"Es gibt viele Gründe, warum Hindus eine Pilgerreise machen. Jüngere Männer zum Beispiel, die den Marsch zum Ursprungsquell des Ganges auf sich nehmen, reden davon, ihre Fitness unter Beweis stellen zu wollen. Zugleich verweisen sie dann aber auch immer wieder auf die Tapas, die hinduistische Askese-Disziplin."
Sagt der australische Religionswissenschaftler Richard Barz.
"So wie Baghirat, der im Himalaya-Ort Gangotri 5.000 Jahre lang auf einem Bein gestanden haben soll. Dann sei Ganga, die dem Ganges innewohnende Flussgöttin, vom Himmel herab geströmt und habe die Sünden seiner Vorfahren fort gewaschen. Solche Dinge haben die Pilger während ihrer Wallfahrt im Kopf – auch wenn sie sich ursprünglich nur körperlich ertüchtigen wollten."
Anders als Muslime, bei denen die Wallfahrt zum religiösen Pflichtprogramm gehört, planen Hindus ihre Pilgerreisen nach Gutdünken. Es gibt nicht das eine Heiligtum in Indien, sondern viele Orte, die für Hindus sakrales Potential haben. So sind hinduistische Gläubige davon überzeugt, dass Berge göttliche Kraft haben können – aber auch Tiere, Menschen, Gesteinsformationen, Pflanzen oder Gewässer.
"Jedes Heiligtum birgt andere heilige Orte"
"Ein Beispiel: Es gibt drei Orte, die verehrt werden, weil an ihnen der heilige Fluss Ganges entspringen soll. Anhänger des Gottes Krischna besuchen deshalb Mathura oder Vrindavan, Anhänger Shivas dagegen zieht es eher nach Varanasi. Aber: Ein Verehrer Shivas kann unter Umständen auch ein Krischna geweihtes Heiligtum aufsuchen. Viele Religionswissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts haben den Fehler gemacht, für den Hinduismus eine Art Rankingsystem einzuführen. In diesem Ranking standen alle heiligen Stätten, die mit dem Ganges zu tun haben, ganz oben. Meiner Meinung nach ist das aber so nicht richtig!"
Denn: Ob Hindus Varanasi mit den 108 Kultstätten besuchen, ob sie in Haridwar am Oberlauf des Ganges darum bitten, von all ihren Sünden befreit zu werden oder ob sie nur die Statue ihres Gottes an einem weniger bekannten Pilgerort umschreiten – jedes der Heiligtümer birgt andere heilige Orte in sich, so die Überzeugung. Und somit wird jede Prozession für Hindus zu einer Expedition ins Universum.
Viele heilige Wegmarken befinden sich an Schnittpunkten zwischen Land und Wasser, an Flussufern oder auf Bergen. Göttliche Präsenz wird auch vorausgesetzt, wenn an einem Ort zwei oder drei Flüsse münden. Legenden tun ein Übriges. Moderaten Schätzungen zufolge sind täglich mehrere Hunderttausend Inder unterwegs, um ein religiöses Fest aufzusuchen oder ihre ganz persönliche Pilgerfahrt anzutreten.
Zunächst ein Bad im Ganges
Und die meisten von ihnen reisen zumindest einmal im Leben nach Varanasi, Indiens bekanntester Hindu-Wallfahrtsstätte im Bundesstaat Uttar Pradesh, so der hinduistische Gelehrte Anuj Dardivedi:
"Nach ihrer Ankunft in Varanasi nehmen die Menschen zunächst ein Bad im Ganges. Dann suchen sie die Tempel auf, die ihnen am meisten am Herzen liegen. Auch wer einfach nur mehr über hinduistische Gepflogenheiten und Traditionen erfahren will, kommt hierher – nach Varanasi."
Varanasi am Ufer des Ganges, nach Anbruch der Dämmerung: Der Rauch der ersten Kochfeuer vermischt sich mit dem Sandelholzduft, der aus vielen kleinen Schreinen entweicht. Tempelglocken ertönen, um die Götter aus dem Schlaf zu wecken. Rechts und links der Treppen, die zum Fluss hinabführen, sitzen Brahmanenpriester in orangefarbenen Roben, um den Pilgern ihr Gelübde und ihr Geld abzunehmen.
Heilige Städte und Stätten gibt es in ganz Indien - und zwar reichlich. Doch keiner dieser Orte ist von so großer Bedeutung wie Varanasi, das für Anhänger des Gottes Shiva das Zentrum der Welt darstellt und unter anderem auch "Kashi", "Stadt des Lichts", genannt wird.
"Gibt es nicht viele Flüsse, die ins Meer fließen? Doch welcher von ihnen ist wie der Himmelsfluss in Kashi? Gibt es nicht viele Gebiete der Befreiung auf der Erde? Doch keines kommt dem kleinsten Teil der Stadt gleich, die niemals von Shiva verlassen worden ist."
An diesem von Gott Shiva geweihten Ort, sagt der Hindu-Priester Pandit Phanikumar, können die Gläubigen nicht nur religiöses Verdienst ansammeln, sondern auch die Lehre vom Dharma besonders gut verinnerlichen:
"An einer religiösen Stätte wie dieser werden die Menschen erfüllt vom Dharma, der hinduistischen Ethik: Überall sind sie von Gebeten und der Verehrung der Götter umschlossen, und sie können sich in Mildtätigkeit üben, weil sich an Wallfahrtsstätten besonders viele arme Menschen aufhalten. In Anwesenheit so vieler Götter kommt man nicht umhin, sich zu vergegenwärtigen, was das Dharma ausmacht – nämlich der Appell, die ethischen und religiösen Pflichten zu erfüllen und dieses Wissen weiterzugeben."
Vielfalt der Hindu-Religionen
Überdies bringt Varanasi die Vielfalt der Hindu-Religionen besonders eindrucksvoll zum Vorschein. An die zweitausend Kultstätten - Tempel, Schreine und in Stein gemeißelte Götterabbildungen – sind in der "Stadt des Lichts" zu finden. Alle Gottheiten, die Rang und Namen haben, sind darunter. So auch Shivas Sohn Ganesha, die beliebteste Gottheit des hinduistischen Pantheons.
"Die Leute lieben ihn, wegen seiner großen Intelligenz, seiner Persönlichkeit und seines Aussehens: Ganesha ist dick und hat den Körper eines Kindes mit einem Elefantenkopf. Er mag gern Süßigkeiten, ist gütig und außerdem sehr schlau. Und er reitet auf einer kleinen Maus! Hinzu kommt, dass es so viele Legenden gibt, die sich um ihn ranken."
Sagt die aus Pune stammende Indologin Manjiri Bhalerao. Diesen Gott lieben die meisten Hindus nicht nur, hier in Varanasi brauchen sie ihn auch ganz besonders. Wer die etwa fünf Stunden dauernde Umrundung der wichtigsten Tempel und Kultbilder Varanasis hinter sich gebracht hat, muss sich sein spirituelles Verdienst von Ganesha gut schreiben lassen. Sonst war alle Mühe umsonst. An einem bestimmten Schrein des sogenannten Elefanten-Gottes machen die Gläubigen also nochmals Halt, fallen vor der rot leuchtenden Statue mit den silbernen Händen auf die Knie und bitten die Gottheit um ihren Segen.
Nur ein paar Meter entfernt bemalt ein alter Mann die Hörner einer erstaunt dreinschauenden Kuh. Es ist Mittag in der heiligen Stadt. Die Pilger treten aus dem Ganesha-Schrein heraus ins gleißende Sonnenlicht. Sie machen sich zu einem Imbiss auf, wo ihnen süßer Milchtee und vegetarische Teigtaschen serviert werden. Ein kleines Stück weiter hat sich ein Sadhu, ein hinduistischer Heiliger, in der Erde verbuddelt. Nur sein Kopf lugt hervor.
Ganz in der Nähe befindet sich der Verbrennungsplatz, wo Söhne neben dem Scheiterhaufen niederknien, um dem verstorbenen Vater Ganges-Wasser in den Mund tropfen zu lassen. So sei es seit jeher Brauch, sagt der Leichenverbrenner Kailash Chowdoury:
"Um dem Verstorbenen Respekt zu bezeugen, muss sich der Sohn, der Vater oder Bruder zuvor sein Haar schneiden lassen. Danach nimmt er ein rituelles Bad im Ganges, zieht ein weißes Gewand an und begibt sich zu einem Tempel gleich hier in der Nähe. Dort holt er das heilige Feuer."
In Varanasi, wo Gott Shiva einst seinen irdischen Wohnsitz bezogen haben soll, brennt das heilige Feuer vierundzwanzig Stunden. Wer hier einen Becher Wasser aus den Fluten schöpft, heißt es, der nimmt den Geist des Hinduismus in sich auf. In Varanasi kommen Hindus ihrem höchsten Ziel näher: der Befreiung, dem Ende des Kreislaufs von Geburt, Tod und Wiedergeburt.
"Lerne die Prinzipien der Moral und des Berufes in den ersten 25 Jahren deines Lebens. Im zweiten Stadium verdiene Geld und genieße die Sinnesfreuden. Danach führe für weitere 25 Jahre ein tugendhaftes und frommes Leben in der Abgeschiedenheit. Und dann, in deinem vierten Lebensstadium, strebe nach Befreiung."
Heilige Stätten leben von den Verstorbenen
Heilige Stätten wie Varanasi leben von den Verstorbenen, die vor ihrem Tod darauf gespart haben, sich hier vom Feuer verzehren zu lassen. In Varanasi soll Gott Shiva ihnen ein Mantra ins Ohr flüstern, wirkmächtige Silben, die den Verblichenen auf ihrer Weiterreise beistehen. Davon ist auch der Leichenverbrenner Kailash Chowdoury völlig überzeugt:
"Wer sich in Varanasi verbrennen lässt, geht vollkommen rein ins ewige Glück ein: ins Nirwana. Deshalb bringen Angehörige aus der ganzen Welt ihre toten Verwandten hierher, um sie an diesem Ort verbrennen zu lassen. Wenn es nicht anders geht, erfolgt die Verbrennung manchmal doch am Heimatort. Aber selbst dann bringt die Familie die Asche nach Varanasi und verstreut sie im Ganges."
Nicht nur die Leichenverbrenner, sondern etwa 75 Prozent der Einwohner Varanasis profitieren von den Toten. Und von den Lebenden. Millionen Pilger bevölkern jedes Jahr die Stadt – und sie treffen auf religiöse Dienstleister.
Etwa auf Barbiere, die genau da sitzen, wo alle durch müssen – auf den Stufen, die zum Flussufer führen. Die Barbiere haben spezielle Klingen für die Trauerrasur und wieder andere für einen moderaten Haarschnitt, der es Pilgern erlaubt, nach ihrem Bad in den Fluten pomadisiert und akkurat rasiert wieder ins Büro zu gehen.
Die Verstorbenen und ihre Angehörigen sind auch Arbeitgeber der Bootsleute, die sich am Uferrand postiert haben. Sie bringen die Leichen der Armen, die sich eine Verbrennung nicht erlauben können, weiter hinaus auf den Fluss und kippen sie dort in die Fluten. Ebenso verfahren sie mit den "five special kind of people", wie der Leichenverbrenner sie nennt – jenen fünf Menschengruppen, die nicht verbrannt werden – und zwar aus traditionellen Gründen, seit jeher:
"Wenn Heilige sterben oder Schwangere, Pocken-Kranke, Kinder unter sieben Jahren und Opfer eines Schlangenbisses, dann werden die Leichname mit einem Stein beschwert und ins Wasser entlassen. Die Verbrennung hat ja den Sinn, die Seele des Verstorbenen zu läutern. Doch weil diese Menschen bei uns als rein gelten, müssen sie nicht verbrannt werden."
Nur frühmorgens und am Abend haben die Fährmänner keine Zeit für diese Toten. Wenn die ersten Sonnenstrahlen den Fluss erhellen und kurz bevor die Sonne untergeht, sind ihre Boote zum Bersten voll mit Lebenden. Dann ist die Zeit der Touristen gekommen, ihre Chance, bei bestem Licht an den Verbrennungsstätten entlang zu fahren und Priester, Angehörige, das Verbrennungspersonal und natürlich die Leichen möglichst nah heran zu zoomen.
Wenn die Besucher aus aller Welt dann um einige Eindrücke reicher und um viele Dollar ärmer wieder ins Gewirr der Gassen eintauchen, haben sie Gelegenheit, den "Götter-Schneidern" über die Schultern zu sehen. Diese Ritualspezialisten kleiden die Gottheiten ein, die in den Tempeln jeden Tag ein neues Gewand angelegt bekommen. Sie kommen aus Familien, in denen die Väter ihr Wissen seit jeher an ihre Söhne weitergeben. Von morgens bis abends schneiden die auf göttliche Garderobe spezialisierten Männer die Stoffe für die Statuen zu und treten in die Pedale ihrer Nähmaschinen. Die fertigen Produkte werden von Tempelboten abgeholt und beim Priester abgeliefert.
Seine Aufgabe ist es, diese Statuen morgens mit Glockenklang zu wecken. Dann badet er seine Götter, benetzt sie mit Rosenwasser und zieht ihnen ihr Tageskleid an. Erst dann dürfen die Pilger sich vor den Gottheiten verneigen und sie um ihren Segen bitten.
"Was ich mache, ist doch unbedeutend. Ich bin ein Pandit, ein religiöser Gelehrter, der sich darum bemüht, die Gläubigen Gott näher zu bringen. Ich tue nur meine Pflicht. Es ist nichts. Wirklich: nichts."
Was Pandit Prem "nichts" nennt, kann in ein Stunden, manchmal sogar Tage währendes hinduistisches Ritual münden. Dadurch werden die Priester zwar nicht reich, aber sie verrichten ihre Tätigkeit auch nicht für Gotteslohn. Vor allem einige der höheren Brahmanen-Priester stehen im Ruf, ihre Litaneien nur gegen Aufschlag empathisch und über Stunden hinweg zu singen.
Spirituelle Erleuchtung von Schatten verdunkelt
Dass die Stätten spiritueller Erleuchtung auch immer wieder von Schatten verdunkelt werden, wollen weder der Priester Pandit Prem noch die Indologin Manjiri Bhalerao leugnen. Und es seien nicht nur habgierige Brahmanen, die den Eindruck der "heiligen Idylle" trüben. Sondern auch das Schachern der Leichenverbrenner um den Holzpreis, oder Touristen und ihre Sensationslust bei den Leichenverbrennungen, oder die Bettlerinnen, die ihren Babys mit einer Nadel in den Po stechen, damit sie schreien und so Mitleid erregen.
All das tue dem steten Zustrom der Gläubigen aber keinen Abbruch. Im Gegenteil: Durch die zunehmende Mobilität der Inder finden die vielen Wallfahrer bei großen Festen manchmal kaum noch eine Unterkunft.
"Zweimal im Jahr feiern wir besonders große Feste für unsere Flussgöttin Ganga. Unzählige Kerzen erleuchten dann den Ufersaum. Und Millionen Menschen finden sich hier ein, um sich daran zu erfreuen," so der Priester Pandit Prem.
Und: Nein, sagen der Priester und die Indologin. Auch ein Leichenverbrenner, der am Abend gegen Geld für ein "letztes-Photo-mit-der-Leiche" vor den Linsen von Touristen posiert, schmälere für Hindus die Bedeutung eines solchen Pilgerortes nicht. Auch nicht das rüde Auftreten der Arbeiter, die in der Mitte der Nacht die Totenasche der letzten 24 Stunden zusammenfegen und auf jeden einschlagen, der sich ein Stück Stoff, einen Holzscheit oder einen Rest glimmender Kohle aus der Asche sichern will.
Das Pilgern zu heiligen Stätten bleibt für Hindus zentral. Trotz aller Widersprüche. Und obwohl die ganze Mühsal eigentlich gar nicht nötig wäre, erklärt die Indologin Manjiri Bhalerao:
"In Indien sagen wir: 'Gott und ich - wir sind ein und dasselbe'. Gott ist in unserem Hausaltar. Und das Abbild zu Hause unterscheidet sich nicht von dem im Tempel. Warum also begeben wir uns dennoch auf diese Pilgerreisen? Weil es uns erfüllt, weil es uns froh macht! Und: Weil zu diesen Tempeln und Plätzen schon unsere Vorfahren gepilgert sind. Es ist und bleibt Tradition in unseren Familien, an festgelegten Tagen einen bestimmten Tempel oder Ort aufzusuchen, weil schon unsere Ahnen diese Stätte aufgesucht haben und sie zum Ursprung unserer Familie erklärt haben."