"Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird." Noch die lautstärksten selbsternannten Heimatschützer würden diesem Satz von Christian Morgenstern vermutlich zustimmen. Aber sie dürften anfügen, dass eben die Region ihrer Herkunft der einzige Ort sei, an dem sie noch hoffen könnten, verstanden zu werden. In Zeiten der Globalisierung, in denen sich alles rasant verändert, scheint die Heimat die letzte Zuflucht zu sein, wo man noch Schutz findet, erklärt der Dresdener Historiker Justus Ulbricht:
"Heimat ist ja auch ein Prozess, Sicherheit zu finden, Vertrauen zu haben. Und das Problem an der Globalisierung ist ja, dass viele Menschen sich eher als Opfer oder als passive Rezipienten eines Prozesses sehen, nämlich Globalisierung, an dem sie selbst nichts mehr steuern, der sich einfach vollzieht. Was auf der ganzen Welt passiert, ist in hohem Maße bedrohlich. Dann ist Heimat das Gegenbild zur Globalisierung."
Heimat in Zeiten von Corona
Wenn die weite Welt bedrohlich erscheint, wird Heimat zum emotionalen Zufluchtsort. Das Muster ist bekannt. Als im März hierzulande Corona ausbrach, erwartete die Berliner Literaturwissenschaftlerin Susanne Scharnowski deshalb, dass sich dieses Muster ein weiteres Mal wiederholen würde.
"Das wäre meine Ausgangs-Hypothese gewesen, dass in einer Zeit, in der wir ja tatsächlich enorme Umbrüche und Disruptionen erleben, eine verstärkte Hinwendung zur Heimat zu beobachten sei. Traditionell ist das so, es gibt Umbrüche und es folgt eine Nostalgie oder ein Festhalten am dem, was man zu verlieren droht. Es war tatsächlich eine Zeit lang so, dass man den Eindruck hatte in den Medien, dass viel darüber gesprochen wurde: Urlaub im eigenen Land, die Heimat entdecken, die lokalen Unternehmen zu unterstützen mit Gutscheinen, die hießen dann Heimatpräsent."
Das Heim als Heimatersatz
Doch spätestens seit dem zweiten Teil-Lockdown spürt Susanne Scharnowski einen Wandel. Die Gefahr lauert ja ausgerechnet in der unmittelbaren Umgebung. Sie könnte vom Nachbarn ausgehen, der einem jeden Tag über den Weg läuft und den man plötzlich meiden soll, weil er potentieller Virenträger ist.
"Heimat als Ort und auch als gemeinsam erlebter Lebensort, der kommt uns eher abhanden. Dadurch, dass der öffentliche Raum, wo oft sehr strenge oder strikte Regeln gelten, sehr problematisch geworden ist, durch diese Maßnahmen und durch die Furcht vor der Ansteckung."
Immer mehr Menschen ziehen sich zurück und wenden sich sogar von der Heimat ab.
"Jetzt ist es eher so, dass ich überrascht bin, dass vergleichsweise wenig von Heimat die Rede ist. Wovon wir viel eher sprechen, das ist etwas, was mindestens genauso den Ruf hat, sehr spießig zu sein, so eine Art Häuslichkeit, die jetzt zelebriert wird."
Häuslichkeit als Keimzelle der Heimat
Diese Häuslichkeit könnte man aber auch interpretieren als eine Art Keimzelle der Heimat, ergänzt Franziska Bomski, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am "Einstein Forum" in Potsdam:
"Wenn man sich auf Heimat positiv bezieht, und mit positiv meine ich nicht im nationalistischen Sinne, dann ist das ein Ort, der häufig mit dem Geburtsort, mit der Herkunft verknüpft ist. Der, wenn es gut läuft, mit einer irgendwie heilen Welt der Kindheit verbunden ist, in der man sich geborgen, sicher gefühlt hat, wo es so eine Art ruhigen Alltag gibt."
Heimat besteht dann aus vertrauten Geräuschen, Gerüchen und Geschmäckern und vor allem Landschaften. Und natürlich aus den Menschen, die sie bevölkern.
"Wo man sich im besten Sinne des Wortes kennt, wo man Vertraute, Freunde hat, die am gleichen Ort wohnen, die helfen, wo man wahrscheinlich auch verstanden wird von der Sprache her, wo man sich wohlfühlt, wo man sich sicher fühlt."
Deutsche Heimattraditionen
Dieser Ort der Kindheit und der familiären Geborgenheit kann zum Sehnsuchtsort werden. Und weil Sehnsucht ebenso wie Heimat als deutsches Wort gilt, für das es kaum eine Übersetzung in andere Sprachen gibt, meinen manche Sozialwissenschaftler, die Sehnsucht nach Heimat sei ein typisches deutsches Phänomen. Franziska Bomski teilt diese Ansicht nicht. Aber sie betont, dass der Heimatbegriff in Deutschland historisch ganz besonders belastet sei:
"Der Heimat-Begriff hat verschiedene Konjunkturen und diese Konjunkturen reagieren in der Regel tatsächlich auf Krisenphänomen. Sie haben das im langen 19. Jahrhundert, wo das als Reaktion auf die Industriemoderne, auch auf Zentralisierungsbemühungen des Kaiserreichs reagiert; Sie haben das im Nationalsozialismus als staatsregulierende Indoktrinierung und Sie haben das Phänomen auch in der DDR, die sehr stark sich auf Heimat bezogen hat, um den Leuten schmackhaft zu machen, dass sie im eigenen Land bleiben."
Schwierige Heimat Dresden
Franziska Bomski, die in Radebeul geboren ist und lange für die "Klassik Stiftung" in Weimar gearbeitet hat, wundert es nicht, dass sich viele Ostdeutsche nach den Kränkungen des Vereinigungsprozesses einem nostalgischen Heimatgefühl hingegeben haben. Besonders in Dresden, wo auch die Kriegstraumata noch sehr präsent sind. Wo selbst Nachgeborene noch den Canaletto-Blick aufsetzen, also vor ihrem inneren Auge die Residenzstadt Dresden wieder auferstehen lassen, so wie sie Canaletto 1748 gemalt hat, die aber in den Bombennächten von 1945 weitgehend verbrannt ist, fügt Justus Ulbricht hinzu:
"Dieser Blick aufs alte Dresden, das so gar nicht mehr da ist, trübt den Blick mancher älterer Dresdener. Die sehen dann das alte Dresden, obwohl das längst nicht mehr existiert, da ist - und sehen manchmal nicht, was Neues gekommen ist. Und manches von dem Neuen ist durchaus ansehnlich im wahrsten Sinne des Wortes - ich meine jetzt architektur- und städtebaulich, nicht alles ist nur Schrott. Aber diese alten Bilder sind ganz, ganz wirkmächtig im kulturellen Gedächtnis."
Dieses kulturelle Gedächtnis prägt den Blick auf die Gegenwart. "Es gibt ja diesen berühmten Satz: So geht sächsisch!", sagt Justus Ulbricht. Und die Frage ist, ja wie geht denn dann sächsisch bitteschön im Jahre 2020? Sachsen ist ein Einwanderungsland und das war es schon immer, denn es war ein Grenzland. Nimmt man das wirklich an?"
Döner Kebab – Geschmack der Heimat
Die meisten Leute nehmen das an, wenn nicht explizit, so doch in ihrer Alltagspraxis, sagt der Berliner Publizist Eberhard Seidel. Er ist Geschäftsführer der Aktion "Schule ohne Rassismus" und beschäftigt sich seit Jahren mit der Erfolgsgeschichte des Döner Kebab. Die begann im Westen und setzte sich nach 1989 im Osten fort. Die Dönerproduzenten, meint Eberhard Seidel, lassen ihre Kunden genussvoll erfahren, dass ihre deutsche Heimat sich längst zum Einwanderungsland entwickelt hat:
"Denn die waren die ersten, die gleich nach dem Fall der Mauer sich in den wilden Osten vorgewagt haben und dort Dönerstände aufgebaut haben. Das war oft für die Menschen in Ostdeutschland der erste Kontakt mit Türken, wie man sie genannt hat. Das waren natürlich sehr oft schon Deutsche türkischer Herkunft. Aber das hat deutlich gemacht, dass sich an der Heimat etwas verändert."
Und viele Ostdeutsche fanden das gut. Allen voran Angela Merkel, von der Eberhard Seidel berichtet, sie habe gleich beim ersten Westbesuch einen Döner gegessen.
"Aber es gab gleichzeitig eine völkische Abwehrbewegung gegen Dönerstände im Osten Deutschlands. Es gibt eine lange Spur von Gewalt, es gibt über 1000 Angriffe auf Einrichtungen der Dönerindustrie, dass Scheiben eingeworfen wurden, Brandanschläge, dass Dönerverkäufer zusammengeschlagen wurden bis hin zu dem Anschlag in Halle auf den Kiezdöner. Das heißt, es gab den Versuch von völkischen Straßenbanden, so etwas wie ethnische Reinheit der deutschen Küche herzustellen, die sich gegen die Veränderung ihrer Heimat durch den Döner Kebab massiv zur Wehr gesetzt haben, aber wie die Geschichte gezeigt hat, war die Aufnahmebereitschaft größer als Abwehrkräfte."
Der Döner war schon zwei Jahre nach der friedlichen Revolution selbst für jene Rechtsradikalen alltäglicher Bestandteil der Heimat geworden, die 1991 in Hoyerswerda eine Unterkunft von Vertragsarbeitern und Flüchtlingen stürmen wollten. Eberhard Seidel kennt Bilder, auf denen die Randalierer den rechten Arm zum Hitler-Gruß recken und in der linken Hand einen angebissenen Döner halten.
"Döner Kebab ist natürlich ein Essen, ein Imbiss für finanziell nicht so privilegierte Schichten, weil es gegenüber einem Restaurantbesuch wesentlich billiger ist und doch eine ganze Menge auch bietet. Das Preis-Leistungsverhältnis ist unglaublich gut und deshalb ist es auch in Deutschland Teil einer Armut-Ökonomie gewesen. Der Döner Kebab wird von Menschen gegessen, die nicht so viel Geld haben, und er wird von Menschen produziert, die in Deutschland aus dem industriellen Produktionsprozess rausgefallen sind."
Heimat-Ritual "Tatort"
Von Menschen also, die selbst oder deren Eltern einst als Gastarbeiter kamen, die ihre neue Heimat in Deutschland aber nicht aufgeben wollten, als ihre Fließband-Jobs wegrationalisiert wurden. Und die sich dann als Döner-Griller selbstständig machten. Inzwischen haben sie es bis ins Hotel Adlon gebracht. Eberhard Seidel hat dort mal einen Döner gegessen, für 19 Euro, zubereitet mit feinstem Kalbsfleisch und Trüffel. Trotzdem gehört der Döner immer noch nicht so selbstverständlich auf den heimatlichen Speisezettel wie andere eingewanderte Gerichte wie die Pizza oder der Hamburger.
"Natürlich ist die Dönerbude nicht ein vergleichbarer Treffpunkt wie die McDonald’s-Filiale, die in vielen Städten ein Treffpunkt von jungen Menschen sind. Es ist auch auffallend, dass die Dönerstände ja in der Regel außen am Fenster stehen, also auf die Straße hin. Man kann also ohne einzutreten in die Gaststube oder den Imbiss sich den Döner mitnehmen. Das Büdchen aus dem Ruhrgebiet hat noch mal einen anderen Charakter des Soziallebens als die Dönerbude."
Und so hat es der Döner auch noch nicht geschafft, Bestandteil eines ganz besonderen deutschen Heimatrituals zu werden, des "Tatorts" am Sonntagsabend. Wenn da die Kommissare über ihren Fall und die Welt räsonieren, stehen sie schon mal an der Currywurstbude, aber nie am Dönerimbiss. Eberhard Seidel meint, das liege daran, dass die Drehbuchschreiber Veränderungen in ihrer Heimat nur sehr langsam wahrnähmen.
"Ich beobachte das ja, wenn ich bei Mustafas Gemüsedöner am Mehringdamm, das ist ja der am meisten besuchte Dönerladen in ganz Deutschland, wenn ich sehe, wie viele Polizisten auch in Uniform an dem Dönerstand anstehen, dann habe ich das Gefühl, dass die 'Tatorte' in Deutschland nicht immer die Realität widerspiegeln."
Mallorca – ein deutsche Heimat?
Zur Realität gehört für Eberhard Seidel, dass viele Deutsche den Döner brauchen, um sich wohl zu fühlen.
"Wenn Deutsche Urlaub machen auf Mallorca oder nach Antalya in der Türkei an der Südküste, dann vermissen sie sehr schnell den Döner Kebab, wie er in Deutschland existiert. Den gibt es in dieser Form in der Türkei selten. Den haben inzwischen deutsche Dönerproduzenten auch in die Türkei exportiert beziehungsweise nach Spanien oder in andere touristische Hotspots, um den Deutschen ein Gefühl der Heimat geben."
Wenn Deutsche Mallorca für einen Teil der Heimat halten, bloß weil sie regelmäßig zum Ballermann fliegen, findet Justus Ulbricht das einfach nur peinlich.
"Manchmal ist Heimat peinlich, weil sie entweder borniert ist oder aggressiv."
Borniert und aggressiv wird es, wenn sich eine Gruppe wie Pegida als Bewahrer der Heimat aufspielt und gegen Menschen anderer Religion oder Herkunft hetzt.
"Mich macht Pegida auch ärgerlich, es ist nicht nur peinlich, was die und andere sagen, aber es gibt ja auch AfD-Leute, die so etwas sagen. Also, ein Heimatgefühl kann immer auch gestört werden durch andere, neudeutsch formuliert, ‚Vibrations‘. Das war aber immer so beim Heimatgefühl. Die Leute, die sich intelligent über Heimat geäußert haben, haben immer auch gemerkt, dass nicht alles intakt ist in dieser Heimat."
Coole Heimat Cyberspace?
Justus Ulbricht hat seine Wahlheimat Dresden mit allen Schwächen und Peinlichkeiten in sein Herz geschlossen. Er will sie nicht mehr aufgeben. Andere, vor allem politisch links Orientierte, haben sich angesichts aggressiver Heimatschützer ganz von dem Begriff Heimat gelöst und propagieren stattdessen Weltläufigkeit oder Kosmopolitismus. Seit man übers Internet jederzeit global kommunizieren kann, schien das die Zukunft, und Heimat ein verstaubtes Konzept zu sein. Doch jetzt, wo sich alle wegen Corona aus den heimatlichen Gefilden zurückziehen müssen und sich das Leben zunehmend entweder in die Privatsphäre oder in den Cyberspace verlagert, kommen Susanne Scharnowski Zweifel, ob das so richtig ist:
"Darüber wird viel diskutiert, man könnte sich diesen virtuellen Raum als eine Art Heimat gewissermaßen aneignen, als sei das ein Ersatz. Dabei wird unterstellt, der Verlust wiege weniger schwer als das, was man gewinnt. Diese Ersatzheimat digitaler Raum kann ich akzeptieren, wenn ich das als pragmatische Lösung für ein derzeit eben nicht anders zu regelndes Problem betrachte. Wenn es aber zu einer Art Ideologie wird, aus der abgeleitet wird, dies ist das Anzustrebende, das ist eigentlich das Bessere, vielleicht auch Modernere, dann würde ich meinen, wir brauchen darüber mehr Diskussionen. Da gibt es so eine gewisse Geringschätzung für das Erleben von Orten und tatsächlich geteilten Räumen auch."
Die Heimat zurückholen – für alle
Susanne Scharnowski vermisst die Begegnungen mit Bekannten wie mit Fremden an den vertrauten Orten ihres Berliner Umfelds.
"Wie werden die Städte aussehen, wenn das mal vorüber ist? Ich frage mich immer, welche Geschäfte werden überstehen, welche Cafés wird es noch geben? Welche Dinge, die ich immer als selbstverständlich genommen habe, werden vielleicht im März verschwunden sein?"
Wenn die Pandemie vorbei ist, werden sich die Anwohner ihre Heimat zurückholen können. Sie werden sie neu gestalten können und bis zu einem gewissen Grad vielleicht sogar neu aufbauen müssen. Wenn es gut läuft, werden diesen Prozess nicht nur die gestalten, die sich schon lange lautstark Heimatschützer aufspielen wie Pegida. Sondern auch die, die hier eine neue Heimat suchen, weil sie hier Arbeit finden oder Zuflucht vor Kriegen und Diktaturen. Dann könnte vielleicht für alle gelten, was Johann Gottfried Herder einmal gesagt hat: "Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss."