Texte über die Geschichte der Demokratie erzählen in den meisten Fällen höchstens die halbe Wahrheit – schließlich durfte die weibliche Hälfte der Menschheit für den größten Teil dieser Geschichte nicht am Projekt Demokratie teilhaben. Erst vor gut 100 Jahren haben die ersten Frauen begonnen, nationale Parlamente zu wählen und sich in diese Parlamente wählen zu lassen.
Männer in Waffen und im Aufruhr
Im Band "Frauenwahlrecht: Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa" bringen die Herausgeberinnen Hedwig Richter und Kerstin Wolff diesen toten Winkel in der Geschichtsschreibung anschaulich auf den Punkt:
"Von den europäischen Barrikaden, über die philippinischen Freiheitskämpfer, von den bewaffneten Rebellen in Kenia bis hin zu George Washingtons Armee - die Geschichte der Ursprünge von Demokratie präsentieren sich der Welt als eine Geschichte von Männern in Waffen und im Aufruhr. [...] Es ist also folgerichtig, dass die politische Ermächtigung der Hälfte der Menschheit durch das Frauenwahlrecht in vielen Demokratiegeschichten kaum der Erwähnung wert scheint."
Gewaltfrei, gemächlich und langwierig
Allenfalls die britischen Suffragetten, eine militante Minderheit in der europäischen Frauenwahlrechtsbewegung, hätten es mit Waffengewalt in die "demokratiegeschichtliche Hall of Fame" geschafft und würden starbesetzt in Hollywoodfilmen gewürdigt.
Der Band versucht, eine andere Geschichte der Demokratisierung zu erzählen – gewaltfrei, gemächlich und als Teil langwieriger gesellschaftlicher Veränderungen.
Das Buch zeigt die vielen Schritte auf dem Weg zum Frauenwahlrecht, etwa das Mitwirken von Frauen im Vereinswesen, bessere Bildungschancen vor allem für Mädchen oder das kommunale Wahlrecht, das einige wohlhabende Frauen vielerorts schon früher ausüben konnten.
Unkonventionelle Methoden
Die zahlreichen Frauenvereine, allen voran der ADF, der Allgemeine Deutsche Frauenverein, setzten auch auf unkonventionelle Methoden – etwa, um wahlberechtigte Frauen im persönlichen Anschreiben zu überzeugen, ihre Stimme bei der Kommunalwahl abzugeben:
"Dazu wurden zunächst die 93 Gemeinden der Provinz angeschrieben, von denen jedoch nur acht [...] überhaupt Antwort gaben. Mitglieder beider Vereine liehen sich daraufhin ein Auto und fuhren in alle Gemeinden der ländlichen Provinz, um selbst zu überprüfen, welche Frauen wahlberechtigt sein könnten",
beschreibt Birte Förster eine Aktion lokaler Frauenvereine im Jahr 1909.
Die radikale Forderung, Frauen als Menschen zu sehen
An anderen Stellen lässt der Band Stimmen zu Wort kommen, die das Menschenbild der Zeit verdeutlichen, eines nach dem politische Teilhabe für Frauen eine radikale Forderung war.
Susanne Schötz zitiert in ihrem Aufsatz über Louise Otto-Peters, die Gründerin des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, einen Vortrag von Otto-Peters aus dem Jahr 1869, in dem sie als eine der Ersten sehr vorsichtig die Idee des Frauenwahlrechts und weiblicher Parlamentsmitglieder anspricht:
"...und selbst wenn eine Frau in den Reichstag gewählt würde, so würde dies den socialen Fragen nur nützlich sein. Aber ich spreche dies nur im Princip aus, dafür wirken zu wollen, wäre noch zu früh."
Birte Förster zitiert aus einem Beitrag im Darmstädter Tagblatt, in dem eine Ortsgruppe des ADF 1904 klarstellt, sie habe nichts mit "dem anrüchigen Begriff 'Emanzipation'" zu tun.
Frauen sollen Frauenpolitik machen
Kaum jemand wäre Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Idee gekommen, ein Wahlrecht für Frauen zu fordern, weil diese nun einmal Menschen sind - denen politische Partizipation zusteht.
Stattdessen argumentierten viele Befürworterinnen und Befürworter des Frauenwahlrechts gerade mit einer grundlegenden Differenz zwischen Männern und Frauen:
"Frauen definierten weibliche Räume und Tätigkeitsfelder als politisch, verwiesen auf ihre besondere Expertise und forderten die entsprechenden politischen Rechte ein. Wie häufig bei der Argumentation für Frauenrechte in der bürgerlichen Frauenbewegung war der 'weibliche Einfluss' ein bedeutsames Argument",
schreibt Barbara von Hindenburg in ihrem Aufsatz.
Das Private wird politisch
An der Vorstellung, dass Frauen für Kinder, Küche und Kirche zuständig waren, wurde nicht gerüttelt, wohl aber an der Idee, dass Kinder, Küche und Kirche nichts mit Politik zu tun hätten. Jahrzehnte bevor es zum Slogan wurde, war das Private im Begriff politisch zu werden.
Diese Argumentation half zwar letzten Endes, auch Konservative von der Idee des Frauenwahlrechts zu überzeugen, beseitigte aber nicht die Vorstellung, dass Frauen von Politik eigentlich keine Ahnung und auch kein Interesse daran hätten.
Nur wenige weibliche Abgeordnete
Nach den ersten Wahlen mit Frauenbeteiligung in Europa blieb die Anzahl der Parlamentarierinnen verschwindend gering. Lutz Vogel zeigt das am Beispiel des sächsischen Landtags: Von 200 Kandidatinnen wurden nur 19 tatsächlich Abgeordnete. Birte Förster analysiert Ähnliches. Das Wahlrecht sei ein wichtiger Schritt gewesen, aber noch lange nicht das Ziel:
"In dieser Perspektive war das Wahlrecht eine Zwischenposition in einem Prozess der Inanspruchnahme und Durchsetzung staatsbürgerlicher Rechte, der im Grunde bis heute anhält."
Wahlwerbung zwischen Rezepten und Strickanleitungen
Wie lange es allein dauerte, bis die Überzeugung sich verbreitet hatte, dass Frauen sehr wohl in der Lage sind, sich für Politik zu interessieren, zeigt ein Text von Harm Kaal über niederländische Wahlwerbung.
Noch in den 50er und 60er Jahren versuchte man dort, wie auch in Deutschland und Großbritannien, Frauen als gesonderte Wählergruppe anzusprechen, die ihre Männer zur Wahl schicken und ihre Kinder zu guten Staatsbürgern erziehen sollten. Und damit die politischen Parolen den desinteressierten Damen nicht zu sehr auffielen, versteckte man sie in Hochglanzbroschüren zwischen Kochrezepten und Strickmustern.
Hedwig Richter, Kerstin Wolff (Hg.): "Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa",
Hamburger Edition, 300 Seiten, 30 Euro.
Hamburger Edition, 300 Seiten, 30 Euro.