Gleich zwei prominente Literaturhinweise aufs 18. Jahrhundert hat Irene Dische im Titel ihres neuen Romans untergebracht, der sich deshalb etwas altmodischer anhört als der ursprünglich angekündigte, nicht weniger anspielungsreiche "Die Wahlfahrt". Mit diesem Perspektivenwechsel rückt sie den auf "Stimmenfang" befindlichen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten wieder aus der Schusslinie und lenkt den Blick direkt auf die Hauptperson, Ich-Erzählerin Clarissa, die ihren Prolog im Flugzeug von Berlin nach New York sitzend abhält und ihrem Nachbarn ungefragt das halbe Leben beichtet.
"Ich war fünfzehn. Jetzt können Sie sich ausrechnen, wie alt ich bin. Da staunen Sie, was? Auch wenn ich viel jünger aussehe – ich bin schon fünfunddreißig. Ich war Jugendmeisterin in der Liebe: Als ich mich zum ersten Mal verliebte, war ich vierzehn und eingesperrt in einem Internat. Ein Wachmann von Pinkerton passte auf uns auf. Ich nannte ihn Pinkie. Meine große Liebe. Als die Schulleitung davon erfuhr, erstatteten sie Anzeige. Pinkie wurde wegen Vergewaltigung verurteilt. Er kam ins Gefängnis."
Mit sprudelnder Offenheit drängt sich Clarissa auch dem Leser auf: Egozentrikerin und Luxusgeschöpf, eitel, exzentrisch, nymphoman, von Beruf ausgerechnet Rennfahrerin außer Dienst. Zurück ins heimatliche New York zieht es die schon lange in Europa lebende und in Berlin mit einem "gutverdienenden Handchirurgen" verheiratete Heldin – aus Liebeskummer. (Von etwaigen Ähnlichkeiten mit ihrer Protagonistin will Irene Dische übrigens nichts wissen!) Überraschend steuert die extrem anlehnungsbedürftige Dame jedoch zunächst das entferntere Miami an, um zu einer wahren Odyssee quer durchs wahlkampfgeschüttelte Amerika bis hoch nach Alaska anzutreten. Mit allem, was gerade opportun ist: Bus, Flieger, Pick-up, Taxi oder auch zu Fuß.
Nur begleitet von ihrem Blackberry, der den ständigen E-Mail-Verkehr der Heldin mit Ex-Lover Ivan und anderen aufrecht erhält – was obendrein an den im Titel zitierten Briefroman "Clarissa" mit konkurrenzlosen 537 Briefen von Samuel Richardson erinnert.
Obwohl die Frau mit der goldenen Kreditkarte (die ihrem Gatten gehört) am liebsten in Fünf-Sterne-Palästen absteigt, die Business-Class verabscheut und den Umgang mit Promis wie Großschriftstellern, Pressezaren oder Präsidentenmachern sucht, verschlägt es sie auf ihrer Reise verdächtig oft in Gegenden, die vom "Broken-Windows-Syndrom" befallen sind, wo die Ärmsten der Armen Amerikas in Trailerparks oder heruntergekommenen Absteigen hausen. In ihrer in der ZEIT vorab veröffentlichten Reportage über ihre Zeit als Obama-Wahlhelferin in North Carolina und Florida lässt Dische die Maske der literarischen Verfremdung fallen: den heimischen Sprachgebrauch zitierend heißt es dort einfach Niggertown oder poor white trash. In diesen Gegenden ist auch meistens die Rede von Obama, der Clarissa – wie anders - an einen jugendlichen Ex-Lover erinnert:
"Der Name kam mir vertraut vor. Obama. Das klang fast wie Odiambo. Ein Luo-Name. Ich war mal in einen Odiambo verliebt gewesen, und zwar lange genug, um zu erfahren, dass so ziemlich jeder afrikanische Name, der mit O anfängt, ein Luo-Name ist und dass die Luo als Fischer in Kenia leben und niemandem zur Last fallen."
Allzu gern streut Dische Verweise auf die eigene Biografie – wie die berühmten Kenia-Lehrjahre – in ihre Texte ein. Das "Zur-Last-fallen" geht allerdings eindeutig auf Obamas Konto, der sich via E-Mail auch als Spendenbittsteller geoutet hat. Der unverkennbare lakonische Dische-Ton, von einem Kritiker einmal als "Kunstform eines urbanen Idioms" tituliert, der Metropolenbewohnern eigen sei, klingt in "Clarissas empfindsame Reise" noch eine Spur forcierter, noch frecher, noch satirischer als bisher. Beinahe zynisch. Ungeachtet ob Freund oder Feind versammelt die Autorin einen farbenfrohen Querschnitt durch den amerikanischen "melting pot". Eine Sonderstellung nehmen dabei die Juden ein, die Clarissa als eine Art Landplage schildert, weil sie ihr "ständig über den Weg laufen". An derlei leicht als "antisemitisch" misszuverstehende Äußerungen hat man sich seit Disches erstem Erzählband "Fromme Lügen" gewöhnen müssen.
Auch an die Sonderstellung der Frau, die sie gern zur Protagonistin kürt und die normalerweise in der Männerdomäne einer "road novel" nichts zu suchen hat. Um so mehr fällt eine widersprüchliche Passage ins Auge, die das eigene Geschlecht plötzlich in einem ganz anderen Licht, als erwartet, erscheinen lässt:
"Nun kann ich das Wort "Frau" nicht leiden - vor allem, wenn Männer es verwenden, um über andere zu sprechen. Es schaudert mich jedes Mal. Und selbst wenn es sich auf mich bezieht, finde ich es nicht schmeichelhaft. Das Wort "Frau" ist einfach kein Superlativ, wie das Wort "Mann" einer ist. Und wenn Männer es auf andere anwenden und noch "sie" und "ihr" und "ihre" dazukommen, klingt es noch niederschmetternder, weil es betont, dass es von uns viele gibt."
Nur, wenn man die Sätze dreht und wendet, richtet sich die Speerspitze plötzlich gegen das "andere" Geschlecht. Zur Erzähltechnik von Irene Dische gehört die von der Satire ausgeliehene komische Verdrehtechnik, die auch für die stereotype Schilderung der narzisstischen Clarissa verantwortlich ist, über deren Körper- und Schönheitsbewusstsein man sich durchaus wundern kann. Ungleich wichtiger ist die Wahl des Reiseromans, das ständige Unterwegssein, ruhelos aus Liebeskummer. Und warum soll man diesen Roman mit seinen zahllosen Windungen nicht als eine Metapher, als eine Hommage an das verkommene, aber trotzdem heißgeliebte Land Amerika lesen? Als politische Autorin sieht sich Irene Dische nicht. Dafür scheint auch die "empfindsame Reise" zu sprechen, die an Laurence Sternes "Sentimental Journey through France and Italy" anknüpft. Das Einfühlungsvermögen für gesellschaftliche Außenseiter, das diese doch so flatterhafte Clarissa ständig an den Tag legt, folgt allerdings ziemlich genau der Vorstellung Sternes, der unter Empfindsamkeit keine Sentimentalität, sondern "Mitleid", vielleicht sogar "soziales Engagement" verstand. Also doch politisch?
Erst ganz zum Schluss erfahren wir, dass "Clarissas empfindsame Reise" die Geschichte einer Heimkehr ist. Der Bildungsroman rundet sich. Die vielen Ortswechsel und die kurzen, wegweisenden Überschriften liegen zuletzt wie eine Landkarte vor dem Leserauge ausgebreitet. Alles macht Sinn. Und selbst der Einsatz der Wahlhelferin – ob sie nun Irene Dische oder Clarissa heißt - war nicht umsonst. Soviel wissen wir heute.
Irene Dische: Clarissas empfindsame Reise, Roman, Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Hoffmann und Campe Verlag Hamburg 2009, 160 Seiten, gebunden, 19,95 Euro
"Ich war fünfzehn. Jetzt können Sie sich ausrechnen, wie alt ich bin. Da staunen Sie, was? Auch wenn ich viel jünger aussehe – ich bin schon fünfunddreißig. Ich war Jugendmeisterin in der Liebe: Als ich mich zum ersten Mal verliebte, war ich vierzehn und eingesperrt in einem Internat. Ein Wachmann von Pinkerton passte auf uns auf. Ich nannte ihn Pinkie. Meine große Liebe. Als die Schulleitung davon erfuhr, erstatteten sie Anzeige. Pinkie wurde wegen Vergewaltigung verurteilt. Er kam ins Gefängnis."
Mit sprudelnder Offenheit drängt sich Clarissa auch dem Leser auf: Egozentrikerin und Luxusgeschöpf, eitel, exzentrisch, nymphoman, von Beruf ausgerechnet Rennfahrerin außer Dienst. Zurück ins heimatliche New York zieht es die schon lange in Europa lebende und in Berlin mit einem "gutverdienenden Handchirurgen" verheiratete Heldin – aus Liebeskummer. (Von etwaigen Ähnlichkeiten mit ihrer Protagonistin will Irene Dische übrigens nichts wissen!) Überraschend steuert die extrem anlehnungsbedürftige Dame jedoch zunächst das entferntere Miami an, um zu einer wahren Odyssee quer durchs wahlkampfgeschüttelte Amerika bis hoch nach Alaska anzutreten. Mit allem, was gerade opportun ist: Bus, Flieger, Pick-up, Taxi oder auch zu Fuß.
Nur begleitet von ihrem Blackberry, der den ständigen E-Mail-Verkehr der Heldin mit Ex-Lover Ivan und anderen aufrecht erhält – was obendrein an den im Titel zitierten Briefroman "Clarissa" mit konkurrenzlosen 537 Briefen von Samuel Richardson erinnert.
Obwohl die Frau mit der goldenen Kreditkarte (die ihrem Gatten gehört) am liebsten in Fünf-Sterne-Palästen absteigt, die Business-Class verabscheut und den Umgang mit Promis wie Großschriftstellern, Pressezaren oder Präsidentenmachern sucht, verschlägt es sie auf ihrer Reise verdächtig oft in Gegenden, die vom "Broken-Windows-Syndrom" befallen sind, wo die Ärmsten der Armen Amerikas in Trailerparks oder heruntergekommenen Absteigen hausen. In ihrer in der ZEIT vorab veröffentlichten Reportage über ihre Zeit als Obama-Wahlhelferin in North Carolina und Florida lässt Dische die Maske der literarischen Verfremdung fallen: den heimischen Sprachgebrauch zitierend heißt es dort einfach Niggertown oder poor white trash. In diesen Gegenden ist auch meistens die Rede von Obama, der Clarissa – wie anders - an einen jugendlichen Ex-Lover erinnert:
"Der Name kam mir vertraut vor. Obama. Das klang fast wie Odiambo. Ein Luo-Name. Ich war mal in einen Odiambo verliebt gewesen, und zwar lange genug, um zu erfahren, dass so ziemlich jeder afrikanische Name, der mit O anfängt, ein Luo-Name ist und dass die Luo als Fischer in Kenia leben und niemandem zur Last fallen."
Allzu gern streut Dische Verweise auf die eigene Biografie – wie die berühmten Kenia-Lehrjahre – in ihre Texte ein. Das "Zur-Last-fallen" geht allerdings eindeutig auf Obamas Konto, der sich via E-Mail auch als Spendenbittsteller geoutet hat. Der unverkennbare lakonische Dische-Ton, von einem Kritiker einmal als "Kunstform eines urbanen Idioms" tituliert, der Metropolenbewohnern eigen sei, klingt in "Clarissas empfindsame Reise" noch eine Spur forcierter, noch frecher, noch satirischer als bisher. Beinahe zynisch. Ungeachtet ob Freund oder Feind versammelt die Autorin einen farbenfrohen Querschnitt durch den amerikanischen "melting pot". Eine Sonderstellung nehmen dabei die Juden ein, die Clarissa als eine Art Landplage schildert, weil sie ihr "ständig über den Weg laufen". An derlei leicht als "antisemitisch" misszuverstehende Äußerungen hat man sich seit Disches erstem Erzählband "Fromme Lügen" gewöhnen müssen.
Auch an die Sonderstellung der Frau, die sie gern zur Protagonistin kürt und die normalerweise in der Männerdomäne einer "road novel" nichts zu suchen hat. Um so mehr fällt eine widersprüchliche Passage ins Auge, die das eigene Geschlecht plötzlich in einem ganz anderen Licht, als erwartet, erscheinen lässt:
"Nun kann ich das Wort "Frau" nicht leiden - vor allem, wenn Männer es verwenden, um über andere zu sprechen. Es schaudert mich jedes Mal. Und selbst wenn es sich auf mich bezieht, finde ich es nicht schmeichelhaft. Das Wort "Frau" ist einfach kein Superlativ, wie das Wort "Mann" einer ist. Und wenn Männer es auf andere anwenden und noch "sie" und "ihr" und "ihre" dazukommen, klingt es noch niederschmetternder, weil es betont, dass es von uns viele gibt."
Nur, wenn man die Sätze dreht und wendet, richtet sich die Speerspitze plötzlich gegen das "andere" Geschlecht. Zur Erzähltechnik von Irene Dische gehört die von der Satire ausgeliehene komische Verdrehtechnik, die auch für die stereotype Schilderung der narzisstischen Clarissa verantwortlich ist, über deren Körper- und Schönheitsbewusstsein man sich durchaus wundern kann. Ungleich wichtiger ist die Wahl des Reiseromans, das ständige Unterwegssein, ruhelos aus Liebeskummer. Und warum soll man diesen Roman mit seinen zahllosen Windungen nicht als eine Metapher, als eine Hommage an das verkommene, aber trotzdem heißgeliebte Land Amerika lesen? Als politische Autorin sieht sich Irene Dische nicht. Dafür scheint auch die "empfindsame Reise" zu sprechen, die an Laurence Sternes "Sentimental Journey through France and Italy" anknüpft. Das Einfühlungsvermögen für gesellschaftliche Außenseiter, das diese doch so flatterhafte Clarissa ständig an den Tag legt, folgt allerdings ziemlich genau der Vorstellung Sternes, der unter Empfindsamkeit keine Sentimentalität, sondern "Mitleid", vielleicht sogar "soziales Engagement" verstand. Also doch politisch?
Erst ganz zum Schluss erfahren wir, dass "Clarissas empfindsame Reise" die Geschichte einer Heimkehr ist. Der Bildungsroman rundet sich. Die vielen Ortswechsel und die kurzen, wegweisenden Überschriften liegen zuletzt wie eine Landkarte vor dem Leserauge ausgebreitet. Alles macht Sinn. Und selbst der Einsatz der Wahlhelferin – ob sie nun Irene Dische oder Clarissa heißt - war nicht umsonst. Soviel wissen wir heute.
Irene Dische: Clarissas empfindsame Reise, Roman, Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Hoffmann und Campe Verlag Hamburg 2009, 160 Seiten, gebunden, 19,95 Euro