"Ich hatte eine Ausbildung als Köchin begonnen, und da fand ich das ziemlich blöd, die 75 Prozent abgeben zu müssen, weil es ja mein erstes Geld war, mein eigenes verdientes Geld, und ich dann davon gar nichts hatte. Somit habe ich dann die Ausbildung abgebrochen, weil ich es nicht eingesehen habe, so viel ans Jugendamt abzugeben."
Jenny, 24 Jahre alt, lebt mit ihrer zweijährigen Tochter in einer Mutter-Kind-Einrichtung in Rheinbach bei Bonn. Jetzt nimmt sie einen neuen Anlauf und absolviert ein freiwilliges soziales Jahr in der Altenpflege, auch wenn das Jugendamt erneut 75 Prozent ihres Gehaltes einfordert.
"Ich sehe auf dem Konto die ganze Zeit null, null, null"
"Warum muss man das von uns dann nehmen, wofür wir überhaupt nix können und so? Ja, was haben wir denn getan, dass wir 75 Prozent abgeben müssen? Ich verstehe es nicht. Ich sehe einfach auf dem Konto die ganze Zeit null, null, null. Klar, bisschen kommt ja, ich will nicht sagen, dass da nichts kommt, aber dann geht die Motivation weg."
Der 18-jährige Serkan wohnt seit seinem dritten Lebensjahr bei seinen Pflegeeltern im nordrhein-westfälischen Ibbenbüren. Auch er hat seine erste Ausbildung nach einem Jahr frustriert geschmissen und startet nun ebenfalls seinen zweiten Versuch, Fachkraft in der Lagerlogistik zu werden. Wieder soll er zwei Drittel seines Lohnes abgeben.
"Aus dem Grund der 75-Prozent-Regelung gehe ich nicht arbeiten und mache keinen Nebenjob oder keinen Ferienjob oder so und habe mich im Dezember letzten Jahres für ein Ehrenamt entschieden. Natürlich verstehe ich den Staat, und ich verstehe die gesetzliche Regelung, aber es gibt einfach totale soziale Disparitäten. Ein junger Mensch, der eine Ausbildung macht, aber noch im Elternhaus lebt, der wird sein ganzes Gehalt behalten können, das werden die Eltern einem nicht wegnehmen."
Simone lebt in einer Jugendwohngruppe der Diakonie in Köln. Die 16-jährige Schülerin arbeitet unentgeltlich in der dort angeschlossenen Reittherapie. Außerdem engagiert sie sich bei der Initiative "Jugend vertritt Jugend", die von den Landschaftsverbänden Westfalen-Lippe und Rheinland unterstützt wird. Dort machen sich junge Menschen aus Jugendhilfe-Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen stark für ihre eigenen Rechte.
"Ich habe studiert, deswegen habe ich Glück gehabt"
"Man weiß, boah, irgendwann kommt der Tag, an dem wird es halt echt schwierig, da geht es um eine Wohnung, da geht es vielleicht um eine Ausbildung, oder mache ich die Schule weiter. Ich habe keine Ausbildung gemacht, ich habe studiert, deswegen habe ich Glück gehabt, aber die anderen müssen halt 75 Prozent abgeben. Meine Pflegeeltern haben sich weiterhin verantwortlich gefühlt und haben mich dann auch unterstützt."
Nachdem sie erfolgreich ihr Sonderpädagogik-Studium abgeschlossen hat, lebt Roxan Krummel, 26 Jahre alt, mit Mann und eigenen Kindern in Köln. Sie hat 2012 die Organisation "Careleaver" mitgegründet. Careleaver sind junge Erwachsene, die aus der Versorgung der Jugendhilfe "herausgewachsen" sind und sich nun in diesem Netzwerk helfen, selbständig zu werden.
Vier Betroffene, die nicht das Glück haben, bei den eigenen Eltern aufzuwachsen und auf Jugendhilfe angewiesen sind. Dafür gibt der Staat viel Geld aus, aber er holt sich einen Teil zurück. "Kostenheranziehung" heißt das im Amtsdeutsch, geregelt in Paragraf 94 des Sozialgesetzbuches acht, kurz SGB VIII. Der Gesetzgeber schreibt zwar vor, dass junge Menschen zwei Drittel ihres Nettoeinkommens abführen müssen. Aber er sieht auch Ausnahmen vor und räumt den zuständigen Jugendämtern einen Ermessensspielraum ein. Jürgen Kröder vom Jugendamt des Rhein-Sieg-Kreises in Siegburg:
"Zum Beispiel gibt es eine Härtefallklausel. Das ist dann eine Abwägung im Einzelfall, für und wider, und was spricht in dem Fall dafür, in dem anderen Fall aber dagegen. Wir versuchen ja auch irgendwo die Fälle gleich zu behandeln. Es wäre jetzt unfair, bei dem einen Fall sehr großzügig zu sein und bei dem anderen Fall weniger großzügig, aber das ist eigentlich unser Job, den wir haben."
"Bestraft für das, was die leiblichen Eltern verbockt haben"
"Was man aber vielleicht auch noch dazu sagen sollte, ist: Auf der einen Seite müssen die Jugendlichen Geld abgeben, wenn die aber zum Beispiel Fahrtkosten zur Arbeitsstelle haben, Berufskleidung benötigen, besondere Fachliteratur benötigen, da gewähren wir dann auch wieder Beihilfen für, also das heißt, das müssen die dann nicht von dem verbleibenden Rest auch noch finanzieren, sondern das bekommen die dann auch wieder von uns. Also, wir versuchen da schon, ja, sehr pragmatisch eben vorzugehen. Und vor allen Dingen nicht die Motivation der Jugendlichen kaputtzumachen, jetzt eine Ausbildung zu machen, sich weiterzubilden, um dann halt selbständig leben zu können, weil dann würden wir uns ja ein Stückweit auch ein Eigentor schießen", ergänzt Amtsleiterin Beate Schlich.
Um die Motivation nicht zu gefährden, können Jugendämter einen geringeren Kostenbeitrag als 75 Prozent erheben. Aber nicht jede Behörde legt das so wohlwollend aus wie die in Siegburg. Das bekommt zum Beispiel Serkan in Ibbenbüren zu spüren.
"Die das eigentlich bestimmen, sitzen außerhalb, kennen mich eigentlich gar nicht, wissen gar nicht, wie ich lebe und dass ich halt auch auf eigenen Beinen stehen möchte, und beschließen das halt. Das ist einfach, finde ich, nicht okay."
Serkans Pflegeeltern Annette und Udo versuchen, seinen Frust aufzufangen. Sie sind froh, dass er in einem Berufsinternat doch noch seine Ausbildung zum Lagerlogistiker zum Abschluss bringen will – trotz der 75-Prozent-Abgabe.
"Wir sehen einfach bei ihm und im Bekanntenkreis, wie demotivierend für die das ist, dass die sagen, ja, ich habe das und das Geld, aber ich habe das nicht verdient. Ich habe das von Mama und Papa. Das ist eine ganz andere Hausnummer, als wenn die sagen können, ich habe das selber verdient. Im Endeffekt werden sie für das, was die leiblichen Eltern nicht geschafft haben oder teilweise auch verbockt haben, bestraft."
"Ich kann jeden Jugendlichen verstehen, der 75 Prozent abgeben muss, dass der irgendwann mal das Handtuch schmeißt und sagt, ich tue es nicht mehr und ich kann es auch nicht mehr, und das sollte in einem Rechtsstaat eigentlich auch gar nicht so vorkommen."
Unterschiedliche Auslegung durch die Jugendämter
Serkan und seine Pflegeeltern werden von Gerburg Berkenheide vom Netzwerk Pflegefamilien des Verbundes sozialtherapeutischer Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen betreut. Ihre Erfahrungen mit den Behörden sind sehr unterschiedlich.
"Es kann sein, dass Jugendämter tatsächlich bis zu 50 Prozent schon mal gehen, dass einige auch sagen, okay, wir akzeptieren sogar den Führerschein, das Ansparen, und ziehen das dann auch nicht mehr ab. Und es gibt auch welche, die sagen, ja, wir würden ja gerne, es sind 75 Prozent, das ist Gesetz, da können wir gar nichts machen. Wir versuchen, so viel wie möglich zu erklären und transparent zu machen und auszuhandeln. Mehr können wir im Moment nicht."
"Man könnte vielleicht klagen und da wieder gegen angehen, aber dann investiert man natürlich wieder eine Menge, und man rennt nirgends eine offene Tür ein, und man steht letztendlich auch alleine da", meint Pflegevater Udo.
Einen Rechtsanwalt einzuschalten, kann auch Bernd Hemker von der Ombudschaft Jugendhilfe NRW in Wuppertal nicht in jedem Fall empfehlen: "Das kann hilfreich sein, muss aber nicht hilfreich sein, weil es kann auch den gegenteiligen Effekt erzeugen, nämlich dass das Jugendamt sagt, ha, was machst Du denn da, Anwalt? Jetzt aber erst recht. Wir zeigen Dir, wer hier der Fürst des SGB VIII ist. Wir als Ombudsstelle, das heißt eine Stelle, wo sich junge Menschen hinwenden können, um sich unabhängig beraten zu lassen und um im Einzelfall auch sich zu beschweren, wir erleben halt eben dann eher die Schattenseite der Jugendämter."
Laut Sozialgesetzgebung SGB VIII können Jugendämter seit 2013 sogar ganz auf einen Kostenbeitrag verzichten, wenn Jugendliche zum Beispiel im sozialen oder kulturellen Bereich tätig sind, bei der nicht die Erwerbstätigkeit, sondern soziales oder kulturelles Engagement im Vordergrund stehen. Da fragt sich Jenny aus Rheinbach, warum man ihr als Auszubildende in der Altenpflege ausgerechnet den Höchstsatz abverlangen will.
"Aber ich bin mittlerweile auch ein bisschen erwachsener geworden und kann es verstehen, dass wir halt auch was abgeben müssen dadurch, dass wir hier keine Ausgaben haben, aber jetzt bei meinem Freiwilligen Sozialen Jahr werden es noch 95 Euro, die mir bleiben würden, ja, ich habe mir gedacht, ich mache es trotzdem, weil ich möchte ja auch in meinem Leben gerne weiterkommen."
Allerdings überlegt die 24-Jährige noch, Einspruch beim Jugendamt einzulegen, um weniger zahlen zu müssen. Dabei würde ihr wohl auch die Mutter-Kind-Einrichtung zur Seite stehen, in der sie mit ihrer kleinen Tochter lebt. Die Leiterin Viktoria Frömel-Kraft:
"Mir ist es schon ein paar Mal gelungen, die Jugendämter davon zu überzeugen, dass es für die Weiterentwicklung derjenigen wichtig ist, also soziale Kompetenzen erworben werden können oder die Verselbständigung besser laufen kann, wenn sie das Geld, das sie verdienen, behalten können."
"Verstehen, dass Leben Geld kostet"
Mit der "Kostenheranziehung" will der Gesetzgeber nicht die Jugendhilfe refinanzieren, sondern damit sollen Jugendliche eine erzieherische Eigenbeteiligung leisten. Diesem Gedanken kann Viktoria Frömel-Kraft Einiges abgewinnen.
"Im Grunde genommen finde ich eine Kostenbeteiligung richtig, Damit Jugendliche und junge Erwachsene verstehen, dass Leben Geld kostet, sollten sie zumindest 25 Prozent ihres Einkommens beisteuern."
Gerburg Berkenheide vom Netzwerk Pflegefamilien sieht das persönlich ähnlich: "Ich versuche immer gerne, dem Jugendlichen auch zu erklären, wofür dieses Geld da ist, weil die haben ja meistens die Vorstellung, alles meins, ich würde es am liebsten ausgeben nur für mich, für schöne Klamotten, für dies und das. Ich finde, das sollten auch Eltern von Kindern, die ganz normal in ihren Familien aufwachsen, damit sie irgendwie kapieren, dass sie auch für was aufkommen müssen."
Zahlen, wie viele Jugendliche Teile ihres Einkommens an den Staat abgeben müssen, gibt es nicht. In Deutschland lebten – nach Angaben des Statistischen Bundesamts - Ende 2017 mehr als 91.000 Jugendliche in Pflegefamilien, knapp 148.000 in Heimeinrichtungen und anderen Wohnformen.
BAföG kassiert das Jugendamt
Pflegeeltern bekommen - nach Alter ihres Schützlings gestaffelt - zwischen 600 und 1.000 Euro im Monat, dazu Beihilfen zum Beispiel für Klassenfahrten. Einen jungen Menschen in einer Jugendhilfe-Einrichtung unterzubringen, kostet den Staat zwischen 40.000 und 70.000 Euro im Jahr, je nach Fördermaßnahme. Jugendliche, die wie die Kölnerin Simone in einer Jugendwohngruppe leben, erhalten davon monatliche Zuwendungen.
"Wenn ein junger Mensch in der Verselbständigung lebt und eine Ausbildung macht, bekommt der also trotz der 75 Prozent, die vom Gehalt abgezogen werden, alle finanziellen weiteren Hilfen, Taschengeld ganz normal, er bekommt Bekleidungsgeld ganz normal, Jugendpauschale auch ganz normal, und vor allem das Essensgeld."
Diese Unterstützung kann abhängig vom Alter um die 150 Euro im Monat oder mehr betragen. Allerdings behalten die Jugendämter Leistungen wie das BAföG ein. Beate Schlich, Jugendamtsleiterin im Rhein-Sieg-Kreis, erklärt warum.
"Die gesamten Jugendhilfeleistungen stammen aus kommunalen Finanzmitteln, also die Städte und Gemeinden finanzieren die Jugendhilfe komplett. Und BAföG kommt vom Bund, das ist ja eine Leistung, die im Prinzip für den gleichen Zweck gezahlt wird wie auch die Jugendhilfe, kommt aber von einem anderen Geldgeber, und deshalb nehmen wir das. Das ist genauso wie Kindergeld, das rechnen wir ja auch an, weil das eben die Ausgaben bei der Kommune dann reduziert."
Auch die Berufsausbildungsbeihilfe BaB, die die Agentur für Arbeit finanziert, und Waisenrenten werden einbehalten.
Nur wenige "Careleaver", die studieren
"Du bist Careleaver? Du hast Fragen oder Probleme? Dann melde Dich bei uns. Wir freuen uns auf Dich."
"Selbständigkeit für diese jungen Menschen heißt: Sie verlassen die Kinder- und Jugendhilfe und haben aber kein anderes System, auf das sie im Zweifel zurückgreifen können, um sich unterstützen zu lassen. Also ist sozusagen eine ihrer Möglichkeiten, ihre eigenen Interessen zu organisieren. Das sind Formen der Selbstorganisation, die wir als Ombudschaft sehr begrüßen und fördern", sagt Bernd Hemker, Ombudsmann der Jugendhilfe NRW.
Zu den wenigen Careleavern, die studiert haben, gehört Roxan Krummel. Die Kölnerin erinnert sich, wie kompliziert es nach der Zeit der Jugendhilfe war, das erste Mal BAföG zu beantragen.
"Das wurde dann nach meinen leiblichen Eltern berechnet, was auch immer ein erheblicher Aufwand ist, man muss da erst einmal in Kontakt treten. Wenn die Eltern noch verzogen sind, muss man jedes Mal nachweisen, wohin sie gezogen sind, man geht in Vorausleistung. Das Ganze kann sich um drei Monate verzögern, und Miete, Versicherung laufen alles weiter, aber da hat niemand Verständnis für. Und meine BAföG-Bearbeiterin hat damals gesagt: Fahren Sie vorbei, klingeln Sie an, fragen Sie nach, kriegen Sie Ihre Auskunft. Nee, das mache ich garantiert nicht, die mich misshandelt haben, die mich vernachlässigt haben und die ich auch jahrelang nicht gesehen habe, kein Kontakt, wo es Gerichtsverfahren zu gab. Also, das ist eine absolute Zumutung."
Kostenheranziehung "gesetzlich gesehen eine Katastrophe"
Careleaver können für die ersten eigenen vier Wände selten finanzielle Rücklagen bilden - wegen der 75-Prozent-Klausel. Das führe dazu, dass die meisten möglichst früh Geld verdienen wollten, meint Diana Eschelbach, Expertin für Kinder- und Jugendhilferecht vom Berliner Kompetenzzentrum Pflegekinder:
"Man weiß auch aus der Forschung, dass junge Menschen, die in stationärer Jugendhilfe aufwachsen, häufig länger brauchen, um höhere Bildungsabschlüsse zu erreichen. Auch im Hinblick darauf ist es fatal, wenn Jugendämter, und das gibt es durchaus in der Praxis, Hilfen für junge Volljährige, also ab 18 Jahren, kaum gewähren, obwohl die jungen Leute darauf in der Regel einen Anspruch haben."
Careleaver und die Initiative "Jugend vertritt Jugend" wenden sich mit ihrem Unmut an die Politik. Es gibt nicht nur Streit mit den Jugendämtern über die Höhe der Kostenheranziehung, sondern auch darüber, wie diese berechnet wird. Lorenz Bahr, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter in Köln.
"Die Heranziehung von Kindern und Jugendlichen ist gesetzlich gesehen eine Katastrophe. Der Gesetzgeber möchte, dass die Jugendlichen dann herangezogen werden, wenn sie in Arbeit oder Ausbildung gehen. Er hat aber im Gesetz geschrieben, dass als Bemessungsgrundlage herangezogen wird das Einkommen der Jugendlichen aus dem Vorjahr, also als sie noch gar nicht gearbeitet haben. Insofern ist der Versuch, auf dieser Grundlage die Jugendlichen heranzuziehen, vielfach gescheitert, auch vor den Gerichten."
"Auf eine Heranziehung ganz verzichten"
"Gedacht hatte der Gesetzgeber dabei an das Einkommen der Eltern, die ja auch bezahlen müssen für die Unterbringung ihrer Kinder, hat aber nicht dazu geschrieben, dass er nur die Eltern meint. Das heißt, wenn man ins Gesetz reinschaut, was da geschrieben steht, dann müsste man diese Regelung eigentlich auch für die jungen Menschen anwenden. Das tun aber die meisten Jugendämter nicht", so Diana Eschelbach, Expertin für Kinder- und Jugendhilferecht.
"Nun ist es so, dass der Gesetzgeber aber eigentlich möchte, dass herangezogen wird, und er empfiehlt, und auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter empfiehlt, das aktuelle Einkommen zugrunde zu legen, was durch das Gesetz letztlich aber gar nicht gedeckt ist."
Deswegen erwägen die Landesjugendämter, die eigene Empfehlung zu überarbeiten. Einkommen aus dem Vorjahr oder aktuelles Einkommen, die Frage beschäftigt Gerichte und Sozialpolitiker gleichermaßen. Aber eigentlich hält Lorenz Bahr diese Diskussion für überflüssig.
"Ich persönlich bin der Auffassung, auf eine Heranziehung ganz zu verzichten. Wenn man für den erzieherischen Aufwand nicht heranzieht, sondern nur für Unterbringung und Verpflegung, das wäre gerechtfertigt, und dann sagt 25 Prozent, ich behaupte, dann ist der Verwaltungsaufwand größer als der Ertrag."
Union möchte "75 Prozent deutlich absenken"
Seit Jahren debattieren die Parteien über eine Verbesserung für die betroffenen Jugendlichen. Verschiedene Vorstöße fielen entweder im Bundestag oder im Bundesrat durch, in der letzten Legislaturperiode zum Beispiel im Rahmen des Jugendstärkungsgesetzes. In diesem Jahr hat das Land Rheinland-Pfalz einen Versuch gestartet, aktuell auch Baden-Württemberg. Doch das Bundesfamilienministerium plant nun für Anfang 2020 eine große Reform des SGB VIII. Die Union will nach wie vor an der Kostenheranziehung festhalten. Marcus Weinberg, familienpolitischer Sprecher der CDU-/CSU-Fraktion:
"Ich finde es berechtigt, zu sagen, dass zumindest dann, wenn ein Einkommen vorliegt, das in Teilen angerechnet wird. Das finde ich schon auch angemessen. Und unser Bestreben wird es sein, dass wir die 75 Prozent deutlich absenken, und 50 Prozent ist eine gute Zielmarke, und dazu sollten Schülerjobs, Praktika, Ferienjobs natürlich auch kostenfrei beziehungsweise abgabefrei gestellt werden."
"Die jetzigen Regelungen benachteiligen junge Erwachsene aus Heimen und Pflegefamilien beim Eintritt in die Selbständigkeit. Da geht es um weniger Freiheiten in der Berufswahl und der Wohnortwahl, weil sie eben finanziell in Bedrängnis stehen, und damit wollen wir Schluss machen. Insofern bin ich nicht damit zufrieden, wenn ein Vorschlag im Raum ist, eine soziale Ungerechtigkeit nur abzumildern und nicht abzuschaffen."
Wie Anne Spiegel, rheinland-pfälzische Familienministerin von den Grünen, sind wohl auch SPD und Linke dafür, Pflegekinder gar nicht mehr an den Kosten zu beteiligen. Ein möglicher Kompromiss mit der Union könnte zwischen 25 und 50 Prozent liegen auf Basis des aktuellen Einkommens.
"Wir schreiben jetzt eine Petition"
Ein erster Schritt für Simone, Serkan und Roxan. Noch ist nichts entschieden.
"Wir versuchen, gehört zu werden und schreiben jetzt eine Petition, die wir in den Bundestag und ins Familienministerium einreichen wollen, und wollen damit die 75-Prozent-Regelung abschaffen."
"Ich glaube, das ist sehr, sehr zäh. Als es vor zwei Jahren schon einmal um diese Reform ging, die ja dann kurz vor knapp gescheitert ist, wo wir auch sehr viel mitgearbeitet haben, war ich sehr engagiert dabei und habe auch gedacht, ja, das wird was und war total positiv. Ja, dann kam die Sommerpause, und dann ist das Gesetz nicht durch. Ich hoffe, dass es dieses Mal zufriedenstellender sein wird, ja, dass diese 75 Prozent-Regelung vielleicht einfach abgeschafft wird."