Salbei, Thymian, Minze, Kamille, vielleicht noch Arnika - das sind die Heilpflanzen, die viele kennen. Aber was ist mit Brennnessel, Löwenzahn oder Breit- und Spitzwegerich? Heutzutage kennen und nutzen sie wohl die wenigsten von uns. Dabei enthalten Heilkräuter Vitamine und Nährstoffe. Und sie können bei der Behandlung von Krankheiten helfen.
Was Heilpflanzen sind und was sie ausmacht
Nach Zahlen des World Wide Fund For Nature (WWF) gibt es rund 60.000 Heilpflanzen auf der Welt. Das Bundesamt für Naturschutz rechnet weltweit mit 70.000, allein in Deutschland soll es über 400 Heilpflanzen geben.
Überall auf der Welt haben Pflanzen in der Heilkunde eine lange Tradition. „Wenn wir uns überlegen, wo die meisten Dinge herkamen, mit denen wir uns über Jahrtausende selbst behandelt haben: Da kamen die typischerweise aus Pflanzen", sagt Peter Seeberger. Er ist Chemiker und Direktor des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam.
In ägyptischen Grabstätten wurden Heilpflanzen gefunden - und auch in einem Lederbeutel der etwa 5000 Jahre alten Gletschermumie „Ötzi“. In China und Indien sind Heilkräuter seit jeher und ungebrochen eine wichtige Stütze in der Behandlung von Krankheiten.
Heilpflanzen enthalten, ebenso wie pflanzliche Arzneimittel aus der Apotheke, meist eine komplexe Mischung zahlreicher Wirkstoffe. Synthetisch hergestellte Arzneimittel setzen hingegen in der Regel auf nur einen oder wenige Wirkstoffe. Eine Tablette wirkt oft nach wenigen Minuten, eine Pflanze durch ihre vielen meist niedriger dosierten Wirkstoffe langsamer, aber weiter gefächert.
Wie Heilpflanzen heute verwendet werden
Laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes werden weit über eine Milliarde Euro pro Jahr in Deutschland allein in Apotheken für pflanzliche Arzneimittel ausgegeben. Immer wieder geraten bestimmte Pflanzen unterschiedlicher Länder und Regionen ins Rampenlicht der weltweiten Öffentlichkeit.
Seit der Coronapandemie ist beispielsweise die Nachfrage nach sogenanntem Zistrosentee enorm gestiegen, also Kräuteraufgüssen getrockneter Zistrosenblätter. Die Blätter der Zistrose werden vor allem im Mittelmeerraum traditionell als Hausmittel bei Erkältungen, Entzündungen im Mund- und Rachenraum, Magen-Darm-Problemen, Neurodermitis und vielem anderen eingesetzt.
In der traditionellen chinesischen Medizin spielt dagegen beispielsweise Artemisia-Annua, der „Einjährige Beifuß“, eine wichtige Rolle. Die Pflanze ist heute eine der wissenschaftlich bestuntersuchten Heilpflanzen der Welt. In China gibt es seit über 2000 Jahren Aufzeichnungen über die Wirkung der Pflanze. Ihr Wirkstoff Artemisinin ist heute Hauptwirkstoff einiger Medikamente gegen Malaria.
Der Pharmazeut Hans-Martin Hirt aus Winnenden in Baden-Württemberg unterstützt mit seinem Verein „Anamed“ Menschen in Malariagebieten beim Anbau der Heilpflanze. „Die Vorteile von der westlich geprägten Medizin sind natürlich die Hygiene, die Angabe von der Haltbarkeit, die genaue Dosierung", sagt er. Die Vorteile der traditionellen Medizin sei dagegen, dass die Heilpflanzen vor Ort wachsen und preisgünstig oder sogar ganz kostenlos sind.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung bezeichnet Artemisinin in einer Veröffentlichung als „Extrem-Wirkstoff“. Auch bei Erkältungssymptomen, Corona-Viren, bestimmten Krebsarten, Borreliose und vielem mehr wird eine Wirkung sowohl des extrahierten Artemisinins als auch von Auszügen der Pflanze, zum Beispiel in Form von Tee, beschrieben.
Wie wir Heilpflanzen mehr in unserem Alltag nutzen könnten
Viele Heilpflanzen lassen sich in den Wiesen und Wäldern einfach finden und sammeln. Beispielsweise der Breitwegerich. „Das ist ein sehr, sehr gutes Heilkraut. Das ist sehr gut für die Ohren und für die Blase zu benutzen", sagt der Heilpraktiker und Phytotherapeut George Brasch. "Man sammelt den, trocknet den und macht dann einen Tee draus.“
George Brasch ist regelmäßig mit Interessierten in Wiesen und Wäldern unterwegs und erklärt Pflanzen und ihre Wirkung. Bei Youtube betreibt er den Kanal „Georgs Pflanzenwelt“, mit dem er Lehrerinnen, Erzieher, Ärztinnen, Apotheker, Heilpraktikerinnen und interessierte Laien für heimische Heilpflanzen sensibilisieren möchte.
Ein weiteres Beispiel für Heilpflanzen, die direkt vor der Tür wachsen, ist der Löwenzahn. „Löwenzahn ist auch eine unserer ganz alten Heilpflanzen“, so Brasch. „Wir benutzen die Wurzel und die Blätter zusammen. Daraus macht man dann auch wieder ein Tee.“ Das sei gut für die Verdauung, weil Bitterstoffe drin sind, und für die Niere.
Im Falle eines Bienen-, Wespen- oder Mückenstichs helfen Brasch zufolge Spitz- und Breitwegerich: Zerkauen, auf die betroffene Stelle tupfen und innerhalb einer halben Stunde sei der Stich beseitigt. Bei einem Stich, so erklärt der Heilpraktiker, werden Histamine freigesetzt, die den Juckreiz auslösen. Die Iridoide der Pflanze wiederum wirkten antiallergisch, hemmten also die Ausschüttung von Histaminen.
Warum etliche traditionelle Heilpflanzen in der EU verboten sind
Am 15. Mai 1997 trat eine neue EU-Verordnung in Kraft, die sogenannte Novel-Food-Verordnung. Sie soll Verbraucher vor den möglichen Risiken unter anderem von Lebensmitteln mit „neuer oder gezielt veränderter Molekularstruktur“, Lebensmitteln „die durch neuartige, nicht übliche Verfahren hergestellt wurden“ und vielem mehr schützen.
Neuartige Lebensmittel im Sinn der Verordnung sind Lebensmittel, die vor dem 15. Mai 1997 in „nicht nennenswertem Umfang in der Europäischen Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurden“. Diese „Neuartigen Lebensmittel“ brauchen eine Genehmigung, um in der EU zugelassen zu werden. Um diese zu bekommen, müssen aufwendige und teure Untersuchungen durchgeführt und dokumentiert werden.
Auch etliche traditionelle Heilpflanzen fallen unter diese Verordnung. So auch einige Zistrosenarten, die zwar in Griechenland traditionell verwendet werden, aber im Rest von Europa nicht. Ihre Zulassung wäre aufwendig und teuer und somit dürfen sie außer in Apotheken nur noch als „Badezusatz“ verkauft werden.
Warum es eine Trennung zwischen Pflanzenheilkunde und "Schulmedizin" gibt
Andreas Michalsen ist überzeugter Mittler zwischen der "Schulmedizin", evidenzbasierter Medizin, und der Naturheilkunde. Er ist Facharzt für Innere Medizin und Kardiologe, leitet die Abteilung für Naturheilkunde des Immanuel Krankenhauses Berlin und ist Professor für klinische Naturheilkunde an der Berliner Charité. Die Trennung zwischen „knallharter Schulmedizin“ und Naturheilkunde hält er für „nicht sinnvoll“. Das sei Folge einer „an sich wunderbaren Verwissenschaftlichung der Medizin“, die es seit mehr als 100 Jahren gebe. Die Naturheilkunde ist ihm zufolge nur nicht richtig erforscht, weil es bisher keine großen Konzerne gegeben hat, die die Forschung finanziert hätten.
Die Trennung zwischen Naturheilkunde und konventioneller Schulmedizin gründet also mehr auf wirtschaftlichen Interessen als auf der Skepsis gegenüber einem, zumindest ergänzenden, Einsatz von Heilpflanzen und anderen Verfahren der Naturheilkunde. Michalsen hält das für nicht mehr zeitgemäß. Bei ihm im Krankenhaus setze man deswegen auf Kombinationen. „Man kann, bevor man Spritzen gibt oder eine Operation macht, auch Kohlblätter um ein schmerzendes Kniegelenk wickeln. Und man kann mit Boxhornkleeauflagen oder Leinsamenumschlägen, oder was auch immer, sehr viele kleine Heileffekte erzielen.“
Die Domäne der Naturheilkunde sind laut Andreas Michalsen chronische Erkrankungen und Infekte wie zum Beispiel Erkältungen, nicht aber die Akut- und Notfallmedizin.
mfied