aufnehmen darf, Herr Erler. Nach dem 11. September speziell hat es ja eine Art Freibrief für Putin mit Blick auf die Tschetschenien-Auseinandersetzung gegeben. War das richtig?
Erler: Ich würde es nicht Freibrief nennen, sondern es ist der russischen Politik gelungen, im Grunde genommen in das Thema 11. September und Terrorismus, auch – ich sage noch einmal – mit einer berechtigten Brücke, einzufädeln. Es gibt Querverbindungen zwischen El Kaida und Ausbildung und Terroristen in Tschetschenien – das ist gar keine Frage -, aber es ist natürlich nicht dasselbe, sondern ein eigener regionaler Konflikt, und durch die sehr spontane und nachdrückliche Unterstützung der russischen Politik für die Maßnahmen gegen El Kaida und Taliban hat es sozusagen eine Gegenleistung gegeben. Und diese Gegenleistung heißt: Weniger Aufmerksamkeit, weniger Gespräche, weniger Mahnungen in Richtung Tschetschenien. Ich glaube, dass sich das jetzt mit einem Schlag verändern wird, weil die Weltöffentlichkeit wieder stärker darauf guckt: Was passiert eigentlich in diesem kaukasischen Zipfel?
Gerner: Herr Erler, ein klares Wort: Haben Helmut Kohl und Gerhard Schröder mit Blick auf das gute deutsch-russische Verhältnis zu lange geschwiegen, zu lange den Konflikt um Tschetschenien bagatellisiert?
Erler: Ich glaube nicht, dass sich irgendetwas durch diese Gespräche geändert hat. Es ist nach wie vor so, dass in jedem Gespräch das Thema angesprochen wird. Es ist nur die Frage, wie es getan wird. Aber wenn man es anders gemacht hätte, hier zu einer schnelleren Lösung gekommen wäre, da habe ich sehr große Zweifel. Es ist nach wie vor die russische, bisher ungelöste Aufgabe, einen politischen Weg aus diesem Konflikt zu suchen und Putin...
Gerner: Und der Westen kann da nichts tun? Erler:...offensichtlich keine Chance hat, das Thema, den Konflikt militärisch zu lösen.
Gerner: Und können wir als Westeuropäer das befördern?
Erler: Wir können eigentlich immer nur wieder anbieten, auch in Form einer bestimmten Internationalisierung, zu helfen. Bisher ist es genau das, was die Russen nicht wollen, aber es gibt ja Institutionen, beispielsweise die OSZE, die eine wichtige davon ist und auch Erfahrung vor Ort hat, die hier helfen könnten, und ich bin immer noch der Meinung, dass dies einer der wenigen Möglichkeiten ist, einen Versuch zu machen, doch noch zu einer politischen Lösung vor Ort zu kommen.
Gerner: Danke an Gernot Erler, den Fraktionsvize der SPD.
Link: Interview als RealAudio