Heilige Schriften sind Texte, denen innerhalb einer Religionsgemeinschaft eine besondere Bedeutung zukommt. Das trifft vor allem bei den Offenbarungsreligionen wie dem Judentum und dem Islam zu, in denen die heiligen Texte als direkt von Gott offenbart angesehen werden. Welche Möglichkeiten der Interpretation gibt es? Welche Bedeutung haben diese Schriften im Gottesdienst und im alltäglichen Leben? Wie sieht man die Rolle der Erzväter und Propheten? Gibt es so etwas wie ein Konkurrenzdenken unter den Offenbarungsreligionen. Wie stehen das Judentum und der Islam zur Religionsfreiheit?
Über diese und ähnliche Fragen diskutiert Rüdiger Achenbach mit Dr. Edna Brocke, jüdische Religionshistorikerin, Gerald Beyrodt, jüdischer Publizist, Serdar Günes, Dozent für Islamwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main und Abdul Ahmad Rashid, Islamwissenschaftler und Redakteur beim ZDF.
Rüdiger Achenbach: Ist es nicht so, dass bei den monotheistischen Buchreligionen jede, die der anderen folgt, ein Stück Wahrheit mehr in Anspruch nimmt. Ist da nicht von vornherein auch ein gewisser Konkurrenzkampf angedeutet?
Sedar Güneş: Es ist so, dass die Existenz von Juden und Christen, nachdem sich der Islam entwickelt hat und ausgebreitet hat, natürlich eine Rolle gespielt hat. Die Religionsfreiheit – in bestimmten Maßen – wurde immer gewährleistet. Man achtete durchaus die monotheistischen Religionen, aber hat sich davon auch abgesetzt, indem man auch ganz kritisch mit gewissen Inhalten und Schriften umgegangen ist.
Achenbach: Aber gehört es im Islam nicht auch wie im Christentum dazu, dass man doch letztlich immer darauf aus ist, die letzte Offenbarung an die Menschen zu bringen. Das heißt, deswegen missioniert man ja auch in beiden Religionen. Man richtet sich darauf aus, dass irgendwann alle Menschen davon überzeugt werden sollen, dass dies die richtige Offenbarung ist, das rechte Wort Gottes.
Güneş: Es gibt durchaus diese Intension, man hat diesen Absolutheitsanspruch. Allerdings drückt sich das nicht so aus, dass man die Leute zum Glauben zwingt. Das kann man nicht, weil das auch im Koran selbst verboten wurde und der Prophet dazu einiges gesagt hat.
Achenbach: Auch wenn es in der Geschichte des Christentums und des Islams das immer anders ausschaut...
Güneş: Die Realität sieht immer etwas anders aus. Dass Leute aus einem Eifer heraus auch anderen Leuten, bestimmte Glaubensinhalte aufgezwungen haben, das stimmt – ja.
Achenbach: Das ist ja bis heute so
Edna Brocke: Es ist nicht wichtig, ob man gezwungen wird oder nicht. Das ist wichtig im Sinne von Überleben oder Nicht-Überleben. Aber von der Haltung her wird ja dann schon ein Gefälle aufgemacht. Und der, der sozusagen als der Erste dann als der Unterste betrachtet wird, das ist eine Frage eines theologischen Diskurses, wenn man nicht auf Augenhöhe miteinander diskutiert. So, und warum waren nur Juden und Christen Dhimmis im islamischen Herrschaftsbereich, was ein Vorteil aber auch ein großer Nachteil war. Also die Geschichte ist da schon sehr ehrlich damit umgegangen.
Achenbach: Dazu Herr Güneş.
Güneş: Was Sie beschreiben, ist natürlich die historische Wirklichkeit. Es war durchaus so, dass nicht-muslimische Gemeinschaften – dazu gehören nicht nur Christen und Juden, das muss man auch klarstellen – Bürger zweiter Klasse waren. Wenn man sich vorstellt, was das für Imperien waren. Also die politischen Ordnungsvorstellungen unterscheiden sich von heute. Das waren dann die Bürger zweiter Klasse, die Rechte und Pflichten hatten, aber die nicht unbedingt einer Willkür ausgesetzt waren. Sie waren gegenüber Muslime in vielen Ländern schlechter gestellt, sage ich mal, aber es war keine reine willkürliche Situation. Das hat aber wirklich sehr viel mit politischen Situationen zu tun – weniger mit theologischen. Also es resultiert nicht alles aus der Theologie oder aus der Religion, sondern einfach aus der Tradition, aus politischen Verhältnissen, die religiös legitimiert werden. Auch heute findet dass statt.
Gerald Beyrodt: Was diese Diskriminierungssachen angeht, hat es das Judentum natürlich gut. Es hat keine Epoche gegeben oder ganz wenig, wo wir groß die Gelegenheit gehabt hätten, andere zu diskriminieren. Was jetzt dieses Theologische angeht, da gibt im Judentum klassisch gesehen schon eine klare Abgrenzung, also bei Maimonides in den Glaubenssätzen heißt es, dass die Thora nicht ausgewechselt wird. Das heißt, da ist wenig Platz für das Neuere, beispielsweise für ein Neues Testament oder so. In heutigen jüdischen Gemeinden würde ich sagen, dass kratzt uns nicht groß, dass jetzt Christen beispielsweise, die jüdische Bibel anders lesen. Das ist keine Sache, die jeden Tag diskutiert wird. Also Judentum ist da sehr selbstgenügsam. Wahrscheinlich deshalb, weil Judentum nicht missioniert, weil Judentum nicht den Anspruch hat, dass alle anderen, auch das glauben müssen, was man selber glaubt, damit man es am Ende endlich selber glauben kann oder so. Im Judentum reicht das, wenn wir das machen.
Abdul Ahmad Rashid: Natürlich gibt es diesen Wahrheitsanspruch im Islam genauso wie im Judentum und Christentum. Davon leben wir.
Brocke: Im Judentum eben nicht.
Rashid: Gibt es nicht?
Brocke: Nein. Wir haben nicht den Anspruch für die ganze Welt zu sprechen. Für uns. Alle anderen können ihren Weg gehen – Micha 4.
Achenbach: Aber man kann dazu kommen, wenn man konvertiert.
Brocke: Ja.
Beyrodt: Die Konversion wird einem nicht gerade leicht gemacht. Das ist ein steiniger Weg, man muss viele Kenntnisse erwerben. Die Konversion, dafür wird nicht gerade Werbung gemacht.
Rashid: Natürlich hat der Islam einen Wahrheitsanspruch, aber der wurde in der Vergangenheit nicht vornehmlich aktiv vorausgetrieben. Missionierung kennt der Islam nicht so wie das im Christentum zum Beispiel betrieben wurde. Es gibt die passive Missionierung, die sogenannte Da'wa, die Einladung zum Islam, in dem man den Islam vorlebt. Diese aktive Missionierung, das ist ein neueres Phänomen, gerade in der jüngsten Zeit erleben wir das – vertreten durch die Salafisten, die ja eine immer größere Zahl in Deutschland bekommen. Da erlebt man solche Sachen, die die öffentlichen Konversionen, wo Menschen öffentlich zum Islam übertreten, das wird dann groß gefeiert. Das ist eigentlich ein ganz neues Phänomen, das man in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Islam nicht kannte und für mich zum Beispiel sehr befremdlich wirkt. Frau Brocke, sie hatten von Diskussion geredet. Das finde ich ein wichtiges Stichwort, weil ich finde, dass Judentum und Islam die eigentlichen Schwestern-Religionen sind, mehr als Christentum und Islam. Das wird immer übersehen. Das gibt – das haben wir jetzt herausgearbeitet in dieser Reihe – sehr viele Parallelen, sehr viele Gemeinsamkeiten, vom Ritus her, von der Theologie her, vom Verständnis her. Ich finde es schade, dass es in Deutschland keinen bislang bekannten Dialog zwischen Judentum und Islam gibt. Es gibt sehr viel Dialog zwischen Judentum und Christentum, sehr viel Dialog zwischen Christentum und Islam, aber Judentum und Islam – diese Dialog-Ebene, die fehlt mir noch. Ich finde, da kann noch sehr viel passieren, das kann noch sehr viel vorangetrieben werden.
Beyrodt: Historisch hat es das gegeben. Die ersten die Deutschland Islam einigermaßen unvoreingenommen erforscht haben, das waren Juden. Wenn man Abraham Geiger nimmt mit einer Schrift "Was hat Mohammed aus dem Judentum aufgenommen und wenn man das vergleicht, mit dem, was vorher war – vorher wurde Mohammed immer vorgeworfen, er sei irgendwie ein Betrüger, und dann hat sich einer damit einigermaßen nüchtern beschäftigt, das heißt, da war schon mal möglich, aus der Minderheiten-Erfahrung heraus, diesen Vergleich zu machen.
Güneş: Ich möchte mich dem anschließen. Es gab in der Vergangenheit durchaus sehr positive Impulse, was den Islam betrifft. Zum Beispiel in Europa, Deutschland. Abraham Geiger wurde schon erwähnt. Wenn man seine Schriften durchliest und dann als Vergleich die christlichen Kollegen, die zeitlich auch einiges geschrieben haben, dann merkt man einen gewaltigen Unterschied. In einzelnen Dingen kann man Geiger auch widersprechen, vieles ist auch überholt, aber es ist viel unvoreingenommener als das, was viele seiner orientalistischen Kollegen geschrieben haben. Diese Tradition hat leider mit den Nazis ein Ende gefunden. Das merkt man dann auch in der Islamwissenschaft oder in den orientalistischen Fächern. Diese Qualität ist einfach nicht mehr vorhanden.
Achenbach: Wir haben jetzt von dem Judentum und dem Islam gesprochen. Das heißt, es hört sich fast so an, als seien es ganz homogene Blöcke. Aber es ist natürlich so, dass sowohl im Judentum wie auch im Islam sehr unterschiedliche Richtungen vorhanden sind. Wer legt eigentlich fest, was das Judentum oder der Islam ist? Gibt es so etwas wie ein Lehramt. Bei der katholischen Kirche ist es so geregelt, das ist es der Papst, der an oberster Stelle sagen kann, was zu glauben ist. Wie sieht das aus im Judentum, Frau Brocke?
Brocke: So eine Instanz gibt es nicht und, wie alles bei uns dual ist, zwei Schöpfungsberichte, zwei Talmude, alles doppelt, haben wir auch in Israel zum Beispiel zwei Oberrabbiner. Und das Schönste ist, wenn die untereinander streiten, weil wir uns dann freuen. Also so etwas haben wir nicht.
Achenbach: Das heißt die Oberrabbiner sind auch nur für Israel zuständig, ...
Brocke: Ja...
Achenbach: ...nicht für das Judentum in der Diaspora?
Brocke: Dafür gibt es keinen Oberrabbiner. Jede Gemeinde ist autonom und kann für sich entscheiden, ob sie einen Rabbiner will oder nicht, und wenn sie einen will, welchen sie will. Sie ist keiner Autorität verpflichtet. Das einzige, was hier geregelt wird, sind die finanziellen Sachen. So eine Gemeinde ist in einem Landesverband, da werden die Kultussteuern weitergegeben und so etwas alles. Aber theologisch oder sonst, ist jede Gemeinde autonom. Das ist weltweit. Es gibt Reformbewegungen, es gibt Conservity, es gibt Orthodoxe, es gibt Ultra-Orthodoxe und, und, und – jede Gruppe für sich.
Achenbach: Heißt autonom, dass man dort innerhalb der Gemeinschaft praktisch demokratisch abstimmt, was man für das richtige Judentum hält – in der eigenen Gemeinde?
Brocke: Ja. Die Gruppe, die sich da breit macht, und die anderen müssen dann gucken, wo sie bleiben.
Achenbach: Kann sie auch ausschließen?
Brocke: Nur wenn ich irgendeine Verfehlung begehe, dann gibt es jüdische Gerichtsbarkeiten.
Beyrodt: Man muss dazu sagen, diese Idee der Oberrabbinate ist eine moderne Idee. Traditionell gibt es das nicht, traditionell ist die Pluralität noch größer. Dass einzelne Rabbiner ihre Ansichten darlegen und die Geschichte entscheidet dann später, nach welcher Lehrmeinung man sich richtet. Herr Achenbach, Sie haben die unterschiedlichen Richtungen angesprochen – liberal, konservativ, orthodox. Das ist ein großer Reichtum, Judentum so unterschiedlich zu sehen. Aber Reichtum kann manchmal auch wehtun. Es ist in Deutschland so, wenn jetzt jemand liberal konvertiert, dann wir das von orthodoxen Rabbinern eher nicht anerkannt, einfach weil das nicht gültig ist, weil es ja kein orthodoxer Rabbiner war. Das heißt, es ist dann bei vielen Menschen schwierig zu sagen, ist er jüdisch oder nicht, ist sie jüdisch oder nicht. Da würde ich mir manchmal etwas mehr Einheitlichkeit wünschen – bei aller Liebe zur Pluralität.
Achenbach: Mir scheint es hier eine ganze Reihe von Parallelen auch zum Islam zu geben, Herr Rashid.
Rashid: Eine Eigenschaft des Islam ist ja, dass es zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen keinen Vermittler gibt, keinen Priester, sondern jeder Mensch ist Gott alleine verantwortlich – mit einen Taten, mit seinen Handlungen, mit seinen Worten. Aber – und das ist auch eine Parallele zum Judentum – im Islam ist wichtig, den Glauben mit dem richtigen Handeln zu vereinbaren: die Orthopraxie. Dafür gibt es bei den Muslimen halt dann die Gelehrten, die Autoritäten, die den Gläubigen sagen, wenn sie Zweifel haben – so heißt es auch im Koran, wenn Ihr Fragen habt, dann geht zu den Gelehrten, dass sie sich dort Hilfe, Rat holen. Die Imame, die ausgebildet sind, die sich auskennen, die weniger Theologen sind, sondern damit auskennen, wie man den Glauben richtig praktiziert. Es gibt keine verbindliche alleinige Autorität im Islam, wie im Christentum oder im Katholizismus den Papst. Es gibt bestimmte Lehr-Orte, die Al-Azhar-Universität in Kairo, die eine sehr starke Autorität haben, die eine große Anerkennung genießen, aber letztendlich ist das jedem einzelne Gläubigen sehr überlassen, wie er seine Religion auslegt, wie er sie praktiziert.
Achenbach: Ist es da auch die Moschee-Gemeinde, die festlegt, was man für ein Bekenntnis hat?
Güneş: Die Moschee-Gemeinde legt da nichts fest. Es ist einfach nur ein Ort, wo vieles zelebriert wird, das Gebet oder anderer religiöse soziale Dinge. Das ist einfach nur ein Ort der Zusammenkunft. Insofern gibt es keine Instanz, die ex cathedra irgendwelche Inhalte festlegt.
Rashid: Die meisten Moschee-Gemeinden in Deutschland sind – von der Herkunft her ist das begründet – konservativ geprägt. Was sich in letzter Zeit herausbildet, ist ein liberaler Islam in Deutschland. Das sind so die ersten Anfänge und das sind ja auch Parallelen zum Judentum. Wir haben von Abraham Geiger gesprochen, dem Begründer des liberalen Judentums. Und warum sollte Deutschland nicht der Ursprung für einen liberalen Islam sein – in der Zukunft?
Achenbach: Offenbarungsreligionen sagen wir, haben ihre Wahrheit. Wenn Offenbarungsreligionen in einem demokratischen Staat mit Nicht-Religiösen zusammenleben, welche Regeln müsste es da geben, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist? Wie würden Sie das einschätzen, Herr Güneş?
Güneş: Ich denke, die islamische Geschichte und auch die Erfahrung der Muslime in der Geschichte bringen auch einiges mit, um es zu ermöglichen, dass Muslime in mehrheitlich nicht-muslimischen Ländern zusammenleben können. Es wird auch empfohlen, dass man, wenn man sich in einem nicht-muslimischen Land, den Gesetzen gehorcht, dass es da eine gewisse Ordnung gibt, der man unterstellt ist. Das ist etwas, was in der geschichtlichen Erfahrung mitgeliefert wird. Allerdings ist es auch so, dass es politische oder religiöse Ordnungsvorstellungen gibt, die sich versuchen durchzusetzen, die einen demokratischen Staat ablehnen. Das gibt es auch, das sieht man auch heute in bestimmten Kreisen. Bei den Salafisten sieht man das.
Achenbach: Wie geht man mit dem Faktum Religionsfreiheit um? Religionsfreiheit bedeutet ja, dass der einzelne entscheiden kann, ob es zu einer Religionsgemeinschaft gehören will oder nicht. Wo jemand sagen kann, ich möchte kein Muslim mehr sein, was ja eigentlich nicht geht – vom Verständnis des Islams her. Wie geht man mit so etwa um? Denn die Regeln für die Religionsfreiheit werden ja vom Gemeinwesen festgelegt.
Güneş: In einer Demokratie wie jetzt in Deutschland oder auch in vielen anderen Ländern ist das natürlich möglich. Es gibt viele Muslime, die auch konvertieren. Die einzige Reaktion, die man da vielleicht bekommt, ist die der Umwelt, der näheren Umwelt, der Familie, Verwandtschaft. Das gibt es einen gewissen sozialen Druck, das ist klar. Aber ich denke, da gibt es auch ein Umdenken. Mittlerweile wird es theologisch auch so reflektiert, dass die Religionswahl oder der Austritt religiös begründet werden kann, auch erlaubt ist. Viele Vorstellungen aus früheren Zeiten sind zum Teil politische Vorstellungen, sind weniger theologisch sondern politisch gedacht. Das heißt, man kann da durchaus differenzieren und da eine Unterscheidung schaffen, mit der heutige Muslime auch leben können. In islamischen Ländern sieht das ganz anders aus.
Achenbach: Ist es eine liberale Tradition, was der Herr Güneş gerade beschrieben hat, dass man versucht umzudenken, dass man nicht in einem arabischen Land lebt, in einem islamischen Land lebt?
Rashid: Das würde ich auch für konservative Muslime behaupten, dass sie sich auch Gedanken machen, wie Religion funktionieren kann, wenn sie in einem demokratischen Land leben. Das merkt man auch bei vielen jungen Muslimen, die hier geboren und aufgewachsen sind, dass sie versuchen, aktiv zu werden, versuchen, am demokratischen Leben teilzuhaben. Das würde ich jetzt nicht für den liberalen Islam allein in Anspruch nehmen.
Achenbach: Sondern – was wäre dann das Liberale, wofür braucht man das liberale Muslime?
Rashid: Liberale Muslime machen sich zum Beispiel Gedanken über den Gottesdienst, ob Männer und Frauen getrennt voneinander beten müssen. Sie beschäftigen sich mit der Kopftuch-Frage, sie beschäftigen sich auch mit der Religionsfreiheit. Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema Homosexualität. Mit vielen Tabu-Themen. Und versuchen diese Themen mit einer anderen Herangehensweise zu betrachten und zu neuen Ergebnissen zu kommen. Das ist für mich auch ein Charakteristikum diese liberalen Islams oder einer liberalen Denkweise. Ich denke, es sind genau diese Sachen, als sich das liberale Judentum herausgebildet hat. Vor diesen Fragen standen die Juden damals auch Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts.
Achenbach: Wie sieht das im Judentum aus, Frau Brocke?
Brocke: Ich glaube, es ist insofern sehr anders, weil das Judentum seit über 2000 Jahren gewohnt war als Minderheit in ganz unterschiedlichen Ländern zu leben, und nie den Anspruch hatte, eine politisch relevante Kraft zu sein. Einzelne Juden ja, aber als Gruppe nie den Anspruch gehabt, das Gemeinwesen zu bestimmen oder gar zu dirigieren. Wenn man eine Minderheit ist und das auch internalisiert hat, dann ist es klar, dass man andere Funktionen in so einer Gesellschaft hat, dass man sich stärker auf kulturelle oder literarische oder, oder, oder Funktionen verlagert. Ob Geiger eine vergleichbare Situation ist, weiß ich nicht. Die Frankfurter Orthodoxie in Deutschland war eine unwahrscheinlich liberale – also ich rede vor dem Krieg – sehr orthodox, aber total liberal, sowohl im Politischen, als auch im Theologischen. Also insofern schwer zu vergleichen.
Beyrodt: Der Vergleich vorhin war ja der, dass gesagt wurde, liberaler Islam beschäftigt sich um Beispiel mit der Stellung von Homosexuellen, mit der Stellung der Frauen im Gottesdienst - solche Fragen. Da muss man ja schon sagen, liberales Judentum nach der Shoa tut das auch oder tut das vielleicht auch zuerst. Gleichberechtigung von Männern und Frauen –würde ich sagen – ist heute der Hauptunterschied und die Hauptfrage zwischen den Richtungen.
Brocke: Das sehe ich ganz anders. Das sind Fragen, die in der Gesamtgesellschaft heute im Westen diskutiert werden.
Beyrodt: Doch, aber wenn man in eine liberale Synagoge kommt, ist es halt so, dass Frauen mit zu der Zehnzahl gehören, zum Minjan, das sie vorbeten können. Wenn man in eine orthodoxe geht, ist es in der Regel so, dass sie es nicht können.
Rashid: Das, was wir hier erleben, das zeigt ja schon, dass die Diskussion im Judentum sehr, sehr weit ist. Im Islam ist das gerade am Anfang. Der liberale Islam ist ein sehr zartes Pflänzchen. Und liberal gilt momentan unter Muslimen wie eine Art Schimpfwort. Liberaler Muslim – aha, du bist für Homosexuelle, du dafür, dass Frauen den Gottesdienst leiten – diese Sachen. Das wird noch sehr mit spitzen Fingern untern den Muslimen angefasst. Diese Diskussion, die Sie haben, das fängt jetzt gerade im Islam an – ist aber sehr, sehr wichtig, weil sich diese liberalen Muslime mit Tabus im Islam auseinandersetzen und versuchen, diese Tabus aufzubrechen und zu neuen Erkenntnissen zu kommen, die aber auch mit dem Islam, mit dem islamischen Verständnis kompatibel sind. Das sind ja Muslime, die sich als auch Muslime sehen und als solche anerkannt werden möchten.