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Heikle Berichterstattung
Wie Medien Suizide verhindern können

Medien haben eine große Verantwortung, wenn sie über Suizide berichten. Sie können Nachahmer motivieren, aber auch von einem Versuch abhalten, sagte der Wiener Mediziner Thomas Niederkrotenthaler im Deutschlandfunk. Ausschlaggebend sei die Art und Weise, wie Medien berichten.

Thomas Niederkrotenthaler im Gespräch mit Stefan Fries |
Hinter einer Tür mit der Aufschrift "TelefonSeelsorge" hält eine ehrenamtliche Mitarbeiterin einen Telefonhörer in der Hand.
Die Telefonseelsorge ist Ansprechpartner für Menschen, die sich mit Suizidgedanken tragen. (picture alliance / dpa / Tobias Hase)
Stefan Fries: Es gibt Themen, über die in Medien selten gesprochen wird – zum Beispiel, weil dadurch Menschenleben gefährdet werden. Ich spreche von Suiziden. Denn wir wissen, dass Menschen, die darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen, von Berichten in Medien getriggert werden können. Deswegen ist es immer heikel, über Suzide zu berichten. Ausklammern kann man das Thema aber auch nicht, da es allein in Deutschland jedes Jahr fast 10.000 vollendete Suizide gibt – und vermutlich zehnmal so viele Versuche.
Diese Menschen wollen nicht unbedingt sterben. Sie sehen aber auch keinen Weg, so weiterzuleben wie bisher. Und deswegen muss man über das Thema reden. Ich habe vor der Sendung mit einem Experten gesprochen, der sich mit Suiziden auskennt und damit, wie Medien über sie berichten: Thomas Niederkrotenthaler von der Medizinischen Universität Wien. Am Anfang habe ich ihn gefragt, wie stark der Zusammenhang von Medienberichten und Suiziden überhaupt ist.
Thomas Niederkrotenthaler: Ein Ergebnis, das sich hier durchzieht durch die Literatur, ist, dass es immer wieder nach sensationsträchtigen Berichten über Suizid zu einem Anstieg an Suiziden gekommen ist. Das ist aber nicht bei jeder Berichterstattung über Suizidalität und Suizid so. Deswegen haben wir rezent auch eine Meta-Analyse durchgeführt. Eine Meta-Analyse, das ist eine Studie, wo man schaut, wenn man alle Ergebnisse aus der Literatur zusammennimmt und gemeinsam anschaut, was denn dann eigentlich rauskommt, also wie groß denn dann der Anstieg ist und ob denn überhaupt ein Anstieg dann da ist, wenn man das alles zusammen nimmt.
Mehr Suizide nach Sensationsberichten
Und da haben wir gefunden, dass nach einer sensationsträchtigen Berichterstattung über Suizide von Prominenten es zu einem Anstieg kommt, nämlich von ca. 13 Prozent im Monat nach der Berichterstattung. Das ist doch ganz erheblich. Wie Sie gesagt haben, in Deutschland ca. 10.000 Suizide im Jahr. Das bedeutet ca. 780 im Durchschnitt im Monat. 13 Prozent sind also ca. 102 Suizide mehr. Und das, obwohl wir ja wissen, dass diese Suizide verhütet werden können, und das mit relativ einfachen Mitteln, nämlich durch Zusammenarbeit zwischen Mental Health, Suizidpräventionsexperten und Medienschaffenden mit Medienempfehlungen zur Berichterstattung über Suizid.
Fries: Jetzt haben sie eben gesagt, es hängt eben auch von der Medienberichterstattung ab. Je nachdem, wie die ist, kann die Rate hochgehen oder runtergehen oder vielleicht gleich bleiben. Wie ist eine schlechte Medienberichterstattung?
Niederkrotenthaler: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Also es ist sehr zentral bei dieser Frage, ob es zu einem Anstieg kommt oder nicht oder eben, wie Sie sagen, auch zu einem Rückgang. Denn auch das haben wir im sogenannten Papageno-Effekt gefunden, dass es auch Medienberichte gibt, wo die Suizide dann zurückgehen.
Der Papageno-Effekt ist benannt nach der Figur des Vogelfängers Papageno aus Mozarts Oper "Die Zauberflöte". Papageno hegt Suizidgedanken, bewältigt sie aber nach Hilfe von außen. Der Effekt steht dem sogenannten Werther-Effekt gegenüber, benannt nach Goethes Hauptfigur aus dem Roman "Die Leiden des jungen Werthers", nach dessen Veröffentlichung es Nachahmertaten gegeben haben soll.
Also da geht es ganz um den Inhalt, der hier transportiert wird. Was zum Beispiel ungünstig ist in der Berichterstattung, ist, wenn sehr stark auf den Suizidakt fokussiert wird, wenn also eine Suizidmethode genau beschrieben wird, da ganz ins Detail gegangen wird. Gleichzeitig sind diese Berichte dann auch oft so beschaffen, dass sie ganz einfache, simple Erklärungen geben für einen Suizid, also zum Beispiel Depression/Suizid.
Wir wissen, ca. 20 Prozent der Bevölkerung in Österreich, aber in Deutschland ist es ganz ähnlich, bekommen im Laufe ihres Lebens eine Depression. Das ist also ein ganz großer Anteil. Nur ein minimaler Bruchteil davon stirbt durch Suizid. Das heißt, Depression kann das nicht hinreichend erklären. Dasselbe gilt dann auch für soziale Ereignisse, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, auch das ein Risikofaktor, aber kann das nicht allein erklären. Oder auch die Covid19-Situation, die natürlich auch ein Stressfaktor ist, aber auch allein sicherlich nicht hinreichend ist, um einen Suizid zu erklären.
Art und Weise der Berichterstattung kann ausschlaggebend sein
Wir haben gefunden in unserer Forschung, wenn es um Berichterstattung über Suizide geht, auch über Prominentensuizide, wenn da ganz stark fokussiert wird: Was hat dieser Mensch getan, wie hat er zum Beispiel zur Politik beigetragen, wie hat er zur Kunst und Kultur beigetragen? Beispiel Robin Williams: Wie hat uns Robin Williams in seinen Rollen zum Lachen gebracht, und dann eben ein Hinweis, dass es ein Suizid ist, und dass das natürlich traurig ist und vielleicht auch noch ein Hinweis, was denn andere tun können, wenn sie in einer suizidalen Krise drinnen sind. Das kann schon sehr hilfreich sein.
Es ist ja so, dass die allerallermeisten suizidalen Krisen bewältigt werden. Und da haben wir 2010 in einer Studie erstmals gefunden, dass, wenn berichtet wird über Menschen, die selbst Suizidalität erlebt haben und die dann berichten, wie sie denn damit umgehen, was sie denn gemacht haben, um aus ihrer Suizidalität wieder rauszukommen, dass das sogar mit einer Senkung der Suizidraten nach dieser Berichterstattung assoziiert ist.
Das ist also ein sehr häufiges Ereignis, und das wird noch immer nicht ausreichend aus unserer Sicht berichtet. Insofern glaube ich, dass da immer eine Auswahl ist. Und gerade wenn Journalisten sich für dieses Thema interessieren und da einen Beitrag machen in die Richtung, dann ist das von größter Relevanz auch für die Suizidprävention.
Fries: Jetzt sprechen wir die ganze Zeit schon von Suiziden. Umgangssprachlich benutzen wir aber oft andere Begriffe. Davon würden Sie aber auch abraten, sie zu benutzen. Warum?
Niederkrotenthaler: Die Erfahrung ist hier, dass es immer wieder auch zu stigmatisierenden Begriffen kommt. Beim Wort Suizid ist es so, dass in üblichen Sprachgebrauch sehr oft das Wort "Selbstmord" verwendet wird. Das Problematische daran ist, dass es den Suizid in die Nähe eines Mordes rückt, also einer Straftat, und das in einer Situation, wo ja gerade Suizidenten, also Menschen, die sich das Leben genommen haben, und auch ihre Familien lange Zeit sehr starker Stigmatisierung in der Gesellschaft, auch in Deutschland, auch in Österreich, ausgesetzt waren. Und das ist eben alles in dieser Wortwahl auch drinnen.
Bestimmte Begriffe stigmatisieren Betroffene
Jetzt ist es freilich so, dass es dann andere Worte, gibt zum Beispiel den "Freitod". Das ist ja ein bisschen auch als eine Gegenbewegung zum Wort "Selbstmord" zu sehen. Dass man da betonen will, nein, das ist ja kein Mord, das ist ja eine freie Willensentscheidung. Leider ist auch das sehr, sehr missverständlich. Denn was wir immer wieder sehen, sind ja Menschen, die so keinen Ausweg mehr sehen. Da geht es also nicht um eine freie Willensentscheidung, sondern eher um das Gefühl, so nicht weiterzukönnen.
Es gibt weitere Beispiele, zum Beispiel der "erfolgreiche Suizidversuch", der "erfolglose Suizidversuch". Vollkommen absurd selbstverständlich, diese Wortwahl. Es ist nichts erfolgreich an einem Suizid, und es ist nichts erfolglos an einem Suizidversuch.
Und wir haben da auch eine Studie durchgeführt vor kurzer Zeit, wo wir Menschen einen Artikel über Suizid vorgelegt haben. Und da gab es drei Gruppen in dieser Studie: Eine Gruppe sah den Artikel mit dem Wort "Selbstmord". Das Wort kam 15-mal vor in dem Bericht. Und die zweite Gruppe las den gleichen Bericht, nur da kam dann 15-mal das Wort Freitod vor. Wir haben dann angeschaut, ob das denn unterschiedlich wirkt. Und in der Tat: Diejenigen, die den Artikel lasen mit dem Wort "Freitod", die hatten eine Einstellung, das Suizid eher legitim ist als Lösungsansatz nach dem Lesen. Und da sieht man schon, dass auch diese einzelnen Wortwahlen ganz einen konkreten Effekt haben. Und da gilt es eben unbedingt, auch Stigmatisierung zu vermeiden und in dem Sinne einen präventiven Beitrag zu leisten.
Fries: Der Mediziner Thomas Niederkrotenthaler von der Medizinischen Universität Wien zur Frage, wie Medien über Suizide berichten und wie sie es tun sollten.
Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet auch die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar - unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch eine Beratung über E-Mail ist möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.