1949 reiste Victoria Wolff aus den USA erstmals wieder nach Deutschland. Es gab sicher angenehmere Ziele für eine Frau, die in Ascona am Lago Maggiore gelebt hatte. Denn Heilbronn lag seit einem Bombenangriff im Dezember 1944 in Trümmern. Doch die jüdische Schriftstellerin war in besonderer Mission unterwegs – zu „Gast in der Heimat“. 1933 hatte sie sich ins Exil gerettet und dachte nicht daran, dauerhaft zurückzukehren.
Deutschland, gründlich verändert
In Eva Hassencamps Dokumentarfilm »Wir waren unerwünscht« von 1979 blickt sie zurück:
„Denn wie hätte ich in ein Land zurückgehen können, in dem viele Verwandte getötet worden sind? Wie hätte ich da wieder Vertrauen haben können? Ich kenne keinen Haß. Aber zurückkommen? Nein. Ich bin im Herzen eine Amerikanerin geworden!“
Erfahrungen, wie sie dem Exil und der Schoah vorausgingen, sind das eigentliche Thema von Victoria Wolffs Exilroman „Gast in der Heimat“ von 1935. Er beginnt noch beschaulich mit der Familiengeschichte der Ich-Erzählerin Claudia Dortenbach, Jahrgang 1904. Aber ein erster Misston lässt aufhorchen:
„Ich entstamme einer protestantischen Familie. Während ich schreibe, fällt mir auf, daß ich das Bekenntnis vor die Person stelle; die Gewohnheit unserer Zeit, diese unwillkürliche Zugehörigkeit als Ausweis zu gebrauchen, hat mir plötzlich die Feder geführt.“
„Ich entstamme einer protestantischen Familie. Während ich schreibe, fällt mir auf, daß ich das Bekenntnis vor die Person stelle; die Gewohnheit unserer Zeit, diese unwillkürliche Zugehörigkeit als Ausweis zu gebrauchen, hat mir plötzlich die Feder geführt.“
Nach ein paar Semestern in Heidelberg und Tübingen verbindet sich die junge Chemiestudentin zu Beginn der zwanziger Jahre mit einem Jugendfreund, dem Juristen Helmuth Martell. Die Großkaufmannstochter heiratet damit in eine jüdische Textilfabrikantendynastie ein.
Deutsche und Juden als Fremde?
Doch während der Hochzeitsfeier bricht das Trennende auf. Claudias Schwager Heinrich sorgt für einen Eklat:
„Als denkender und bewußt fühlender Jude wage ich hier zu sagen, das jüdische Volk lebt noch immer in der Diaspora, es kann nicht verschmelzen. Und wer den Mut auf sich nimmt, durch sein Leben diese Entwicklung zu leugnen, soll wissen, daß ihm Kämpfe drohen, und Schwierigkeiten aus dieser Verbindung entstehen können, die denen nicht entstehen, die sich die Frau unter den Töchtern des eigenen Volkes suchen.“
„Als denkender und bewußt fühlender Jude wage ich hier zu sagen, das jüdische Volk lebt noch immer in der Diaspora, es kann nicht verschmelzen. Und wer den Mut auf sich nimmt, durch sein Leben diese Entwicklung zu leugnen, soll wissen, daß ihm Kämpfe drohen, und Schwierigkeiten aus dieser Verbindung entstehen können, die denen nicht entstehen, die sich die Frau unter den Töchtern des eigenen Volkes suchen.“
Eine deutsch-jüdische Verbindung mit einer „Frau des fremden Volkes“ erscheint dem Zionisten Heinrich als problematisch. 1933 wiederholt sich diese Infragestellung in umgekehrter Richtung. Claudias junger Bruder Carl, nunmehr in SA-Uniform, will die Schwester zur Scheidung drängen:
„Die Entschlüsse sind bitter, aber sie müssen sein. Der Führer hat gesagt: ‚Alles ist gut, was für das Vaterland getan wird.‘ Wozu aussprechen, was du längst weißt, Claudia; Die Verbindung lösen mit Helmuth Martell, zurückkehren aus dem Lager der Fremdstämmigen zu uns, deiner einzigen Heimat!“
Die Ehe wird zur Schicksalsgemeinschaft
Derart bedrängt, bindet sich die Erzählerin nur umso fester an ihren Mann und die jüdische Verwandtschaft. Die Rolle als Ehefrau und Mutter füllt sie nun selbstbestimmter aus. Claudia betreibt aktiv die Suche nach einer Zuflucht im Ausland, findet auf eigene Faust ein Dorfhäuschen im Tessiner Centovalli. Das ist zugleich ein emanzipatorischer Akt.
Ende gut, alles gut
Die Frau tritt aus dem Schatten ihres Mannes – und umso mehr zieht sie ihn wieder an.
„Und als er mich dann küßte, ging ganz weit innen etwas auf, und ich glaubte, das sei der allererste Kuß in meinem Leben, und ich fühlte, wie auch das von neuem noch einmal beginnen könne.“
Ein solches beinahe kitschiges Happy End ist selten in der deutschen Exilliteratur, die notgedrungen immer mehr Schrecknisse spiegelte. Victoria Wolffs Roman war jedoch schon einige Jahre vor den Gewalttaten des 9. Novembers 1938, vor Kriegsausbruch, vor Auschwitz erschienen. Ihrem einzigen Buch mit starken politischen Bezügen war in der „Neuen Zürcher Zeitung“ sogar noch eine ganz unbeschwerte Sommergeschichte in Ascona, „Die Welt ist blau“, vorausgegangen. Deren Motto lautete
„Von Politik wird nicht geredet“.
Alltäglicher Schrecken – wie Heilbronn „braun“ wird
Das alles vor Augen, liegt die Bedeutung von Victoria Wolffs autobiografisch gefärbtem Roman „Gast in der Heimat“ darin, wie es ihr gelingt, das Einsickern der NS-Ideologie in eine Kleinstadt wie Heilbronn nachzuzeichnen. Sie schildert nicht nur bewegend die frühen Stationen der Entrechtung und Verfolgung von Juden – darunter den Geschäftsboykott vom 1. April 1933, die Berufsverbote, die Ghettoisierung des jüdischen Kulturbetriebs und das Konzentrationslager Heuberg. Sondern zeigt auch, wie ein kleiner Teil der lokalen Judenheit zunächst selbst deutschnationale Positionen vertritt und Gefährdungen unterschätzt.
Jüdische trügerische Illusionen
So verfällt einer der Brüder Martell in der Firma darauf, das neue Regime gegenüber ausländischen Geschäftspartnern sogar zu verteidigen:
„Ich wollte nun energisch Stellung nehmen gegen die Lügenpropaganda, die die Emigranten und deutschfeindlichen Politiker im Ausland unternommen haben. Dieser Brief erklärt, daß wir Juden in Deutschland, soweit wir uns ruhig und nicht staatsfeindlich benommen haben, ungestört unseren Geschäften nachgehen und leben können, als hätte es gar keine Revolution gegeben.“
Die vielleicht letzte übersehene deutsche Exilautorin
Victoria Wolff täuschte sich nicht über die bedrohliche Lage und gehörte bald selbst zu jenen Emigranten. Dennoch fehlt sie nach 1945 in den frühen Bestandsaufnahmen deutscher Exilliteratur von Franz Carl Weiskopf und Alfred Kantorowicz. Selbst ihr Exilverleger Fritz H. Landshoff erwähnt sie in seinen Erinnerungen mit keinem Wort. Wolff wurde lange nicht wiederentdeckt, während nahezu jedes deutsche Buch aus dem Amsterdamer Querido Verlag neu aufgelegt wurde. Umso verdienstvoller ist, wie die Herausgeberin Anke Heimberg mit jeder Neuedition im Aviva Verlag Victoria Wolff heute eine neue Leserschaft gewinnt.
Victoria Wolff: "Gast in der Heimat"
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg
Aviva Verlag, Berlin. 336 Seiten, 22 Euro.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg
Aviva Verlag, Berlin. 336 Seiten, 22 Euro.