Der Regisseur Dieter Wedel hat bereits 2010 in einem Interview bekannt gegeben, er wolle "kein Sadist mehr sein". Dieser Vorsatz war aber nicht einer plötzlich aufkommenden Menschenfreundlichkeit geschuldet, sondern reine Strategie: Er setze seine Wutanfälle bei Dreharbeiten jetzt "kalkuliert" ein, sagte Wedel damals. Wir können das nicht überprüfen, wissen aber durch den jahrelangen Besuch der Wormser "Nibelungenfestspiele", dass Wedel sich auch auf dem Theater für Wüteriche aller Art interessiert, Burgunder, Hunnen, Hagen, Kriemhild und die deutsche Wehrmacht, die eisern, tumb und sehenden Auges dem Untergang entgegenmarschiert – das war schon des öfteren die Folie, auf der Wedel die Nibelungensage für die Moderne tauglich machen wollte; so auch dieses Mal.
In einer Art Zweitberuf ist Dieter Wedel aber auch keuscher Domherr: Als Intendant der Nibelungenfestspiele verfügt er über einen der wuchtigsten Freiluft-Spielorte der Republik, den Raum vor den Fassaden des Wormser Kaiserdoms. Und der Anblick des romanischen Kirchenschiffs tröstete über manches pathetische Gebrüll in Wedels Inszenierungen hinweg.
Bei seiner letzten Premiere als Intendant hat Dieter Wedel nun seine bislang beste Inszenierung abgeliefert - weil er sich nach dreizehn Jahren am Rhein offenbar erstmals mit den Erzählweisen heutigen Theaters auseinandergesetzt hat. Er kann vom großen Kriegsgemälde nicht ganz lassen, aber insgesamt ist die Aufführung von kammerspielartiger Stille und Bescheidenheit. Zwischendrin immer wieder Rückfälle ins Idyllische, Kriemhild treibt die Zicklein vor sich her, Etzel wirbt auf einem wirklich schönen Rappen um die leidgeprüfte Witwe; frischgewaschene Mädchenchöre singen "Es kommt der Tag, da will ich in die Fremde", und schon marschieren die Burgunder ins Hunnenland. Das sind so die Klischees, in denen der Fernsehmann Wedel denkt.
Vorsichtiger Umgang mit der Materie
Aber insgesamt geht der Regisseur nun sehr viel vorsichtiger mit der Materie um als etwa 2007, als er die Burgunder aus platt ökonomischen Gründen - Wirtschaftskrise, Verschuldung - nach Osten marschieren ließ und für sie an Etzels Hof nicht nur ein Blut-, sondern zuerst auch ein Schaumbad anrichtete. So was fällt nun flach, was auch an dem Hebbel-Text liegen mag, der "Kriemhilds Rache" doch etwas differenzierter erzählt als 2007 Moritz Rinke.
Wedel beginnt seine letzte Nibelungen-Inszenierung, als wolle er das Lied vom Tod erzählen, ganz atmosphärisch-düster, es wummern Trommeln und tiefe Bässe, dunkle Gestalten zwischen Krieger und Mönch entern prozessionsartig die Bühne. Siegfrieds Leiche wird hereingeschleift, eine leicht hysterische Kriemhild schwört Rache, auf die Wand des Doms wird in Rot der Schriftzug "Mörder" gesprüht. Dass man dann ein bisschen schlechten Fernsehfilm angucken muss, Siegfrieds Abschlachtung auf grasgrüner Wiese bei einem ländlichen Fest, ist wieder so eine Kehrtwende ins Publikumsfreundliche.
"Apokalypse Now" steht Pate
Dann aber übernimmt der Musiker Matthias Trippner mit seinen Trommeln und Sounds die Tonregie, und die Burgunder begeben sich unter der Leitung des todessüchtigen Hagen an Etzels Hof. Es ist klar, dass "Apokalypse Now" hier Pate stehen soll; Wedel lässt zunächst die Burgunder als Wehrmacht, dann die Hunnen als heutige westliche Militärmaschine marschieren, die wir aus dem Irak, Afghanistan oder dem Nahost-Konflikt kennen. Ob diese heutigen Konflikte einfach 1:1 auf die Nibelungen und Kriemhilds Maßlosigkeit zu projizieren sind, sei einmal dahingestellt. Hagen von Tronje aber ist wieder die wichtigste Figur: Lars Rudolph spielt ihn als zynischen, in seinen Träumen von Racheweibern verfolgten Machtmenschen.
Das High-Society-Publikum applaudierte nur moderat, es wollte sich seine Feierlaune nicht verderben lassen. Dieter Wedel aber hat erst kurz vor seinem Abschied erkannt, was er in Worms hätte machen können. Nun verläßt er die Stadt – man muss mal hinaus, wie es bei Hebbel heißt.