"Dieselben Menschen, die feuchte Augen bekommen, wenn ein alter Indio zum tausendsten Male 'El Cóndor Pasa' in seine Panflöte bläst, kriegen Pickel, wenn man sie auf die Melodien ihrer Heimat anspricht."
So der in Köln lebende neuseeländische Musiker Hayden Chisholm. Er hat sich 2011 mit dem Dokumentartfilm "Sound of Heimat" auf Spurensuche nach musikalischem Brauchtum in Deutschland gemacht. In der Tat gibt es hierzulande ein sehr ambivalentes Verhältnis zu heimatlichen Klängen. Denn Volksmusik kann vieles sein - zum Beispiel Schunkelmusik wie sie aus dem "Musikantenstadl" und ähnlichen TV-Sendungen regelmäßig in Millionen deutsche Wohnzimmer schallt.
Für andere ist es das alte Volkslied, das von fleißig tätigen Menschen und alltäglichem Leid oder Freud erzählt, wo man das einfache Leben spürt und sich an vergangene Zeiten erinnert. Für junge Musiker wie die Bewegung "Antistadl" ist Volksmusik dagegen Rock'n Roll.
Ursprünglich jedenfalls gehört Volksmusik zum Alltagsleben, ist Unterhaltung für alle, gemeinsam ausgeübt, überliefert von Generation zu Generation. Deswegen ist sie meistens durch Dialekt und Textinhalt "regionaltypisch". Die Lieder besingen Bauern, Arbeiter, Seeleute oder Handwerker. Oder sie haben bestimmte Funktionen: Kirchenlieder, Wiegenlieder, Abzählreime für Kinder, vor allem aber als Tanzmusik. Dr. Armin Griebel, Volksmusikforscher aus Franken:
"Volksmusik, das ist erst mal ein empirischer Befund, das kann zum Beispiel eine Praxis sein, in der instrumentalen Volksmusik, also in der Tanzmusik, versteht man darunter beispielsweise das Stehgreifspiel, also dass ohne Noten gespielt wird, nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten, nicht das, was auf die Bühne gelangt, sondern wirklich da, wo diese Musik noch passiert im Lebensvollzug."
Die romantischen Volkslieder sollten nichts Frivoles haben
Als Gattung ist die Volksmusik paradoxerweise eine Kunstform. Die Romantiker haben den Wortteil "Volk" für alle Gegenbewegungen zur Moderne benutzt, als sehnsuchtsvollen Rückblick auf die "gute alte Zeit". Im 18. Jahrhundert hat Johann Gottfried Herder den Begriff "Volkslied" geprägt und sehr deutlich gemacht, dass es ihm dabei keinesfalls um die niederen Stände ging:
"Volk heißt nicht der Pöbel auf den Gassen. Der singt und dichtet niemals, sondern schreit und verstümmelt."
Es wurden Gedichte, Lieder, Märchen gesammelt, Zeugnisse der angeblich unverfälschten Äußerung der Volksseele – in Deutschland oft genug melancholisch.
"Da spielt das deutsche Volkslied als Ausfluss des Deutschen eine große Rolle, aber es war ein Begriff, den Herder einfach gesetzt hat letztlich als ein Mittel, wie die Poesie auszusehen hat."
Die romantischen Volkslieder sollten nichts Frivoles haben, keine "Trink- und Buhllieder", auch nichts Städtisches, weil es eben um die heile, vorindustrielle Welt, um Dorfidylle, unberührte Natur, ging. Und schon gar durfte Politik keine Rolle spielen. Doch das änderte sich bald.
Volkslieder spielten etwa im Vormärz für die nationale Identitätsbildung eine große Rolle. Schon 1806 hieß es im Vorwort zu "Des Knaben Wunderhorn":
"Die Besinnung auf das gemeinsame Erbe der Vorzeit sollte den deutschen Stämmen ihre kulturelle Einheit bewusst machen und die nationale Opposition gegen Napoleon stärken."
Es entstanden viele neue Lieder, die vom schweren Los der Bauern, der Arbeiter, Handwerker und Soldaten erzählen – und Spottgesänge auf die Obrigkeit oder Kampflieder zur Revolution 1848. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es dann noch mal eine Volkslied-Welle. Am bekanntesten aus dieser Zeit wurde die Jugendbewegung "Wandervogel", die zunächst auf alte romantische, naturverklärende Themen zurückgreift.
Später sang die "Bündische Jugend" auch wieder politische Lieder. Die intensive Nutzung des Volksliedes zur Identitätsbildung hat zu umfangreichen Sammlungen geführt. Diese markieren zugleich den Beginn der Volksmusik-Forschung. Allerdings zunächst nicht als ethnologische Feldforschung, sondern als reine Schreibtischarbeit. Erst einmal ging es nicht um die Praxis der Volksmusik oder ihre Funktion, sagt Professor Günther Noll, der ehemalige Direktor des Instituts für Musikethnologie an der Uni Köln.
"Es war zunächst die reine Objektforschung, also die Sammlung. Und hier kam es darauf an, das, was in der Tradition vorhanden ist, zu bewahren, aber ohne auf die sozialen Bezüge, also auf die Ausübenden, einzugehen."
Daraus entstanden große Archive, die bis heute Grundlage für die Forschung sind. Das älteste ist das 1914 gegründete Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg. Das Kölner Institut wurde 1964 aus dem Niederrheinischen Volksliedarchiv aufgebaut von Ernst Klusen, der einer der Gründerväter der musikalischen Volkskunde in Deutschland war.
"Er begann auch gleich, den Begriff Volkslied infrage zu stellen, weil er mit Recht darauf hinwies, dass niemals das ganze Volk gesungen habe, sondern einzelne Gruppen. Er setzte daraufhin den Begriff Gruppenlied ein, und mit dem Gruppenlied hat er endgültig eine soziale Komponente gefunden, um eben den singenden Menschen, den gesamten Hintergrund dieses Geschehens, des Singens, nun zu erforschen."
Im Mittelpunkt stand jetzt die Feldforschung, die gleichzeitig Sozialforschung und auch Teil der Geschichtsforschung wurde.
"Es war eine ganz neue Dimension, dass zum Beispiel Untersuchungen über den Missbrauch in der NS-Diktatur und auch in der DDR-Diktatur wesentliche Bereiche darstellten, so dass im Schwerpunkt des Instituts zunächst Singforschung eine zentrale Rolle gespielt hat."
Gesungen wurde bei den Nazis viel, unter anderem Lieder der Wandervogelbewegung, teils mit nationalistischen neuen Texten, als "Kraftquellen nordischen Musikgeistes". Damit aber, so klagte später Franz Josef Degenhardt, waren "unsere alten Lieder tot"...
"Lehrer haben sie zerbissen,
Kurzbehoste sie verklampft,
braune Horden totgeschrien,
Stiefel in den Dreck gestampft."
Kurzbehoste sie verklampft,
braune Horden totgeschrien,
Stiefel in den Dreck gestampft."
Der Missbrauch der Volksmusik im Nationalsozialismus wirkte noch lange nach: Der Philosoph Theodor Adorno schrieb 1956, das gemeinsame Singen, besonders von Volksliedern, erinnere ihn an faschistische Massenveranstaltungen – und sei nicht nötig. Erst Ende der 1960er-Jahre entstand dann eine deutsche Folkmusik-Bewegung, und Liedermacher wie Degenhardt oder Hannes Wader griffen auf "unverbrauchte" alte Revolutions- oder Arbeiterlieder zurück.
Oder sie sangen Lieder aus der amerikanischen Folkbewegung. Der Volksmusikforscher Armin Griebel:
"Die Folkbewegung, sie leitet sich her einmal von der Romantik, aber ganz besonders auch von der Jugendbewegung, diese Lieder sind wieder in Besitz genommen worden, aber letztlich in einer gebrochenen Art, man hat auch die musikalische Seite dieses Folk-Revival versucht einzubringen, einmal weil diese Tradition eben verbrannt war, weil das, was in der NS-Zeit mit dem Volkslied passiert war, wollte man auf keinen Fall anknüpfen, und andererseits wollte man auch stilistisch eine Zäsur setzen und hat eben sich bei diesen angloamerikanischen Vorbildern bedient."
Auch in der DDR wurden die alten deutschen Arbeiterlieder gepflegt – allerdings mit dem schalen Beiklang, dass sie wieder in Massen und von "oben" verordnet gesungen wurden. Was Westdeutschland betraf, so erinnert sich der Kölner Musikethnologe Günther Noll, wie sehr Adornos Schweigegebot nachwirkte:
"Es ging sogar soweit, dass es dann Schulbücher gab, in denen überhaupt keine Lieder mehr, also das traditionelle Liedgut, das Kinder gesungen haben, vorhanden waren, sondern die aktuellen Hits aus den entsprechenden Kindersendungen, und das war natürlich eine Anpassung an die Zeit."
Und da die Schule von jeher der Ort der Tradierung von Volksliedern war, kam es zu einem gewissen Niedergang der deutschen Volksmusikkultur. Aber nicht überall.
"Wenn das Singen nicht gefördert wird, dann lebt das immer nur in der Tradition, die vor Ort besteht. Also in Köln oder in den Regionen Bayerns, die Singbegeisterung in Köln ist eine langjährige Tradition über Generationen hinweg, die hat keine Brüche erfahren. Die Brüche sind vor allem in der Öffentlichkeit entstanden durch den Missbrauch in der NS-Zeit."
Mittlerweile drückt sich zum Beispiel in kölschen Liedern auch eine Art neues Heimatgefühl aus – "multikulti", wenn man so will.
Schon Anfang der 1950er-Jahre war – initiiert von Kölner Jugendgruppen-Leitern – ein Liederhandbuch entstanden, die "Mundorgel", damals ein Bestseller. An unzähligen Lagerfeuern wurden nun im ganzen Land – mit der kleinen roten "Volkslied-Bibel" – wieder alte und neue Weisen geklampft und gesungen. Und vor allem in Bayern lebte und lebt die instrumentale Volksmusiktradition quasi ungebrochen fort als Heimatpflege und Förderung der regionalen "Identität". Armin Griebel:
"Man hatte nach 1945 einfach ausgeblendet, dass es da eine starke Instrumentalisierung auch der Volksmusik gegeben hat, man hat einfach so getan, als ob diese regionale Volksmusik davon unbeeinflusst gewesen wäre und dadurch quasi ihre Unschuld behalten haben."
Im Fahrwasser der bayrischen Heimat- und Volksmusikpflege schwappte dann allerdings auch die sogenannte "volkstümliche Musik" über die Republik: 1983 ging es los im öffentlich-rechtlichen Fernsehen:
"Dieses Bedürfnis nach heiler Welt ist ja etwas, was eigentlich in jedem Menschen drinsteckt"
Um kommerziell erfolgreich zu sein, nutzen solche Sendungen Elemente aus der echten Volksmusik. Das funktioniert offenbar am besten mit alpenländischen "Heile-Welt"-Klischees: schneebedeckte Berge, kristallklares Wasser, saftig-grüne Natur. Dazu fesche Dirndlmädchen und kernige Jungs in Lederhosen. Gerne auch mit verniedlichenden Namen wie "Wildecker Herzbuben" für zwei zentnerschwere Männer im Gartenzwerglook. Professor Christian Höppner, Geschäftsführer des Deutschen Musikrats, sieht das aber nicht so streng.
"Dieses Bedürfnis nach heiler Welt ist ja etwas, was eigentlich in jedem Menschen drinsteckt – das drückt sich halt nur unterschiedlich aus. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, es gibt Volksmusik unterschiedlicher Qualitäten, also gemeinhin das, was bei Fernsehshows als Volksmusik bezeichnet wird, ist natürlich was anderes als das, was uns im Sinne von Herder überliefert ist. Und das, was auch im allgemeinen Sinne als volkstümliche Musik bezeichnet wird, ist natürlich stark vom Kommerzialisierungsgedanken geprägt. Und insofern würde ich das niemals auf eine Stufe stellen wollen, ich gehöre bloß nicht zu der Fraktion, die sagt, volkstümliche Musik ist etwas, was wir eigentlich verbannen sollen, in diese Qualitätsdiskussion würde ich ganz ungern einsteigen wollen, weil das ganz offensichtlich auch Spiegel unserer Gesellschaft ist."
Immer mehr jüngere Volksmusiker haben sich jedoch als "Antistadl-Bewegung" zusammengetan und schreiben ihre "Volxmusik" mit X, um sich abzugrenzen. Armin Griebel:
"Dieses X steht dann für Crossover, also für eine Anknüpfung an die Tradition, aber gleichzeitig sehr starke Neuerung oder das Verbinden mit anderen Elementen, mit Popmusik oder mit anderen Weltmusikstilen, also die haben sich total freigeschwommen aus der Zeit, aus der sie letztlich herausgewachsen sind."
Die Gruppen heißen "Kellerkomando", "La Brass Banda" oder "Rohrfrei". Sie machen nur den Eindruck von Musikantenstadlern: Hier gibt es Trachten, Dialekt und alpenländische Instrumente, dazu aber auch Rock- und Hip-Hop-Elemente. Die Neue Volksmusik ist nicht mehr nur in Bayern zu hören, sondern überall in der Republik. Und sie bedient sich auch anderer europäischer Volksmusikelemente und Instrumente. Da kommt etwa ein Dudelsack vor oder eine Klarinette, wie in der Klezmermusik. Der fränkische Volksmusikforscher Armin Griebel spielt selbst in so einer Klezmerband, die sich "Schmitts Katze" nennt.
"Diese Klezmermusik funktioniert nach den gleichen Gesetzen wie die fränkische Tanzmusik, also das ist eben auch dieses Stehgreifspiel, und wir versuchen mit unserem Quartett diese Musik also Tanzmusik zu präsentieren. Und da viele ja mit dem Volksmusikklischee nix anfangen können beziehungsweise davon rennen: Die Klezmermusik ist da ein guter Ersatz und die ist ja auch eine europäische Musik, die all diese Dinge besitzt und zwar im guten Sinne, dass eben Volksmusik nichts nur aus einer Wurzel ist, sondern dass Volksmusik alles aufnimmt an Anregungen, was die Umgebung bietet."
Die "Volkszugehörigkeit" der Volksmusik ist nicht mehr eindeutig. Darauf hat auch die Forschung reagiert: So gibt es in Würzburg den Lehrstuhl für "Ethnomusikologie" oder das "Zentrum für populäre Kultur und Musik" an der Uni Heidelberg. Die "Forschungsstelle für fränkische Volksmusik" nutzt den alten Begriff zwar weiter, allerdings vorrangig im Sinne "populärer Gebrauchsmusik". Und auch die Kölner Wissenschaftler untersuchen längst die gesamte musikalische Alltagskultur, wie der ehemalige Leiter Professor Noll betont.
"Von der Singforschung weitete es sich wiederum aus zur Laienmusik- oder Amateurmusikforschung und von dort zur musikanthropologischen Grundlagenforschung."
Deshalb wurde das Kölner Institut für musikalische Volkskunde 2010 in "Institut für Europäische Musikethnologie an der Universität zu Köln" umbenannt.
Hayden Chisholm, der in Köln lebende neuseeländische Musiker und Autor des Films "Sound of Heimat", sagt zur deutschen Volksmusik:
"Ich habe wahnsinnig schöne Melodien gelernt. Und tief verborgen irgendwo in dieser Musik ist eben das Gefühl von Heimat. Und ich habe erlebt, wie viel Freude euch Deutschen diese Musik macht. Auch wenn immer ein Hauch von Melancholie dabei ist."
Die Volksmusik erlebt ohne Frage derzeit eine Renaissance in Deutschland. Das hat einerseits mit der uralten Sehnsucht nach so etwas wie Heimat zu tun. Es zeigt aber gleichzeitig, dass sie in ihren neuen Formen überall zu Hause ist – eine "lokale Weltmusik". Armin Griebel:
"Identitäten, musikalische, setzen sich eben nicht nur aus einer Musik zusammen, sondern aus vielen unterschiedlichen, und da spielt dann auch die Volksmusik mit rein, die wird dann auch verstanden, wenn sie mit den entsprechenden Mitteln so präsentiert wird."