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Heftige Darmwinde bei prügelndem Rohrstock

Maarten 'T Hart beleuchtet in seinem neuen Roman "Der Schneeflockenbaum" seine tiefe Freundschaft zu dem Sohn eines Nazi-Kollaborateurs. Das Bündnis der beiden Außenseiter schildert er autobiografisch.

Von Patrick van Odijk |
    Immer, wenn die Hauptperson des Romans sich verliebt, spannt ihm sogleich sein bester Freund das Mädchen aus. Das beginnt schon im Kindergarten, hält an während ihrer gemeinsame Schul – und Studienzeit und endet erst im reifen Mannesalter der beiden. Die Geschichte ist autobiografisch sagt Maarten ´T Hart.

    "Alles, was ich erzählt habe, ist passiert, ich hab so einen Freund, der immer meine Liebste weggeschnappt hat. Vom Kindergarten an. Es gibt ihn noch, es ist noch immer gefährlich mit ihm."

    Die Freundschaft beginnt in frühen Kindertagen als das Bündnis zweier Außenseiter. Der eine ist Jouri, Sohn eines Nazi-Kollaborateurs. Ein schweres Los in den Niederlanden der Nachkriegszeit. Der andere, Maarten ´t Hart selbst, leidet unter furchtbaren Blähungen und sitzt oft, aus vollen Hosen stinkend, in der Schule. Alle halten sich die Nase zu – nur Jouri nicht. Die beiden Jungs werden unzertrennliche Freunde. Sie durchleben ihre Schulzeit im engen, calvinistisch geprägten Maassluis bei Rotterdam. Sie leiden unter strengen Lehrern, die ihnen Glauben und Gehorsam mit dem Rohrstock einprügeln wollen. Dabei entweichen dem jungen Maarten ganz besonders heftige Darmwinde, was er in dem Roman auch drastisch schildert.

    "Ja, das ist doch etwas schlimm für Deutschland, oder nicht? Weil bei ihnen etwas sauberer ist als in Holland. Aber man muss doch nicht erschrecken bei Dingen, die auch zur menschlichen Natur gehören und man muss doch alles aufschreiben können, was passiert. Warum muss da ein Tabu sein. Und dann dacht ich: Das kann ich doch aufscheiben, aber das passiert eigentlich nicht. Das weiß ich."

    Maarten ´t Hart nimmt, wie in fast allen seinen autobiografisch geprägten Büchern, keinerlei Rücksicht auf sich selbst, seine Familie und die besten Freunde. Er beschreibt ausführlich seine sexuellen Obsessionen und die Liebesabenteuer aller beteiligten Freundinnen und Freunde. Dennoch lag der Entwurf zu diesem Buch lange in der Schublade. Aber dann fiel er vom Fahrrad und erlitt er einen komplizierten Beinbruch.

    "Im Hospital, da war ich ziemlich traurig und da dachte ich: Ich brauche etwas, um mich aufzumuntern. Und da habe ich noch eine Geschichte, die etwas Skurriles hat und etwas Amüsantes. Eine Geschichte von meinem Freund. Und dann habe ich begonnen, das aufzuschreiben, im Krankenhaus. Und das hat mich wirklich aufgemuntert und darum hab ich es geschrieben. Jetzt kann man darüber lachen. Damals nicht, aber jetzt kann man lachen."

    Maarten `t Hart jedenfalls und auch sein ewiger Nebenbuhler ist mit dem Buch einverstanden. Tatsächlich sind die beiden, bei allem was sie erlebt haben, noch immer dicke Freunde.

    "Das kommt davon, weil es ein so unglaublich netter Mann ist. 'Aardig aardig', sagt man auf Holländisch hübsch. Er ist eine anziehende Persönlichkeit und sehr freundlich und behulpsam er hilft mich immer mit mein Computer. Und so es bleibt doch ein sehr, sehr guter Freund."

    Die Geschichte dieser außergewöhnlichen Freundschaft schildert Maarten ´t Hart, trotz aller Widrigkeiten, die ihm widerfahren sind, mit großer Leichtigkeit und viel Humor. Und zugleich ist es ein Roman über sein Erwachsenwerden. Damit verbunden erwähnt er zahlreiche Themen, die ihn seit vielen Jahren beschäftigen. Als Verhaltensbiologe arbeitete er lange an der Universität Leiden. Seit dieser Zeit hat er mehr Respekt vor Tieren als vor Menschen. Im Roman beschreibt er dies trefflich bei der Schilderung eines erquicklichen Schäferstündchens mit einer Studentin. Deren Kinderwunsch begegnet er mit deutlicher Ablehnung.

    "Als wir wieder zu Atem gekommen waren, sagte sie, wobei sie warnend den Zeigefinger hob: "Wenn alle so denken würden wie Du, dann würden überhaupt keine Kinder mehr geboren."
    "Wäre das so schlimm?"
    "Dann würde alles zum Stillstand kommen."
    "Na und? Der letzte macht einfach das Licht aus. Danach wäre ein kolossaler Seufzer der Erleichterung zu hören."
    "Ein Seufzer? Von wem?"
    Von allem, was lebt. Wir trachten schließlich allem nach dem Leben. Der Mensch ist das verwerflichste Produkt der Evolution.""

    "Ja, das glaube ich doch. Weil alle Tiere dann sehr, sehr froh sind, dass wir dann gegangen sind. Wir verpesten, verseuchen die ganze Natur. Die Tiere haben einfach keinen guten Schutz. Sie sollen doch sehr froh sein, wenn wir gegangen sind. Eigentlich ist der Mensch eine Katastrophe. So, wie vor vielen Jahren ein Komet auf die Erde niedergestützt ist und alles ausgestorben ist, so ist nun der Mensch eine Art Katastrophe für die Welt."
    Maarten `t Hart wurde streng calvinistisch erzogen. Das ist in all seinen Büchern ein großes Thema. Aber den Glauben an Gott und die Vorsehung hat der studierte Naturwissenschaftler längst aufgegeben. Der Zufall regiere die Welt, sagt er heute:

    "Das ist das eigentliche Thema des Buches. Dass alles ein Zufall ist. Man kann auch anders leben. Alles hätte anders sein können, besser oder schlechter auch."

    Wenn ihm der beste Freund vielleicht das eine oder andere Mädchen weniger ausgespannt hätte. Und gleich zu Beginn des Romans beichtet seine hochbetagte Mutter anlässlich der Beerdigung ihres zweiten Mannes, dass sie zufällig zuerst den falschen Mann geheiratet habe. Maarten ´T Hart und sein Bruder seien deshalb auch nur zufällig auf der Welt. Denn der zweite Mann habe nur Töchter gezeugt.
    Obwohl Maarten ´T Hart nun Gott gegen den Zufall eingetauscht hat, leidet er noch stets unter seiner calvinistischen Erziehung.

    "Immer gestempelt, ja das bleibt noch immer. Eigentlich bin ich noch ein Calvinist geblieben, aber ohne Gott. So kann man das sagen." - "Wie äußert sich das?" - "Die Disziplin in Arbeit. Dass man ziemlich sparsam lebt, vorsichtig ist. Das ist calvinistisch. Und auch keine Partys liebt und diese dinge. Das gehört so bei meiner Erziehung und das ist immer so geblieben."

    Bis heute gönnt sich Maarten ´t Hart trotz guter Einkünfte keinerlei Luxus. Zur Rechtfertigung für den Besitz eines schönen Hauses ackert er täglich viele Stunden im Garten und versorgt sich im Sommer als Vegetarier weitgehend selbst. Er verreist auch nicht gerne, weil er es nicht ertragen kann, auch nur für einen Kaffe oder eine Übernachtung mehr Geld auszugeben, als es zu Hause kosten würde.

    In seinem neuen Buch denkt Maarten `t Hart auch über Literatur nach. Jouri, der später Mathematikprofessor wird, kann nicht verstehen, warum die Menschen Romane lesen. Das sei doch nur Ablenkung vom echten Leben und die konsequente Verweigerung, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Auch diese Diskussion hat zwischen den beiden Freunden wirklich stattgefunden.

    "Das war immer so überzeugend, wie er das zu mir gesagt hat. Und ich hab mir oft gedacht: Vielleicht hat er doch recht. Man liest das nur, um amüsiert zu werden. Oder um die Zeit zu passieren oder so etwas. Aber wirklich etwas davon lernen ... ich weiß es nicht. Deshalb bin ich halbherzig, weil ich dachte: Vielleicht hat er doch recht."

    Der Schriftsteller Maarten `t Hart müsste eigentlich selbstbewusst erwidern, dass es gerade die Qualität eines guten Romans sein könne, auf verborgene Vorgänge des Lebens hinzuweisen und Dinge zu benennen, die man nicht auf den ersten Blick erkenne. Von seinen eigenen Büchern erwartet er das jedenfalls.

    "Natürlich. Ich hoffe, dass man auch etwas lernt. Etwas lernt von anderen Menschen, anderen Zuständen. Ich denke auch, dass wenn man in Deutschland mein Buch liest, allerlei über Holland lernt, was man sonst nicht so einfach zu wissen bekommt."

    Auf sein Gesamtwerk, insbesondere seine großen Erfolge "Das Wüten der ganzen Welt" und "Der Psalmenstreit" trifft das zu. Auch sein neuer Roman "Der Schneeflockenbaum" steckt voller Einblicke in das strenge Alltagsleben einer niederländische Provinzstadt. Außerdem beweist er an vielen Stellen, dass er ein guter Erzähler ist. So inszeniert er die Reise zu einer Beerdigung als humorvoll-groteskes Wettrennen zwischen einem Doppeldeckerreisebus und dem Leichenwagen. Aber insgesamt erreicht die leicht erzählte Geschichte dieser außergewöhnlichen Freundschaft nicht die Qualität seiner besten Bücher. Viele spannende Themen wie Calvinismus, Außenseitertum, Biologie und die Liebe zur klassischen Musik werden nur angedeutet und verlieren sich dann wieder in der Geschichte. Dennoch ist es ein amüsant zu lesender, echter Maarten `t Hart.

    Übrigens auch in der flüssigen deutschen Übersetzung, wären da nicht ein paar heftige Stolpersteine eingebaut. So rast die Trauergemeinde gleich im ersten Satz des Buches zu einer Grube statt zu einem Grab. Aus dem Unterschied zwischen dem niederländischen Küssen und Zoenen, also Küssen und Knutschen, wird ein Küssen und ein Dauerbrenner. Und aus einem Kanalarbeiter im Original wird im Deutschen ein Grabmacher. Das vermasselt leider die Schlusspointe, in der die Ehefrau des Kanalarbeiters ihren Gatten des Ehebruchs ausgerechnet im Kanalrohr bezichtigt. Ein komischer Akt, der mit einem Grabmacher im Kanalrohr nicht so recht funktioniert, meint auch Maarten `t Hart.

    "Oh, das ist aber nicht richtig. Das soll ich noch alles nachschauen, dann kann ich mich darüber beklagen."

    Maarten 't Hart: Der Schneeflockenbaum; Piper Verlag, München