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Heimat und Migration
"Es hat alles einen bekannten Klang"

Heimat ist, was einem bekannt und vertraut vorkomme, sagte der Filmemacher Edgar Reitz im DLF, selbst wenn es böse und bedrückend sei. Darum ließen Migranten ihre Heimat in der Fremde im Kopf weiterleben. Solange, bis zum neuen Lebensverhältnis ein Vertrauenszustand entstehe. Das könne manchmal Generationen dauern, so der Filmemacher.

Edgar Reitz im Gespräch mit Karin Fischer |
    Der deutsche Regisseur Edgar Reitz am 9. Juni 2016 im Studio 5 des Deutschlandradio Kultur
    Heimat - das seien Verhältnissen, die man emotional kennt und durchdringt, sagt der Filmregisseur der "Heimat"-Trilogie, Edgar Reitz. (Deutschlandradio Kultur / Leila Knüppel)
    Karin Fischer: Der "Heimat"-Begriff erlebt gerade Konjunkturen, von denen man nicht genau weiß, ob sie einem lieb sein können oder nicht. Anlass für uns, diesem Begriff hinterher zu spüren. In Zeiten, in denen jenes Europa, in dem viele Deutsche eine Art Wahlheimat gefunden hatten, sich aufzulösen droht, auch eben das lokal gedachte "Europa der Regionen"; in Zeiten, in denen der Begriff durch die AfD okkupiert wird; in Zeiten, in denen viele Menschen Angst haben, dass sich Deutschland zu einem Land entwickelt, dass dann nicht mehr das ihre ist.
    In unserer Sommerreihe dazu im Gespräch heute jener Mann, der seiner "Heimat" – nämlich der im Hunsrück - ein grandioses Denkmal gesetzt hat, mit seinem gleichnamigen filmischen Epos, einer monumentalen, vielstündigen Saga, die das Leben im fiktiven Dorf "Schabbach" erzählt. Zuletzt erschien "die andere Heimat" in Schwarz-weiß, und in jenem Film spielt auch der Traum vom besseren Leben anderswo, also das Auswandern eine Rolle.
    Zunächst aber, Edgar Reitz, eine Frage, die Ihnen vermutlich schon zu häufig gestellte worden ist: Was ist für Sie "Heimat"?
    Edgar Reitz: Heimat ist natürlich für jeden Menschen, glaube ich, ein ganz bestimmtes Empfinden. Die intellektuelle Diskussion oder auch die politische Diskussion führt immer wieder in die Irre, was dieses Wort angeht oder diesen Begriff angeht, denn es ist so, dass eigentlich jeder Mensch in sich ein Empfinden dafür hat. Aber sobald es artikuliert wird, neigt es dazu, sich abzugrenzen, sozusagen um diese Empfindung herum einen Wall zu bauen und damit sich zu isolieren und abzukapseln, und genau das ist, was man ursprünglich ja gar nicht wollte, was gar nicht damit verbunden war, sondern es war eigentlich ursprünglich die Vorstellung der Geborgenheit in Verhältnissen, die man emotional kennt und durchdringt.
    Dieser Naturzustand verschwindet natürlich. Der verschwindet in jedem Menschenleben, dadurch, dass wir uns ausbreiten, dass wir uns entwickeln, dass wir die Welt erobern und dass wir die Orte, an denen wir geboren und aufgewachsen sind, in der Regel verlassen. Also ist der Begriff Heimat auch ein Sehnsuchtsbegriff, ein Begriff des Verlangens nach einem Zustand, von dem wir nicht sicher sein können, ob wir ihn je real erlebt haben.
    Fischer: Sie selbst sind ja weggegangen, Sie sind nach München gegangen, haben dort einen anderen Sehnsuchtsort gewonnen oder gefunden. Sagen Sie aber noch mal, was in Ihnen von dieser Heimat, dem Hunsrück, zurückgeblieben ist an Gefühlswerten?
    "Es hat alles einen bekannten Klang"
    Reitz: Es ist in erster Linie Landschaft, es ist Erinnerung, es sind bestimmte menschliche Empfindungen der Nähe, die ja nicht immer nur angenehm ist, eine Nähe, die auch Kontrolle ausübt, die auch bedrohlich sein kann, die aber auch Geborgenheit vermittelt, also dieser ganze Komplex von Merkwürdigkeiten der Beziehungen. Aber eins haben sie alle gemeinsam: Sie sind nicht fremd. Es hat alles einen bekannten Klang, und das ist eigentlich, was ich immer als Heimat empfinde, sobald das, was man sieht und erlebt, einem bekannt und vertraut vorkommt, selbst wenn es böse, schlimm und bedrückend ist.
    Fischer: Wenn Sie sagen, die politische Diskussion führt in die Irre oder umstellt diesen Begriff sozusagen falsch, dann möchte ich Sie aber trotzdem fragen: Diese groß angelegte Heimaterzählung ist ja tatsächlich in einer Zeit entstanden, in der ein kritischer Kopf diesen Begriff überhaupt noch nicht verwendet hätte. Man kann jetzt sagen: Ja, aber es passt ja zum Thema. Trotzdem: Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
    Der Begriff Heimat war in Deutschland lange Zeit tabu
    Reitz: Als ich anfing mit der Geschichte, war der Begriff im Grunde noch tabu, kann man sagen. Natürlich war er einmal belastet durch die Inanspruchnahme, ideologische Inanspruchnahme der Nazis, die ja mit dem Wort "Heimat" einen regelrechten ideologischen Zirkus da aufgeführt haben und ihre Wertvorstellungen einer solchen Mystik da unterworfen hatten. Dann gab es auf der anderen Seite einen pseudofolkloristischen, touristisch gefärbten Zusammenhang mit dem Begriff Heimat, und mit all dem wollte ich nichts zu tun haben.
    Fischer: Das war irgendwie tümelnd. Wir kannten tatsächlich den Begriff nur auch über die Begriffe wie "Heimatvertriebene" oder "Heimatliteratur" und so weiter. Das hatte ein extrem negatives Image.
    Reitz: Ja, und davon wollte ich mich eigentlich fernhalten. Nun hatte ich aber meine Geschichten zu erzählen. Diese Geschichten sind ja nicht von Ideologien geprägt, sondern sie stammen aus selbst gemachten Erfahrungen, aus Erinnerungen, aus Sehnsüchten, aus einem Gefühl der Nähe zu bestimmten Menschen, Charakteren, Verhaltensweisen und so weiter. Diese Geschichten, die durch die ganze Zeitgeschichte hindurchführen, wollte ich erzählen und hatte diesen Begriff "Heimat" dafür gewählt und traute mich eigentlich nicht bis in das Jahr 1984, als die erste Serie fertig war, und bei den Prämieren in Venedig und in Paris (Frankreich), wo es vor allem eine Diskussion auslöste, die mir absolut recht war, die nämlich in das Zentrum dieses Begriffes führten. Dann habe ich mich überhaupt erst getraut, diesen Begriff "Heimat" für meine Geschichten immer wieder zu verwenden.
    Fischer: Und wenn Sie jetzt zurückblicken, Herr Reitz, wie hat sich der Begriff selber in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
    "Was wir körperlich wahrnehmen, was wir mit unseren Sinnen erfahren."
    Reitz: Nun ist ja eins hinzugekommen, was wir die Globalisierung nennen, dass wir eigentlich mehr und mehr, zumindest was unseren Informationsstand angeht, wirklich auf dem Planeten Erde insgesamt leben. Und jetzt stellt sich natürlich die Frage: Gibt es ein Heimatgefühl gegenüber dem Planeten, auf dem wir leben? - Ich könnte mir vorstellen, dass sich das sogar eines Tages entwickelt.
    Aber vorerst sind unsere Sinneswahrnehmungen immer noch an die Anwesenheit des Körpers in einem bestimmten Bereich gebunden, und das, was wir körperlich wahrnehmen, was wir mit unseren Sinnen erfahren, ist in erster Linie mit dem Begriff verbunden. Und das ändert sich auch nicht in Zeiten des Internets und Zeiten der universalen Kommunikation.
    Fischer: Sie haben die Globalisierung erwähnt. Auch Deutschland hat sich natürlich gewandelt, zumal seit der Wiedervereinigung, ist weltoffener geworden, vielleicht kann man das so sagen, ein stabiles, friedliches, zuversichtliches Land, dachte man bis vor Kurzem. Ändert sich das gerade, jetzt, wo so viele Menschen hier eine neue Heimat suchen? Was sollte man jenen Menschen sagen, die den Heimatbegriff derzeit für sich reklamieren, damit aber ein abgeschottetes Deutschland meinen?
    "Heimat ist ja nicht ortsgebunden, sondern das hat man im Kopf"
    Reitz: Sobald man um das, was wir Heimat nennen, egal was der jeweilige Mensch darunter versteht, sobald wir um das eine Grenze ziehen, sobald wir das abgrenzen gegen anderes, zerstört es sich selbst, wird es eine Anordnung, die Misstrauen schafft und untereinander Konkurrenzverhältnisse und Neid und Missgunstverhältnisse erzeugt, die das Leben unmöglich machen. Heimat ist erst in einer offenen Welt ein zulässiges und auch angenehmes Gefühl, denn es muss ja immer das Gefühl damit verbunden sein, dass Heimat nicht eine Gefangenschaft oder etwas ist, wo ich gefesselt und festgebunden bin, weil alle Empfindungen von Freiheit müssen mit dabei sein, damit man Heimat in aller Ehrlichkeit genießen kann.
    Fischer: Das können tatsächlich viele Menschen auf diesem Globus so nicht mehr. Sie haben für die andere Heimat unendlich viel recherchiert, um sehr genau mit den Bildern umzugehen, in denen dieser Teil der Reihe spielt. Was haben Sie über Auswanderung zu jener Zeit, über Auswanderungswillige gelernt?
    Reitz: Heimat ist ja nicht ortsgebunden, sondern das hat man im Kopf. Es gibt ein Bild oder einen Bilderkomplex, der in der Fantasie der Menschen sich einnistet und den sie als Heimat empfinden, und das können sie natürlich auch mit sich tragen. Das tragen sie sozusagen in die Fremde, und wir sehen das an all den Menschen, die auch zu uns kommen, dass sie dasselbe tun, was zum Beispiel meine Hunsrücker getan haben, wenn sie nach Brasilien kommen, also bei den Auswanderern aus Europa, die in Amerika, in Südamerika gesiedelt haben.
    "Es gab große Auswanderungswellen aus Deutschland"
    Fischer: Das war so um die 1820.
    Reitz: 1850er-, 30er-, 40er-, 50er-Jahre gab es große Auswanderungswellen. Das waren Millionen Menschen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern, die noch zum Teil bis heute einen Lebensstil praktizieren, der an die Zeiten erinnert, wo die weggegangen sind zuhause. Da leben so Little Germany Formen, auch was das kirchliche Leben angeht, was Vereinsleben angeht, was Familienverhältnisse angeht. Das ist dieses Bedürfnis, die Heimat im Kopf in der Fremde weiterleben zu lassen, und damit müssen wir rechnen, dass die Migranten, die zu uns kommen, auch so ein Verlangen haben, ihre verlassene Heimat mit sich herumzutragen und in neuen Kontakten untereinander sich dessen zu vergewissern - so lange, bis zu dem neuen Lebensverhältnis ein Vertrauenszustand entsteht. Das kann manchmal Generationen dauern.
    Fischer: Es gibt andererseits, Edgar Reitz, die schöne Idee, man solle Einwanderern oder Fremden, die hier heimisch werden wollen, nur Ihre Filmreihe als DVD-Box in die Hand drücken, denn nirgendwo stecke auch so viel erklärtes Deutschland drin wie in diesen Filmen.
    Reitz: Ja, das ist gesagt worden. Ich habe kein Beispiel dafür, wo es funktioniert hätte. Ich würde lieber das Umgekehrte organisieren, dass man mal in Deutschland Filme aus der Heimat der Menschen zeigt, die zu uns kommen, und dass man mal erlebt, aus welchen Lebensgewohnheiten, aus welcher Kultur und aber auch, welchem Horror diese Leute entflohen sind.
    Fischer: Das ist vielleicht ein ganz gutes Stichwort für meine letzte Frage, Herr Reitz. Den Plan für die andere Heimat haben Sie gefasst, als 9.11. passiert war, also sozusagen die Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts, die in ihren Folgen ja auch das globale Macht- und Ordnungsgefüge dauerhaft verändert hat. Glauben Sie, wir müssen uns noch auf viele Verluste von unterschiedlichen Heimaten, Heimatgefühlen einstellen?
    "Wir alle stammen ab von Migranten"
    Reitz: Einmal muss man eins wirklich sagen. Migrationen, auch im großen Stil, hat es gegeben, solange es überhaupt die Menschheit gibt. Das ist nicht wirklich ein neues Phänomen und wir alle stammen ab von Migranten. Wir sind nicht einfach hier vom Himmel gefallen und irgendwo in Europa oder sonst wo zuhause. Jetzt geschehen natürlich Katastrophen der verschiedensten Art, die neu sind und die auch wahrscheinlich noch viele Jahrzehnte zu solchen großen Migrationsströmen und Bewegungen führen werden, und ich habe manchmal gedacht, warum benutzen wir nicht zum Beispiel diese Anschläge, die in der letzten Zeit sich häufen bei uns, um daran mal zu ermessen, aus welchen Verhältnissen diese Menschen kommen. Es könnte eigentlich eher dazu führen, dass wir sie ein bisschen besser verstehen. Ich hoffe, dass es bei uns nie dazu kommt, dass diese Dinge solche Ausmaße annehmen, dass wir weglaufen müssen, oder ich hoffe, dass unsere Demokratien so stabil sind, dass sie sich durch so was nicht in ihren Grundfesten erschüttern lassen. Aber stellen wir uns vor, das geschähe; dann wären wir in derselben Lage.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.