Peter Schneider kam 1962 aus Freiburg nach Berlin. Die Mauer war bereits gebaut, der Krieg noch nicht so fern. Schon damals war der Westteil der Stadt ein Mekka für Bundeswehrflüchtlinge. Auch der Liebe wegen zog es Peter Schneider dorthin, in eine Straße unweit des Ku'damms, in der er noch heute wohnt.
"Aber nicht diese Wohnung hier, das war eine Wohnung woanders, ich weiß gar nicht mehr wo, bei einer Wirtin. Das sind diese ersten Erinnerungen an Berlin, diese riesigen Wohnungen, in denen einsame Witwen wohnten, die versuchten, ein bisschen Geld zu verdienen und diese Wohnungen an ein, zwei, drei Studenten zu vermieten. Es fiel sofort auf, dieses Fehlen von ein, zwei Generationen. Also man sah nur sehr alte und sehr junge Leute. Und so eine gewisse Depression ging damit einher mit diesen dunklen großen Wohnungen, diesen einsamen Frauen. Also es war nicht gerade das Gefühl, in einer optimistischen Weltstadt zu sein, wo man jetzt sein Ding machen würde."
Seit dem Studium ist Peter Schneider in Berlin
Peter Schneider machte dennoch sein Ding. An der TU besuchte er Literaturseminare von Walter Höllerer, der sein Schreibtalent förderte, und fand im übersichtlichen Westberliner Soziotop rasch Kontakt zu Künstlern und Schriftstellern wie Peter Rühmkorf, Heinar Kipphardt und Peter Weiß. Auch die Institutionen des Berliner Nachtlebens lernte er bald kennen, den Schotten oder Die blaue Grotte. Dort verkehrte das offene, das andere Berlin, scheinbar Lichtjahre entfernt von der Blockwartmentalität, die Peter Schneider folgendermaßen beschreibt:
"In den Hausfluren waren unbegreifliche Verbotsschilder angebracht: Das Spielen und Singen der Kinder und Mieter auf Hof, Flur und Treppe ist im Interesse aller Mieter untersagt! (...) Vor einer Zimmervermittlung stieß ich auf den Hinweis: 'Keine Zimmervermittlung an Studenten und Ausländer!' Die verrückteste Anweisung entdeckte ich - wortgleich in West- und Ostberlin - in alten Fahrstühlen: 'Es ist verboten, Personen in Aufzügen zu befördern, in denen das Befördern von Personen verboten ist.'"
"An der Schönheit kann's nicht liegen" lautet der Titel des Buches über die Stadt, in der Peter Schneider bereits seit über einem halben Jahrhundert lebt, in der er zum Protagonisten der Studentenbewegung wurde und mit der autobiografischen Novelle "Lenz" 1973 zum gefeierten Autor der 68er-Generation avancierte. Auch Schneiders zweiter großer literarischer Erfolg hat mit Berlin zu tun, genauer gesagt mit dem berühmtesten Bauwerk der geteilten Stadt. "Der Mauerspringer" heißt seine Erzählung von 1982, mit der er eine Formulierung in Umlauf brachte, die nach 1989 zum geflügelten Wort wurde: "Die Mauer in den Köpfen".
"Ich hab ja dieses Wort erfunden, das steht fest, da hat sich auch noch niemand gemeldet, der mir da widerspricht. Ich hab sogar in diesem Satz gesagt: 'Die Mauer in den Köpfen wird länger stehen als das Ding aus Beton.' Das steht schon im 'Mauerspringer' 1982. Es war aber gar nicht so brillant, das damals schon zu sehen. Es war nichts weiter als offensichtlich, wenn man sich ehrlich damit beschäftigte, wenn man einfach hinschaute und sagte: Was ist eigentlich aus diesen Deutschen beiderseits der Mauer geworden? Das sind zwei verschiedene Kulturen. Das ist ja ganz klar, das ist so was von offensichtlich."
Ost- und West-Berlin
In seinem Berlin-Buch macht Peter Schneider keinen Hehl daraus, dass der Westteil der Stadt sein Zuhause ist. Für ihn ist der "Tagesspiegel" die einzige "Hauptstadtzeitung" und das Kneipendreieck am Savignyplatz aus "Paris Bar", "Zwiebelfisch" und "Diener Tattersall" der Inbegriff einer sich dem Zeitgeist widersetzenden Kneipentradition. Zwar fuhr Schneider schon recht früh in den 70er-Jahren nach Ostberlin, besuchte befreundete Autoren wie Heiner Müller, Thomas Brasch oder Klaus Schlesinger, doch fanden diese Begegnungen immer in Privatwohnungen statt. Erst nach der Maueröffnung nahm Peter Schneider Ostberlin als urbanen Raum tatsächlich wahr.
"Prenzlauer Berg - das kannte ich ja alles, aber gleichzeitig war mir klar, du kanntest es ja überhaupt nicht, du hast es ja nie gesehen. Ziemlich bald nach dem Mauerfall bin ich zum Kissingenplatz gefahren, wo damals Heiner Müller mit seiner Frau Ginka wohnte. Und guck so hoch zu diesem Balkon, auf dem wir viel gesessen haben. Mein Gott! Wie hatte man sich getraut, auf diesem Balkon zu sitzen? Das war ja alles rostig. Und ich bin sofort einen Meter zurückgetreten, hab gedacht, schlimmstenfalls kommt er jetzt runter, in dem Moment, wo ich hochsehe und mir das anschaue. Das heißt: Man hat auch fast geflissentlich übersehen, wie total rott und kaputt diese Bausubstanz war in der DDR. Das war ja noch alles wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Niemand hat was repariert. Und das wollte man nicht sehen, weil man natürlich auch die Freunde durch solche Beobachtungen nicht verstören wollte als arroganter Wessi, aber es war ein richtiger Schock für mich."
Mischung aus Persönlichem und historischen Exkursen
Peter Schneiders Berlin-Buch ist eine Mischung aus persönlichen Wahrnehmungen und Erinnerungen, historischen Exkursen und journalistischer Recherche. Wo er selbst keinen persönlichen Zugang hat, sucht er sich Protagonisten. So erkundet er mit dem Architekten und Stadtplaner Hans Stimmann die Großwohnsiedlung Gropiusstadt, aus der Christiane F. stammt, mit Wolfgang Thierse begibt er sich in den gentrifizierten Prenzlauer Berg und aus der Perspektive einer Bewohnerin des Weinhauses Huth, dem letzten Haus am Potsdamer Platz vor dessen immenser Neubebauung, beobachtet er die Veränderungen an diesem geschichtsträchtigen Ort. In mehreren Kapiteln beschreibt Peter Schneider das Berliner Nachtleben in der Vergangenheit und heute, das nach seiner Überzeugung einen Großteil der Anziehungskraft dieser Stadt ausmacht.
"In keiner anderen deutschen Stadt gibt es so viele junge Leute, die von ein paar Nebenjobs, von Sozialhilfe oder in prekären Arbeitsverhältnissen leben. Die Klubs haben sich auf diese Situation eingestellt: Die Eintrittspreise sind vergleichsweise bescheiden - sie liegen unter zehn Euro - die Drinks kosten um die sieben Euro. Irgendwie bringen viele junge Leute die Mittel zusammen, zwei oder drei Nächte und Tage in einem Klub zu verbringen. Und die Jugend der Welt erkennt sich in dieser neuartigen Mischung aus Armut und Boheme wieder. In Berlin können sie sich für Beträge, die in den Technoklubs von New York, London und Paris bestenfalls für einen Drink reichen würden, ein ganzes Wochenende vergnügen."
Das Schöne an Peter Schneiders Buch ist die Neugier des Autors, der nicht davor zurückschreckt, sich mit seinen über 70 Jahren nachts in die lange Schlange vor dem Berghain einzureihen, dem besten Klub der Welt, wie die "New York Times" 2009 verkündete. Man nimmt Schneider sein eigenes Interesse ab, wenn er sich auf die Spuren jüdischen Lebens begibt, einen ehemaligen Bunker besichtigt, den ein reicher Werbemanager zu einem Museum für seine Sammlung zeitgenössischer Kunst umgebaut hat, oder wenn er den damals noch amtierenden Bürgermeister Neuköllns Heinz Buschkowsky interviewt und mit seinen Fragen in Fahrt bringt. Er will wissen, was los ist in dieser Stadt, die ihn schon so lange inspiriert, sich ein eigenes Bild machen, nicht nur das schreiben, was andere schon vor ihm geschrieben haben. Berlin ist Peter Schneiders Wahlheimat und sein "Lebensthema" geworden, wie er selbst schreibt. "An der Schönheit kann's nicht liegen ...", titelt der Ästhet Peter Schneider. Doch woran liegt es dann, dass diese Stadt so viele Menschen, einschließlich den Autor des Buches, anzieht und fasziniert?
"Ja, das ist es eben, ein richtiges Rätsel, das war übrigens einer der Gründe, warum ich das Buch geschrieben habe. Warum ist das so? Das Wichtigste ist vielleicht, dieses Zerrissene, was Berlin hat, dieses nicht zusammen Gehörende, dieses Vorläufige, dieses Unfertige, auch das Hässliche - das strahlt etwas aus wie: Hier kriegste immer noch 'nen Fuß in die Tür. Hier kannste immer noch was ausrichten. Diese Stadt ist offen für dich, auch wenn du kein Geld hast. Ich hab mal diesen Satz geschrieben: Unfertigkeit, ja, vielleicht sogar Hässlichkeit, hat etwas Inklusives, während kompakte Schönheit, wie du sie in Paris und Rom und überall hast, ist exklusiv. Da weißt du gleich: Eigentlich ist hier keine Chance. Und eigentlich: Will ich das überhaupt?"