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Hebbels "Judith" an der Berliner Volksbühne
Kopf ab den Ungläubigen?

Abgetrennte Köpfe, Fleischfetzen und Asphaltbühne: Frank Castorf inszeniert an der Berliner Volksbühne die Bibelgeschichte von Judith und Holofernes - und spart nicht mit Grausamkeiten.

Von Michael Laages | 21.01.2016
    Frank Castorf, Theaterregisseur und Intendant der Berliner Volksbühne, aufgenommen 2007.
    Frank Castorf, Theaterregisseur und Intendant der Berliner Volksbühne (Jack Guez / AFP)
    Natürlich erzählt Frank Castorf einmal mehr nicht nur das Stück, das auf dem Programmzettel steht ... aber gerade diese "Judith", Hebbels Erstlingsdrama aus dem Jahr 1840, diese blutige Fabel um Glauben, Schuld und Eros kann Umfeld, Hinter- und Untergründe recht gut vertragen. Castorfs Team ist fündig geworden bei einem der künstlerischen Haus-Heiligen des Regisseurs: beim Franzosen Antonin Artaud, dessen 1972 auf Deutsch erschienene Schrift "Heliogabal oder Der Anarchist auf dem Thron" von einem der grausamsten unter den römischen Herrschern erzählt, dem im heutigen syrischen Homs geborenen Heliogabalus, der sich auf dem Thron Marcus Aurelius nannte. Um ihn herum entwickelt Artaud (und mit ihm Castorf jetzt) ein Geflecht aus Mythen und Mysterien, in dessen Zentrum der Krieg steht:
    "Dieser Krieg ist keine Legende, sondern Wirklichkeit. Er hat tatsächlich stattgefunden. Und alle Prinzipien, jedes mit seinen Energien und seinen Kräften, haben daran teilgenommen – vor allem die beiden Prinzipien, von denen das kosmische Leben abhängt: das männliche und das weibliche."
    Immer wieder wird, wie zwischen Judith und Holofernes, die Schlacht der Geschlechter beschworen:
    "... Mond, Sonne, Mann und Frau, deren lebendige Verkörperung auf unglaubliche Weise die Geografie Syriens darstellt!"
    Womit der historische Hebbel locker verankert wird in jenem Kampf der Kulturen, in den sich das alte Europa plötzlich verwickelt sieht in diesen Zeiten - prompt braucht es bei dieser Masse an Hintergrund keinerlei Bemühen um Aktualitäten mehr. Derlei historische Umfeldforschung beherrscht und nutzt Castorf wie sonst niemand.
    Zu überwiegend nahöstlich gestimmter Musik, mit gelegentlichen Überfällen aus Oper und Heavy Metal, nimmt die Inszenierung für all das intellektuelle Drumherum eine etwas mürbe halbe Stunde zum Entree in Kauf. Auf einem riesigen Haufen der sonst auf dem Asphalt im Zuschauerraum benutzten Sitzkissen turnen Birgit Minichmayr und Martin Wuttke herum und hangeln sich auf unsicher-wackligem Untergrund genau so durch den Text, gestützt vom knorrig tönenden Mex Schlüpfer, einem der bei Castorf immer willkommenen Theater-Sonderlinge vom Rand der Szene. Erst nach diesen Turn- und Theorie-Übungen werden Minichmayr und Wuttke zu "Judith" und "Holofernes"; wobei beide in der Folge eine gehörige Tendenz zu Ironie und Farce in der Spielhaltung über die Tragöden-Profile schütten. Das alte Pathos ist ein Witz. In der Begegnung beider allerdings legt sich umgekehrt über die immer auch vorhandene Groteske ziemlich viel blutiger Ernst, schmerzliche Lust:
    "Vielleicht erstickt sie mit ihren Küssen meinen ganzen Zorn ..."
    Wie sie heiße, fragt der spürbar verwirrte Macho-Man:
    "Ich heiße – Judith?"
    "Fürchte dich nicht, Judith, denn Du gefällst mir, wie mir noch nie ein Weib gefiel."
    "Ja. Das ist das Ziel ... das Ziel meiner Wünsche!"
    Der Mord selber wird als launiger Theatertrick gezeigt – schon eine Weile zuvor spielt Holofernes selber wie auch die zukünftige Mörderin mit einem Double von Wuttkes Kopf herum und als der Kopf eigentlich runter ist, begegnet Judith dem Toten in der eigenen Kammer von neuem – der Kampf ist lang noch nicht zu Ende, die Männer-Monster wachsen nach. Und das grandioseste Ereignis dieses an sich schon sehr aufregenden Abends ist dem Chor vorbehalten:
    "Judith! Du bist so mutig, dass Du aufhörst, schön zu sein!"
    Damit nicht genug – zwanzig Köpfe stark, Männer und Frauen gemischt, entfesselt dieser Chor unter Leitung von Christine Groß sowohl den Streit der verzweifelten Bürger in Judiths belagerter Stadt als auch eine filigrane Baudrillard-Debatte über das Wesen des Hasses. Da schaut aus irgendeiner anderen Welt der tote Einar Schleef herab auf den Kollegen Castorf – und freut sich.