Wer unter den jüngeren, nicht-türkischen Literaturfreunden kennt heute noch Gedichte von Nâzım Hikmet, ein einziges nur? Es dürfte nicht viele große Dichter geben, die auf internationalem Parkett so hoch gestiegen und dann so rasch verdrängt worden sind wie Nâzım; so, einfach beim Vornamen, nennen ihn seine Anhänger.
Beides, sein internationaler Ruhm aufgrund der Vereinnahmung durch die Kommunisten, ebenso wie die spätere Geringschätzung sind ungerechtfertigt. Nâzım Hikmet ist ein großer Dichter, aber er ist eben auch ein Sozialist. Diese aussterbende Spezies von Dichtern erweist sich in Zeiten, wo sich die Lyrik auf feinsinnige Sprachspielereien beschränkt, als überraschend lebendig, ja teils überwältigend.
Vielleicht liegt es daran, dass 1902 geborene Nâzım Hikmet alles andere als ein poetischer Schreibtischtäter war. Er hat seine Zeit und seine politischen Überzeugungen gelebt wie nur wenige Autoren seiner Größe.
"Ich habe im Kittchen geschlafen und in großen Hotels / mit dreißig sollte ich gehängt werden / mit achtundvierzig die Friedensmedaille verliehen bekommen und bekam sie verliehen", heißt es in dem Gedicht "Lebenslauf". Sechzehn Jahre seines 62-jährigen Lebens verbrachte er im Gefängnis, zwanzig Jahre im Ausland, davon mindestens dreizehn unfreiwillig, als Exilant in Osteuropa. Seit er 1921, im Alter von neunzehn, zum Studium nach Moskau gegangen war, befand er sich bis zu seinem Tod gerade einmal sieben Jahre auf freiem Fuß in der Türkei.
Die einzigartige Mischung von Mystiker und Kommunist, wie sie von Nâzım Hikmet verkörpert wurde, ist wohl nur im Orient denkbar. Der "Hafis des Kapitels" müsste er werden, schreibt er in einem frühen programmatischen Gedicht, Karl Marx also in der Gestalt des mittelalterlichen persischen Dichters Hafis, dessen mystische Töne schon Goethe zu seinem west-östlichen Divan inspirierte. Wieviel mehr muss er Hikmet inspiriert haben, der in seiner Jugend das klassische Osmanisch lernte und Hafis im Original gekannt haben dürfte.
Die liedhafte, immer zur Rezitation drängende klassische Sprache der mystischen Dichtung, die Nâzım als Kind ins Blut überging, findet sich noch in jenen seiner Versen, die sonst keine Affinitäten zur osmanischen Tradition aufweisen. Ihr Urgrund ist pantheistisch - er erlaubt dem Dichter die Feier der Schöpfung und zugleich ein kosmisches Mitgefühl mit allen Geschöpfen. Es ist dieses Mitgefühl, das die Mystik, von der Nâzım zehrt, anschlussfähig macht an den Sozialismus:
Willst du wissen
Von welchem der beiden ich abstamme, steck deinen Kopf
In meine
Hosentasche:
Dort
sagt dir ein Stück erleuchtetes Schwarzbrot
die Wahrheit.
Die Wahrheit ist freilich, dass Nâzım gediegenen bildungsbürgerlichen Verhältnissen entstammt. Sein menschliches Erweckungserlebnis hatte er auf einem Fußmarsch durch Anatolien, wo er das Elend und den Hunger der dortigen Bevölkerung kennenlernte. In Ankara wollte er sich dem von Atatürk geführten nationalen Widerstand als Dorflehrer andienen - eine Tätigkeit, die er nach wenigen Monaten aufgab, als sich ihm die Gelegenheit bot, einen Passierschein nach Russland zu erhalten.
Als er auf dem Weg nach Moskau in einer russischen Zeitung ein Gedicht von Majakowski erblickte, dessen Zeilen stufenförmig über die Seiten liefen, war er sogleich fasziniert. Die persönliche Begegnung mit den russischen Futuristen und der brodelnden intellektuellen Szene im Moskau der zwanziger Jahre machte den klassisch gebildeten, empfindsamen jungen Mann zum Erneuerer der türkischen Lyrik. Innerhalb von wenigen Jahren zerfiel die klassische osmanische Diwandichtung zu Staub, zermahlen von der Ästhetik der Futuristen, die sich Hikmet zu eigen machte und mit der überlieferten türkischen Sprachmelodie neu auflud:
Wir haben in den 4. Gang geschaltet
Wir heben schon ab
Unser Gedicht heißt
Konstruktivismus
Jenseits der Programmatik, angewendet auf das, was er auf seinen Wanderungen in Anatolien gesehen hatte, klingt der lyrische Motor im vierten Gang tatsächlich beeindruckend. Hören wir den Beginn des Gedichts "Die Pupillen der Hungernden":
Nicht drei oder vier
Nicht fünfzehn -
Dreißig Millionen
Hungernde
Haben wir
Wir haben sie!
Sie
Haben uns!
Das Meer
Hat Wogen!
Wogen haben das Meer!
Nicht drei oder vier,
nicht fünfzehn -
30.000.000!
30.000.000!
Während der jahrelangen Gefangenschaften wurde Hikmets labile Gesundheit ruiniert, aber er gewann den langen Atem und zugleich - durch den Umgang mit den Gefangenen aus allen sozialen Milieus - das vielfältige Anschauungsmaterial, das in seine Werk eingegangen ist. Von den Versepen Nâzıms wie den berühmten vielbändigen "Menschenlandschaften" finden wir unter der kenntnisreich zusammengestellten Auswahl von Gisela Kraft das frühste. Es handelt sich um das während des Gefängnisaufenthaltes von 1933 bis 1935 entstandene "Epos vom Scheich Bedreddin", einem frühneuzeitlichen Sozialrevolutionär im Osmanischen Reich.
Es ist ein sozialistisches Lehrgedicht über einen Stoff aus der türkischen Geschichte, aber es hat nichts von der Trockenheit, die mit dem Lehrgedicht in unseren Breiten einhergeht. Man könnte Nâzım einen Bert Brecht nennen, aber er ist ein besserer Brecht, mit einer größeren, heißblütigeren und eben darum poetischeren Seele. Nachdem die Aufständischen um Scheich Bedreddin besiegt worden sind, heißt es:
Sag nicht:
Solches war
Nach den sozialen, historischen und okönomischen Umständen
Nicht zu vermeiden.
Ich weiß.
Aber mein Herz
Will diese Sprache nicht leiden.
Es schreit: He, niederträchtige Welt!
He Schicksal, gemeine Hure!
Und zuckt
Unter den Schritten
Des Zugs der Besiegten von Karaburun
Barfuß, die Gesichter im Blut,
Schulter an Schulter, von Peitschenstriemen zerschnitten.
Heute Nâzım Hikmet zu lesen, nachdem alle sozialistischen Träume ausgeträumt scheinen, zumal in der Literatur, kommt mit der Wucht einer Offenbarung über den Leser. Stimmt, erinnert man sich, es gab einmal Anliegen, Engagement, höchst berechtigtes sogar! Ja, mehr noch: Es gab einmal eine Sprache dafür, Lyrik, die nicht nur echte Lyrik sein wollte, sondern überdies eine Aussage hatte, kämpferisch war, die Menschen ansprechen konnte.
Von reiner Propaganda jedenfalls ist in dieser Ausgabe nichts zu spüren. Stattdessen finden wir auch teils völlig unpolitische Texte, in denen Nâzıms stupende Beobachtungsgabe mit seiner melodischen, mit häufigen Wiederholungen arbeitenden lyrischen Technik eine hochemotionale Verbindung eingeht, die heute lehren kann, was Lyrik vermag. Wer vermag schon wie Nâzım die so einfache aber doch kaum beschreibliche Ekstase einer "Tischrunde" unter Freunden in einer Stadt am Meer in ein zeitloses Gedicht verwandeln:
In Varna bin ich verrückt geworden,
bin durchgedreht.
Auf dem Tisch Tomaten, grüne Paprika, gebackener Steinbutt,
im Radio "He Kerle!, Schwarzmeerluft,
Raki im Glas, mit Wasser Löwenmilch, Anis, ah, der Anisduft!
Meine Zunge gelöst wie unter Brüdern, Vertrauten ...
Es geht aufwärts, hui, es geht aufwärts mit mir ...
In Varna bin ich verrückt geworden,
bin durchgedreht ...
Die Nachdichtungen von Gisela Kraft machen den zweisprachigen Band selbst für diejenigen Leser zu einem literarischen Ereignis, die des Türkischen nicht mächtig sind. Die Übersetzerin schafft es, mit ihrem Enthusiasmus für Hikmet den Leser anzustecken, nicht zuletzt dank ihres einfühlsamen Nachworts. Und wenn man das Buch zuklappt, schüttelt man fragend den Kopf: Wie konnte es passieren, dass Nâzım Hikmet so lange fast vergessen und ungelesen war?
Nazim Hikmet: Hasretlerin Adi. Die Namen der Sehnsucht
Gedichte. Übersetzt von Gisela Kraft
Ammann Verlag, Zürich 2008, 360 Seiten, 29,90 Euro
Beides, sein internationaler Ruhm aufgrund der Vereinnahmung durch die Kommunisten, ebenso wie die spätere Geringschätzung sind ungerechtfertigt. Nâzım Hikmet ist ein großer Dichter, aber er ist eben auch ein Sozialist. Diese aussterbende Spezies von Dichtern erweist sich in Zeiten, wo sich die Lyrik auf feinsinnige Sprachspielereien beschränkt, als überraschend lebendig, ja teils überwältigend.
Vielleicht liegt es daran, dass 1902 geborene Nâzım Hikmet alles andere als ein poetischer Schreibtischtäter war. Er hat seine Zeit und seine politischen Überzeugungen gelebt wie nur wenige Autoren seiner Größe.
"Ich habe im Kittchen geschlafen und in großen Hotels / mit dreißig sollte ich gehängt werden / mit achtundvierzig die Friedensmedaille verliehen bekommen und bekam sie verliehen", heißt es in dem Gedicht "Lebenslauf". Sechzehn Jahre seines 62-jährigen Lebens verbrachte er im Gefängnis, zwanzig Jahre im Ausland, davon mindestens dreizehn unfreiwillig, als Exilant in Osteuropa. Seit er 1921, im Alter von neunzehn, zum Studium nach Moskau gegangen war, befand er sich bis zu seinem Tod gerade einmal sieben Jahre auf freiem Fuß in der Türkei.
Die einzigartige Mischung von Mystiker und Kommunist, wie sie von Nâzım Hikmet verkörpert wurde, ist wohl nur im Orient denkbar. Der "Hafis des Kapitels" müsste er werden, schreibt er in einem frühen programmatischen Gedicht, Karl Marx also in der Gestalt des mittelalterlichen persischen Dichters Hafis, dessen mystische Töne schon Goethe zu seinem west-östlichen Divan inspirierte. Wieviel mehr muss er Hikmet inspiriert haben, der in seiner Jugend das klassische Osmanisch lernte und Hafis im Original gekannt haben dürfte.
Die liedhafte, immer zur Rezitation drängende klassische Sprache der mystischen Dichtung, die Nâzım als Kind ins Blut überging, findet sich noch in jenen seiner Versen, die sonst keine Affinitäten zur osmanischen Tradition aufweisen. Ihr Urgrund ist pantheistisch - er erlaubt dem Dichter die Feier der Schöpfung und zugleich ein kosmisches Mitgefühl mit allen Geschöpfen. Es ist dieses Mitgefühl, das die Mystik, von der Nâzım zehrt, anschlussfähig macht an den Sozialismus:
Willst du wissen
Von welchem der beiden ich abstamme, steck deinen Kopf
In meine
Hosentasche:
Dort
sagt dir ein Stück erleuchtetes Schwarzbrot
die Wahrheit.
Die Wahrheit ist freilich, dass Nâzım gediegenen bildungsbürgerlichen Verhältnissen entstammt. Sein menschliches Erweckungserlebnis hatte er auf einem Fußmarsch durch Anatolien, wo er das Elend und den Hunger der dortigen Bevölkerung kennenlernte. In Ankara wollte er sich dem von Atatürk geführten nationalen Widerstand als Dorflehrer andienen - eine Tätigkeit, die er nach wenigen Monaten aufgab, als sich ihm die Gelegenheit bot, einen Passierschein nach Russland zu erhalten.
Als er auf dem Weg nach Moskau in einer russischen Zeitung ein Gedicht von Majakowski erblickte, dessen Zeilen stufenförmig über die Seiten liefen, war er sogleich fasziniert. Die persönliche Begegnung mit den russischen Futuristen und der brodelnden intellektuellen Szene im Moskau der zwanziger Jahre machte den klassisch gebildeten, empfindsamen jungen Mann zum Erneuerer der türkischen Lyrik. Innerhalb von wenigen Jahren zerfiel die klassische osmanische Diwandichtung zu Staub, zermahlen von der Ästhetik der Futuristen, die sich Hikmet zu eigen machte und mit der überlieferten türkischen Sprachmelodie neu auflud:
Wir haben in den 4. Gang geschaltet
Wir heben schon ab
Unser Gedicht heißt
Konstruktivismus
Jenseits der Programmatik, angewendet auf das, was er auf seinen Wanderungen in Anatolien gesehen hatte, klingt der lyrische Motor im vierten Gang tatsächlich beeindruckend. Hören wir den Beginn des Gedichts "Die Pupillen der Hungernden":
Nicht drei oder vier
Nicht fünfzehn -
Dreißig Millionen
Hungernde
Haben wir
Wir haben sie!
Sie
Haben uns!
Das Meer
Hat Wogen!
Wogen haben das Meer!
Nicht drei oder vier,
nicht fünfzehn -
30.000.000!
30.000.000!
Während der jahrelangen Gefangenschaften wurde Hikmets labile Gesundheit ruiniert, aber er gewann den langen Atem und zugleich - durch den Umgang mit den Gefangenen aus allen sozialen Milieus - das vielfältige Anschauungsmaterial, das in seine Werk eingegangen ist. Von den Versepen Nâzıms wie den berühmten vielbändigen "Menschenlandschaften" finden wir unter der kenntnisreich zusammengestellten Auswahl von Gisela Kraft das frühste. Es handelt sich um das während des Gefängnisaufenthaltes von 1933 bis 1935 entstandene "Epos vom Scheich Bedreddin", einem frühneuzeitlichen Sozialrevolutionär im Osmanischen Reich.
Es ist ein sozialistisches Lehrgedicht über einen Stoff aus der türkischen Geschichte, aber es hat nichts von der Trockenheit, die mit dem Lehrgedicht in unseren Breiten einhergeht. Man könnte Nâzım einen Bert Brecht nennen, aber er ist ein besserer Brecht, mit einer größeren, heißblütigeren und eben darum poetischeren Seele. Nachdem die Aufständischen um Scheich Bedreddin besiegt worden sind, heißt es:
Sag nicht:
Solches war
Nach den sozialen, historischen und okönomischen Umständen
Nicht zu vermeiden.
Ich weiß.
Aber mein Herz
Will diese Sprache nicht leiden.
Es schreit: He, niederträchtige Welt!
He Schicksal, gemeine Hure!
Und zuckt
Unter den Schritten
Des Zugs der Besiegten von Karaburun
Barfuß, die Gesichter im Blut,
Schulter an Schulter, von Peitschenstriemen zerschnitten.
Heute Nâzım Hikmet zu lesen, nachdem alle sozialistischen Träume ausgeträumt scheinen, zumal in der Literatur, kommt mit der Wucht einer Offenbarung über den Leser. Stimmt, erinnert man sich, es gab einmal Anliegen, Engagement, höchst berechtigtes sogar! Ja, mehr noch: Es gab einmal eine Sprache dafür, Lyrik, die nicht nur echte Lyrik sein wollte, sondern überdies eine Aussage hatte, kämpferisch war, die Menschen ansprechen konnte.
Von reiner Propaganda jedenfalls ist in dieser Ausgabe nichts zu spüren. Stattdessen finden wir auch teils völlig unpolitische Texte, in denen Nâzıms stupende Beobachtungsgabe mit seiner melodischen, mit häufigen Wiederholungen arbeitenden lyrischen Technik eine hochemotionale Verbindung eingeht, die heute lehren kann, was Lyrik vermag. Wer vermag schon wie Nâzım die so einfache aber doch kaum beschreibliche Ekstase einer "Tischrunde" unter Freunden in einer Stadt am Meer in ein zeitloses Gedicht verwandeln:
In Varna bin ich verrückt geworden,
bin durchgedreht.
Auf dem Tisch Tomaten, grüne Paprika, gebackener Steinbutt,
im Radio "He Kerle!, Schwarzmeerluft,
Raki im Glas, mit Wasser Löwenmilch, Anis, ah, der Anisduft!
Meine Zunge gelöst wie unter Brüdern, Vertrauten ...
Es geht aufwärts, hui, es geht aufwärts mit mir ...
In Varna bin ich verrückt geworden,
bin durchgedreht ...
Die Nachdichtungen von Gisela Kraft machen den zweisprachigen Band selbst für diejenigen Leser zu einem literarischen Ereignis, die des Türkischen nicht mächtig sind. Die Übersetzerin schafft es, mit ihrem Enthusiasmus für Hikmet den Leser anzustecken, nicht zuletzt dank ihres einfühlsamen Nachworts. Und wenn man das Buch zuklappt, schüttelt man fragend den Kopf: Wie konnte es passieren, dass Nâzım Hikmet so lange fast vergessen und ungelesen war?
Nazim Hikmet: Hasretlerin Adi. Die Namen der Sehnsucht
Gedichte. Übersetzt von Gisela Kraft
Ammann Verlag, Zürich 2008, 360 Seiten, 29,90 Euro