Benedikt Schulz: Die deutsche Sprache kennt viele ambivalente Wörter, ein besonders deutsches und besonders ambivalentes unter ihnen ist Heimat. Dass in den vergangenen zwei Jahren vermehrt Flüchtlinge ihre Heimat verlassen haben und den Weg nach Deutschland gesucht haben, hat die Auseinandersetzung mit Heimat wieder mal aufleben lassen, auch hier: äußerst ambivalent. Der Filmemacher Edgar Reitz hat seine Heimat, den Hunsrück, als junger Mann verlassen – um sein filmisches Schaffen in beinahe schon ausuferndem Maße seiner Heimat zu widmen, mit der berühmten und preisgekrönten Heimat-Trilogie, mit mehr als 50 Stunden Film. Eine Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln, aber auch mit dem Begriff, dem Konzept Heimat. Edgar Reitz habe ich gefragt, hat er seine Heimat gewissermaßen zum Beruf gemacht?
Edgar Reitz: Der Begriff Heimat war ja im Anfang gar nicht in der Mitte meines Interesses. Das war zunächst einmal der Titel, der Titel für diese erste Staffel meiner Erzählungen, und ich hatte auch einen ganz anderen Arbeitstitel. Und als wir dann Heimat ins Gespräch brachten, hat das heftige Diskussionen ausgelöst, auch damals beim WDR, der mein ko-produzierender Sender war, weil das Wort immer noch belastet war natürlich aus der gesamten Vorgeschichte der Deutschen, die Sie auch zitiert haben.
Und es war eigentlich der Titel, der mich dann zu einer Auseinandersetzung gezwungen hat, nicht die Geschichte, die ich erzählt habe. Die hatte eigentlich im Kern zwar damit zu tun, aber es ging mir vor allem um das Erzählen und nicht um die Begriffsbildung.
Schulz: Jetzt haben Sie gesagt, das hat für Diskussionen gesorgt. Jetzt haben wir das Jahr 2017. Was, glauben Sie, würde ein solcher Film, wenn es ihn denn vorher noch nicht gegeben hätte, heute für Diskussionen auslösen?
Reitz: Heute ist das Gespräch sehr viel offener über das Thema, vor allem auch deswegen, weil es das schon jetzt eine ganze Weile als absolut aktuelles Thema gibt. Ich bin ja sozusagen der Heimatexperte, ich kann das beurteilen. Ich werde so gut wie jeden Monat einmal irgendwo hin eingeladen zu irgendwelchen Symposien oder Veranstaltungen von Hochschulen oder Industrieinstituten, Kirchen, und man beschäftigt sich überall mit Heimat. So ist das Thema erst im Nachhinein, nachdem ich diese Filmarbeit gemacht habe, für mich ein großes Fragezeichen geworden, auf das ich immer wieder versuche oder versuchen muss, Antworten zu finden.
Schulz: Mit Erfolg oder immer noch ambivalent?
Reitz: Es ist immer noch ambivalent. Das hat auch damit zu tun: Wenn man ehrlich antworten will auf so etwas, dann bleibt es einem nicht erspart, in seinen eigenen Erinnerungen nachzuschauen, zu sehen, wo hat man diese Empfindungen her, seit wann spielt es eine Rolle.
Bei mir war das zum Beispiel ein Thema, als ich nicht mehr in der Gegend lebte, in der ich geboren und aufgewachsen war. Im Erwachsenenleben, im Rückblick auf die Kindheit entstand das Thema für mich und da war es schon etwas Verlorenes, da war es schon innerlich mit dem Schmerz der Trennung verbunden. Und die Frage, ist die Trennung, ist der Schmerz produktiv, oder ist er etwas, was einen behindert, was einem als eine unerfüllte oder unerfüllbare Sehnsucht begleitet durch das ganze Leben, das ist eine offene Frage geblieben.
Reitz: Auseinandersetzung mit Heimat ist "keine harmlose Beschäftigung"
Schulz: Jetzt haben Sie immer mal wieder angedeutet (und jetzt gerade auch), Heimat ist weniger geografisch, sondern, wenn man so möchte, eher chronologisch zu verstehen. Orte, die Bleiben; Zeit vergeht. Heißt das denn, dass Heimat etwas ist, was eigentlich nur noch in der Erinnerung besteht und nicht in der Gegenwart eines Individuums?
Reitz: Man könnte mal umgekehrt an das Thema herangehen, indem man sich fragt, was würde denn passieren, wenn jedem das gegeben wäre, was er Heimat nennt.
Dann würde man wahrscheinlich erst einmal gar kein Problem daraus machen. Dann wäre das, was man Heimat nennt, natürlich erfüllt von unendlich vielen Konflikten, so wie wir wissen, dass auch die Familie, die Kindheit, alle diese idyllischen Sphären, die sind natürlich keine heile Welt. Sie waren nie eine heile Welt. Und deswegen ist natürlich jede Beschäftigung damit auch zwangsläufig eine entweder man drückt sich vor den Konflikten, die darin begraben liegen, oder man konfrontiert sich ihnen. Es ist auf jeden Fall keine harmlose Beschäftigung.
Schulz: Aber man neigt bestimmt auch dazu, die Heimat und damit die Erinnerung an die eigene Kindheit – das Beispiel haben Sie genannt – zu verklären, oder?
Reitz: Ja. Das was wir nicht haben, verklären wir. Das was wir suchen und nicht bekommen, verklären wir. Das ist auch was Schönes natürlich, weil von dorther kommen Maßstäbe, von dorther kommt das Gefühl, an dem wir alle anderen Gefühle dann messen. Aber es ist natürlich nicht erreichbar, es ist keine Realität, die lebbar wäre.
"Den Beteiligten ist immer klar, dass sie von etwas sprechen, was sie nicht haben"
Schulz: Ist es denn ein Sehnsuchtsbegriff auch?
Reitz: Ja, ganz bestimmt. Und selbst da, wo man so Heimattümelei betrieben hat, in so einer gewissen folkloristischen Weise, in gewissen Regionen oder regionalen Kulten und so weiter, ist es meines Erachtens immer auch ein Sehnsuchtsbegriff, weil den Beteiligten ist immer klar, dass sie von etwas sprechen, was sie nicht haben.
Schulz: Jetzt setzt sich die menschliche Identität ja aus vielen Puzzle-Teilen zusammen. Die will ich gar nicht aufzählen. Welchen Platz, welche Bedeutung hat denn dieses sich auf einen Ort beziehen oder meinetwegen auf eine Zeit beziehen in diesem Puzzle menschlicher Identität?
Reitz: Das ist eine große, schwierige Frage. Ich glaube, in erster Linie geht es um Zugehörigkeit. Das ist ein ganz tiefer menschlicher Trieb, das Bedürfnis der Zugehörigkeit zu anderen, zu einer Gruppe, zu einem Clan, zu einer Familie, unter Umständen sogar zu einer Nation, und dieses Verlangen der Zugehörigkeit sucht unbewusst das Spiegelbild von sich selbst in den anderen. Deswegen ist auch eine gewisse Irritation gegenüber allem Fremden zunächst einmal ganz normal und natürlich. Man würde sich da was vorlügen, wenn man sagt, eine gewisse Xenophobie ist nicht erworben, sondern sie ist in dem Instinkt der Zugehörigkeit als Gegenstück enthalten.
Das heißt: Alles was wir an Mitmenschlichkeit kennen, das müssen wir lernen. Alles was wir an Kooperationsformen, an Formen des gegenseitigen Respektes, der Toleranz und so weiter kennen, müssen wir erlernen, müssen wir erwerben. Von der Natur aus suchen wir Zugehörigkeit und Abkapselung. Das liegt in der Evolution begründet, weil unsere Vorfahren wahrscheinlich nur in bestimmten Formen enger Verbindungsgruppierungen überlebensfähig waren, und da ist etwas übrig geblieben davon. Ich bin da kein Fachmann, aber ich erkläre mir vieles daraus.
"Kindheit ist auch für die meisten Menschen ein verlorenes Paradies"
Schulz: Aber ist denn dann Sehnsucht nach Heimat etwas, was der Mensch in seiner Zivilisation überwinden sollte oder kann?
Reitz: Es ist in etwa das Gleiche oder etwas Ähnliches wie mit der Kindheit. Die Kindheit ist auch für die meisten Menschen ein verlorenes Paradies und bestimmte Sehnsüchte zum Beispiel auch nach Formen der Geborgenheit, die man nur als Kind erleben kann, weil man in dieser Form behütet später auch gar nicht kommt. Es würde zu keiner späteren Entwicklungsstufe mehr wirklich passen. Aber diese traumhafte Geborgenheit, die ist in der Erinnerung irgendwo noch vorhanden, und das wird auch bei Heimat suggeriert oder im Unbewussten oder im Unterbewussten aufgerufen.
Schulz: Jetzt habe ich anfangs auch Menschen erwähnt, die nach Deutschland kommen, weil sie hierhin fliehen, die ihre Heimat verlassen mussten aus Angst um das eigene Leben. Kann denn ein Mensch mehrere Heimaten haben und dann in Deutschland eine neue Heimat erwerben, nenne ich das jetzt mal?
Reitz: Ja damit habe ich mich natürlich beschäftigt. Die zweite große Staffel, die auch aus meiner Sicht die künstlerisch umfassendere und reifere ist, heißt "Die zweite Heimat". Das ist das, was wir im Erwachsenenleben sozusagen durch Wahlverwandtschaften, durch eigene Entscheidungen, durch unser persönliches Wachstum auch in die Gesellschaft hinein neu begründen, für uns als Lebensraum schaffen.
Aber man muss dazu sagen: Alles was wir selbst erwerben oder was wir selbst entscheiden können, hat einen anderen Stellenwert als das, was wir nicht entscheiden können.
Wir können nicht entscheiden, wer unsere Eltern sind, wir können nicht entscheiden, wer unsere Geschwister sind. Wir können nicht entscheiden, wo wir geboren werden, wo wir aufwachsen, auch nicht, in welcher Zeit. Das ist etwas, womit wir uns auf irgendeine Weise auseinandersetzen müssen: Entweder indem man sich dazu bekennt und identifiziert, oder indem man mit guten Gründen davon sich trennt, Abschied nimmt. Aber das hat natürlich gerade dieses nicht Freiwillige, dieses Schicksalhafte, was es ja in der menschlichen Existenz auch gibt, diese schicksalhafte Dimension hat die zweite Heimat nicht mehr, diese frei entschiedene, aus Freiheit und Freundschaft und Kooperation geschlossene Welt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.