In der Kindheit meines Vaters Matthias und meiner Tante Barbara Vollmer gibt es ein dunkles Kapitel. 1967 wurden sie vom Bundesbahn-Sozialwerk sechs Wochen in ein Kurheim in Wenningstedt auf Sylt verschickt, um sich am Meer vom verrußten Ruhrpott zu erholen und um zuzunehmen. Mein Großvater Albert Vollmer wollte ihnen damit etwas Gutes tun:
"Als ich 1938 zur Kur war, das ging auch über das Eisenbahn-Sozialwerk, da war ich in Norderney, da kann ich mich nicht beklagen, wir sollten schwimmen lernen, haben gut Essen bekommen."
Am Bahnhof in Dortmund-Marten winkten Albert und Gertrude Vollmer den beiden Kleinen lange nach, die sich auf dem Weg in ein großes Abenteuer sahen. Die Eltern ahnten nicht, dass sie ihre Kinder in einen sechswöchigen Albtraum schickten.
Schokoladenpuddingsuppe, Schokoladenpuddingsuppe
In Wenningstedt angekommen, wurden die Kinder zu Namenlosen. Man trennte den Neun- und die Sechsjährige. Dem kleinen Matthias wurde ein Zimmer mit Jungen im Alter von bis zu achtzehn Jahren zugewiesen, denen er fortan schutzlos ausgeliefert war: Etwa, wenn sich die jungen Männer vor seinen Augen selbst befriedigten:
"Es gab niemanden, wirklich niemanden, weil die Kleinen hilflos waren wie ich, niemanden in dem ganzen System, an den man sich hätte wenden können, um mich zu beschweren."
Denn die Erzieherinnen kamen nachts als Geliebte in die Betten der älteren Jungen. Mein damals neunjähriger Vater drückte sich in die Kissen, um nichts hören und sehen zu müssen. Seine Lichtblicke waren die langen Spaziergänge am Strand, jedes Kind den Knoten eines Seils festhaltend. Da konnte er für kurze Zeit die Sorge um seine Schwester vergessen.
Barbara Vollmer erzählt: "Ich bin zum Essen gezwungen worden. Schokoladenpuddingsuppe, Schokoladenpuddingsuppe und immer wieder Schokoladenpuddingssuppe, jeden Tag, morgens, mittags, abends, einen großen Teller als Vorspeise vor dem normalen Essen."
"Dann wird die Mama ganz traurig"
Zu den schlimmsten Züchtigungsmaßnahmen gehörten für Barbara Vollmer die Isolationsstrafen.
"Auf meinem Zimmer war ein Mädchen, die war Bettnässerin und der wurde nachts die Bettdecke gelüftet und wenn sie ins Bett gemacht hatte, musste die den Rest der Nacht auf einer Truhe im Flur sitzend verbringen."
Als die Sechsjährige während des Aufenthalts Ziegenpeter und schweres Fieber bekam, sei sie isoliert und fast den ganzen Tag allein gelassen worden. Niemand sei freundlich gewesen, ihr Bruder durfte sie nicht besuchen. Auch das Geschenk ihrer Eltern zu ihrem siebten Geburtstag nahmen sie ihr weg:
"Es gab keine vertraute Person, und es gab auch nicht einen Menschen da, der irgendwie warmherzig gewesen wäre, die waren alle kaltherzig und im Grunde grausam."
Die Hilfeschreie aus Wenningstedt kamen bei den Eltern in Dortmund-Marten nicht an: Einmal durfte die kleine Barbara mit einer Erzieherin einen Brief nachhause schreiben:
"Ich wollte der diktieren: Mama ich habe Heimweh. Und die hat dann gesagt: Nein, das schreiben wir nicht, dann wird die Mama noch ganz traurig."
"Das haben wir erst erfahren, als sie wieder da waren, und da haben wir gesagt, da brauchen wir sie nicht mehr hinschicken", sagt mein Großvater Albert Vollmer heute.
Eine Beschwerde reichten meine Großeltern im Anschluss nicht ein. Auch viele andere Betroffene, mit denen ich gesprochen habe, erzählten, dass ihre Eltern keine weiteren Schritte unternahmen. Manche wurden sogar wieder zur Kinderkur geschickt. Noch immer holt die beiden Geschwister die Erinnerung an damals ein:
Barbara Vollmer: "Zum Beispiel grade als ich meinen Kindern erzählt hab, dass Du das Interview führst, und in der Erinnerung an diese Geschichte, musste ich weinen."
Schwierige Suche nach dem Träger
Ich will wissen, wer die Betreiber dieser Einrichtung waren. Als ich beim Bundesbahn-Sozialwerk nachfrage, erhalte ich eine E-Mail der Produktmanagerin Eva Kühnert:
"Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, da uns keine historischen Dokumente oder sonstige Unterlagen aus dieser Zeit vorliegen."
Die Touristeninformation in Wenningstedt nennt mir zwei privat betriebene Kurheime aus den 1960ern, die längst geschlossen und verfallen seien und deren Betreiber nicht mehr lebten. Man verweist mich für die Suche nach Fotos an das Sylter Archiv. Doch das hat auf unbestimmte Zeit geschlossen. So bleibt mir nur die Bildersuche im Internet. Dort finde ich eines der beiden genannten Häuser wieder. Doch auf diesem und allen anderen Fotos, die ich von ehemaligen Wenningstedter Kinderkurheimen finde, erkennen mein Vater und meine Tante ihr Heim nicht wieder. Bei einem Heim ist sich mein Vater dann doch fast sicher, aber meine Tante nicht. Und sein Verdacht lässt sich nicht prüfen. Denn bei einem Anruf in der Einrichtung sagt man mir wieder, dass keine Daten von Kurgästen von damals mehr vorlägen.
Auch Doktor Peter Hellmann, pensionierter Schulleiter aus Kohlscheidt-Herzogenrath, weiß nicht, wer der Träger des Heims aus seinen Albträumen war. Der Mann mit dem markanten Schnauzbart wurde 1958 – mit gerade mal vier Jahren - aus seiner liebevollen Kleinfamilie in Wuppertal gerissen. Weil seiner Mutter eine Operation bevorstand, organisierte ein evangelischer Pastor einen Kurplatz für Peter und seinen sechsjährigen Bruder - in Peterzell bei Sankt Georgen im Schwarzwald.
Peter Hellmann erzählt: "Man hatte so wenig Einfühlungsvermögen in die Psyche von kleinen, zerbrechlichen Kindern, dass man mich und meinen Bruder getrennt hat in der ersten Nacht. Als ich Nachts wach wurde, wusste ich überhaupt nicht, wo ich war, ich habe einen fürchterlichen Horror bekommen, habe angefangen zu weinen und zu schreien, bin aus dem Gitterbettchen raus, barfuß über eiskalte Fliesen durch das Haus geirrt, bis man mich schluchzend und schreiend auffand."
Flucht mit Folgen
Ab diesem Tag herrschte ein neues Gesetz für den Vierjährigen: Der Stärkere gewinnt. Und da er zu den Kleinsten gehörte, bekam er fortan keine Spielsachen mehr, sonst setzte es Tritte und Schläge von anderen Kindern. Täglich planten die beiden Brüder ihre Flucht, bis es eines Tages so weit war:
Peter Hellmann: "Unweit von unserem Elternhaus verkehrte ein Betriebswagen. An den Anhängern waren seitlich Bretter angebracht, auf dem die Arbeiter transportiert wurden, und für die Flucht hatten wir uns ausgedacht, dass wir am Bahnhof auf so ein Brett springen, uns da verstecken und dann auf dem Brett nachhause fahren. Eines Nachmittags waren wir verschwunden, da erinnere ich mich noch sehr genau an den Fußmarsch im Schnee. Es wurde dann aber dunkel und irgendwann hat uns der Mut verlassen, dann haben wir an einem Haus angeklopft und von da aus sind wir dann ins Heim zurückgekommen."
Zurück in Wuppertal war Peter Hellmann nicht mehr derselbe. Bis heute verfolgen ihn Alpträume, die mit dem Schwarzwald gekommen sind:
"Das ist so eine bestimmte räumliche Konstellation übermächtiger Objekte, die auf mich zukommt. Dieses drohende Moment, dass es mich erreicht, erdrückt und zermalmt."
Wer waren die Verantwortlichen in diesem Heim? Sankt Georgen entsendet auf meine Anfrage ihren Mitarbeiter Hermann Joos, der Erkundigungen vor Ort einholt: Seine Antwort per Mail:
"Ich habe in der Sache bei alteingesessenen Peterzeller Bürgern recherchiert mit dem Ergebnis, dass zu keiner Zeit ein Kinderkurheim existierte."
Peter Hellmann hat an der Existenz keinen Zweifel. 1975 war er sogar nochmal da, aber fand in Peterzell nur noch eine Ruine vor:
Schauermärchen, mehr zählen die Erinnerungen aus den Kuren heute nicht.
Eine freundliche Franziskanerin öffnet
Dabei ist das Internet voll mit Sucheinträgen ehemaliger Kurkinder. Sie beschreiben dort weitere Kurbetriebe als brutale Zuchtanstalten und suchen Leidensgenossen. Bei der Recherche im Netz stoße ich auch auf einen Eintrag von Gabriele Pypker. Sie erhebt noch schwerere Vorwürfe gegen den katholischen Orden der Franziskanerinnen Thuine.
Ich treffe die 52-Jährige in ihrem Wohnzimmer am Bochumer Stadtrand. Von hier aus hat sie viele Jahre um Wiedergutmachung gekämpft, bis sie nicht mehr konnte. Laut Pypker wurde ihr früherer Lebensgefährte Daniel B., so kürzt sie ihn ab, Opfer sexueller Gewalt im Kurheim Sankt Johann in Niendorf an der Ostsee. In dem Heim der Franziskanerinnen Thuine soll er 1975 als Vierjähriger sechs Wochen verbracht haben. Ab 2007 habe er sich immer deutlicher erinnert, bis er jede Nacht schreiend aufgewacht sei.
Gabriele Pypker erzählt: "Irgendwann kam dann, ich glaube, ich musste Sex haben mit anderen Kindern. Kinder wurden Nachts geweckt von Schwestern und wurden dann in den Keller gebracht."
Daniel B. habe Hilfe beim Weißen Ring gesucht, jedoch mehrere Therapien frustriert abgebrochen. Er sei mit den Erinnerungen nicht fertig geworden, glaubt Pypker, die anmerkt, selbst Missbrauchsopfer zu sein.
"Die Bilder im Kopf, dieses Karussellfahren, immer, immer, immer, im Traum, kurz vorm Einschlafen, den ganzen Tag über, der hat versucht es zu deckeln mit Drogen und Alkohol und das ging immer weniger und dann hat er sich tatsächlich erhängt."
Das war Ende 2009. Da war Daniel B. 39 Jahre alt. Nach seinem Tod suchte Pypker gemeinsam mit der Ex-Frau von Daniel online im Netzwerk B. für Opfer sexualisierter Gewalt nach anderen Betroffenen und stach damit in ein Wespennest. Hunderte Anrufe folgten, die Antworten im Netz sind inzwischen 100 Seiten lang. Viele bestätigen brutale Erziehung in Sankt Johann – Vergewaltigungen jedoch nicht. Pypker suchte weiter, fand eine noch lebende Schwester, die in dem Kurheim mitgearbeitet hatte. Mit ihr sprechen durfte sie jedoch nicht, als sie nach Thuine eingeladen wurde. Die Schwester habe einen Herzinfarkt erlitten und liege auf der Krankenstation, hieß es dort. Ein Gespräch sei nicht zumutbar. Stattdessen habe sie eine junge freundliche Franziskanerin empfangen, die die Missbrauchsvorwürfe jedoch abwies.
"Es sind Erinnerungen, keine Beweise"
Auch mit mir lehnt die damalige Kurmitarbeiterin ein Gespräch ab. Stattdessen treffe ich mich mit der Generaloberin des Ordens, Schwester Maria Cordis Reiker, im Mutterhaus in Thuine bei Lingen zum Gespräch.
"Die Recherchen haben ergeben, es hat keinen sexuellen Missbrauch gegeben. Wir sind aber wohl auf eine sehr strenge Erziehung in dem Kurheim gestoßen", sagt sie.
Reporterfrage: "Man kann es ja jetzt nicht verifizieren, aber ausschließen kann man es doch auch nicht, oder?"
"Die Schwestern, die befragt worden sind, sind so glaubwürdig, dass man sagen kann: Einen sexuellen Missbrauch hat es nicht gegeben. Eine Mitschwester unserer Gemeinschaft ist mit denen im Gespräch gewesen und sie sagt, es hat strenge Erziehungsmaßnahmen gegeben, ohne jetzt genau im Detail zu wissen, worin die bestehen. Die Art und Weise zu erziehen ist sicher im Zusammenhang der 50er, 60er Jahre zu sehen, in der von Erziehung oft anders gedacht wurde als wir das heute tun."
Reporterfrage: "Nun war der Daniel B. aber 1975 in diesem Heim."
"Das kann ich jetzt nicht sagen, weil ich mich auf die Recherche meiner Mitschwester verlassen muss. Weil ein Arzt, ein Hausmeister, also Personen, die mit den Kurkindern damals zu tun hatten, nicht mehr zur Verfügung stehen, nicht mehr leben." [*]
Wohl aber eine Mitarbeiterin von damals. Doch warum weigert sie sich mit mir und auch Gabriele Pypker zu sprechen?
Dazu sagt die Generaloberin: "Den Grund kenne ich nicht, aus meiner jetzigen Einschätzung sage ich, sie ist sehr krank."
Mehr erfahre ich nicht. Eine abschließende Beurteilung der Vorwürfe ist so unmöglich. Norbert Denef vom Netzwerk B hat Gabriele Pypker und Daniel B.s Ex-Frau während ihres Kampfes um Aufklärung begleitet und unterstützt. Er gibt ein Statement zu dem Fall per E-Mail ab:
"Es sind Erinnerungen, keine Beweise. Leider war es bisher weder politisch noch juristisch möglich, diese Erinnerungen investigativ aufzuarbeiten, weil die Einrichtung kein Interesse daran hat und die bestehenden Verjährungsfristen diese Haltung noch unterstützen. Durch die Veröffentlichung im Netz ist erst deutlich herausgekommen, wie schlecht die Behandlung von Kindern in manchen Kureinrichtungen war. Das kann man in den über 200 Kommentaren nachlesen."
Ausbeutung als Geschäftszweig
Eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema Kinderkur außerhalb von Internetforen scheint bis heute nicht stattzufinden. Bis ich auf das Kinderbuch "Schwarze Häuser" von Sabine Ludwig stoße. Darin erzählt die Berlinerin von ihrer Zeit als Zehnjährige in Kur auf Borkum in den 1960er Jahren.
"Die Würste waren teilweise verfault, wenn es mal sonntags Kompott gab, dann hat der gewonnen, der die meisten Würmer im Kompott hatte. Also, es war Schweinefraß. Wenn die jüngeren Kinder nicht essen wollten, dann hat sich die 'Tante' eine Gummischürze angezogen, den Kopf des Kindes zwischen die Knie genommen, festgehalten und es gestopft wie eine Weihnachtsgans."
Obwohl es ein Kinderbuch ist, wurde die Autorin nach der Veröffentlichung 2014 von Briefen erwachsener Leser überflutet. Etliche ehemals Betroffene schrieben, dass Ludwig ihre eigene Kurgeschichte geschrieben habe: eine Geschichte von Zwangsernährung, einer lieblosen, brutalen Erziehung und schlechtem Essen für die Kinder:
Sabine Ludwig: "Mein Eindruck war, dass es zu diesem Thema praktisch nichts gibt, keine Literatur, keine Untersuchung, einfach gar nichts."
Dabei wurden Kinder scharenweise über Jahrzehnte in Kur geschickt. Die so genannten "Landverschickungen" waren ein Erbe der Nazizeit, als Hitler massenhaft Kinder aufs Land evakuieren ließ. Die Lagererziehung sei in den Kurheimen bis weit in die 1970er konserviert worden, sagt Sabine Ludwig.
Und sie geht noch weiter: Die Ausbeutung der Kurkinder sei ein verbreiteter Geschäftszweig gewesen.
Schwester Maria Cordis Reiker von den Franziskanerinnen Thuine bestreitet das:
"Manchmal habe ich den Eindruck, dass es dabei um ein Konglomerat von unterschiedlichen Empfindungen, Gefühlen, Beobachtungen geht, die oft undifferenziert so zusammen gebracht werden, zu einem Vorwurf und damit tut man den Kurheimen insgesamt unrecht."
Die Autorin Sabine Ludwig sieht das anders. Sie hofft, dass den Empfindungen der früheren Kurkindern Glauben geschenkt wird.
[*] Anm. d. Red.: An dieser Stelle wurde in der Textfassung eine versehentlich nicht verschriftliche Passage der Audiofassung ergänzt.