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Hauptstadtjournalismus
Das komplett sinnlose Personalorakeln

Wer macht das Rennen um den CDU-Vorsitz? Laschet, Merz, Röttgen? Oder bleibt am Ende Kramp-Karrenbauer? Dass im Hauptstadtjournalismus spekuliert wird, findet unser Kolumnist Matthias Dell verständlich. Doch anderes würde so verdrängt. Er schlägt deshalb ein Zeitfenster für diese Form der Berichterstattung vor.

Von Matthias Dell |
Die drei Kandidaten für den Bundesvorsitz der CDU Armin Laschet, (r-l) Friedrich Merz und Norbert Röttgen mit Masken bei einem Treffen der Jungen Union
Die drei Kandidaten für den Bundesvorsitz der CDU: Armin Laschet, (r-l) Friedrich Merz und Norbert Röttgen (picture alliance/dpa/dpa-pool/Michael Kappeler)
Wenn ich Politikjournalist wäre, einer, der Ahnung hat, weil er in Berlin gut vernetzt ist, wie man so sagt, weil er in einer dieser top-exklusiven Gesprächsrunden sitzt, in denen die Polit-Prominenz sich nahbar gibt und dem Hauptstadtjournalismus "unter drei" verrät, was der dann so erstmal nicht schreiben darf – wenn ich also so ein Politikjournalist wäre, dann würde ich dieser Tage mal einen raushauen.
Großer Aufschlag, oben rechts auf Seite 1 und um 10 Uhr auf der Startseite – der Super-Top-Checker-Leitartikel-Kommentar! Überschrift: Die lachende Vierte. Unterzeile: AKK ist wieder da oder warum die alte CDU-Vorsitzende auch die neue bleiben muss.
Als Politiker musst du... - haue ich in die Tasten
Der Text würde szenisch beginnen am 10. Februar, dem Tag, an dem Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Rückzug vom CDU-Vorsitz angekündigt hat. Der tiefste Tiefpunkt. Aber dann: die Phoenix-Nummer, aus der Asche zum Licht, langsam, aber gewaltig. Laschet sieht erst gut aus, klarer Favorit für die Nachfolge, er legt den Coup mit Spahn hin, Merz nur Außenseiter, von Röttgen redet keiner. Dann: Corona. Zeitgewinn für Kramp-Karrenbauer, was außer mir Durchblicker aber bisher alle übersehen.
Matthias Dell
Matthias Dell, Jahrgang 1976, studierte Komparatistik und Theaterwissenschaft in Berlin und Paris. Er schrieb von 2004 bis 2014 für das Medien-Watchblog "Altpapier" und veröffentlicht jeden Sonntag nach der Ausstrahlung eine Kritik zum aktuellen "Tatort" beziehungsweise "Polizeiruf" auf Zeit Online. 2012 erschien sein Buch "'Herrlich inkorrekt'. Die Thiel-Boerne-Tatorte" bei Bertz+Fischer.
Söders Stern geht auf, strahlt zwar gerade auch nicht mehr so hell, aber so glanzlos wie Laschet ist er dann doch nicht. Merz legt zu, jammert aber dauernd rum wie ein Opfer, dabei will er doch Mover und Shaker sein. Außerdem zu oldschool, in jeder Hinsicht. Röttgen hat Momente, der Gummiball, die US-Wahl. Aber er hat, anders als Kramp-Karrenbauer, keine Wahlen gewonnen, keine Führungserfahrung. Als Politiker musst du Wahlen gewinnen, haue ich in die Tasten.
Und fertig ist der Hammertext
Und Kramp-Karrenbauer? Sie kann nun auch Krise, sie kann Rückschlag, sie kann Comeback – das schreibe ich da genauso hin, weil wir Politikjournalisten am Puls der Spree eines können müssen – aufs Vollverb verzichten! Weil: so reden die Mover und Shaker nun mal, und wenn ich auch einer sein will, dann ist das meine Sprache. Ich kann Mover und Shaker. Ich leg mich doch nicht mit dem Misserfolg ins Bett, ich wache neben denen auf, die wirklich wichtig sind, und, sorry, Christian Lindner: Das bist nicht Du.
Zurück zum Text: Kramp-Karrenbauer kann alles, Kanzlerin oder warten und Söder das Scheitern überlassen, so wie Merkel das mit Stoiber vorgemacht hat. Kramp-Karrenbauer ist nämlich die Chefin im Ring, aktuell, sie hält den Laden zusammen und handelt zwischen den drei Jungs, die sich im Sandkasten um die Förmchen streiten, geduldig Kompromisse aus. "Rüffel für die Büffel." So geht Politik. À la bonne heure! Dazu noch ein Churchill-Zitat. Fertig ist der Hammertext.
Die Zeit nach Merkel
Im Februar verkündete Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Rückzug von der Parteispitze, die Pandemie verhinderte bisher die Wahl eines Nachfolgers. Das Umfragehoch übertüncht, dass die CDU für junge Wähler wenig attraktiv ist, sich schwer tut mit moderner Frauen- und Klimapolitik.
Idee: Personalbingo künftig nur noch zehn Tage vor der Wahl
Warum würde ich das aufschreiben? Weil ich es kann. Als Super-Top-Checker-Politikjournalist. Weil es bei diesen komplett sinnlosen Personalorakeln eines personenfixierten Hauptstadtjournalismus um nichts anderes geht, als heute so und morgen so in die Glaskugel zu gucken. Was wir seit fast einem Jahr am Beispiel des CDU-Vorsitzes erleben.
Ich als Medienjournalist kann verstehen, was daran attraktiv ist: die Nähe zur Macht, das Sich-Spiegeln im Erfolg, der Wichtigkeitstransfer, den die richtige Wette bewirken kann – in beide Richtungen. Aber was darunter leidet, ist der Politikbegriff, sind die Sachfragen, die von überflüssigen Spekulationen verdrängt werden.
Deshalb: Personalbingo wie aktuell beim CDU-Vorsitz wird medial künftig nur noch zehn Tage vor der jeweiligen Wahl gespielt. Und der Rest der Zeit wird in die Beschreibung der Komplexität von Klimapolitik, Steuerungerechtigkeit und sozialem Wohnungsbau investiert.