"Wenn ich hier reinfahre, kommt das alles wieder in Erinnerung."
Das rumänische Dorf Coltesti gibt sich malerisch. Bunte Häuschen, die Rauchkringel aus ihren Schornsteinen steigen lassen. Dahinter: die grauen Felsen des Apusenigebirges.
"So viel hat sich auch hier nicht verändert, wie es aussieht."
Aber auch in Schauergeschichten wandeln sich idyllische Orte in eine Szenerie des Bösen. Gute Erinnerungen sind es jedenfalls nicht, die Sybille Hüttemann-Boca hat.
"Hier in Coltesti gab es ein Kinderheim für geistig und körperlich behinderte Jungen."
Hinter dem alten Konsumladen biegt Hüttemann ab.
"Wobei, diese Kinderheime – ja hier ist es – immer so gebaut, dass sie ein bisschen versteckt lagen."
Reporterin: "Warum?"
"Damit es nicht für jeden sofort sichtbar war. Diese Kinderheime, das waren ja nicht irgendwas, was man unbedingt nach außen tragen wollte, dass es diese Kinderheime überhaupt gibt."
Behinderte Kinder hinter Gittern
Hüttemann hält vor einem hohen Metalltor. Es ist unverschlossen. Im Hof steht ein altes Herrenhaus. Um die vergitterten Fenster hat sich wilder Wein gerankt.
"Das Haus hat früher genauso ausgesehen. Die gleichen Gitter an den Fenstern wie früher. Das Kinderheim war einmal hier in dem Haus, und dann gab es noch Nebengebäude."
Kurz nach der Revolution 1989 kam die Kinderkrankenschwester zum ersten Mal hierher, nach Rumänien.
"Ich habe lange in den Bodelschwinghschen Anstalten gearbeitet. Also, eine Einrichtung für behinderte Kinder. Und als dann 1989 der Umsturz hier in Rumänien war - da waren wir natürlich alle total geschockt, als wir die Berichte gesehen haben, was für Zustände hier in Rumänien mit behinderten Kindern herrschten. Und haben uns dann einen Lkw geliehen und sind hier nach Rumänien gefahren, um zu helfen, vor Ort."
Und landete eher zufällig hier. Hüttemann geht zur Eingangstür. Sie öffnet sich nicht.
"Wenn man hier rein könnte." - "Wie war das dann, als du hierhergekommen bist?" - "Schrecklich. Das kann man gar nicht in Worten beschreiben. Da war ein großer Aufenthaltsraum mit Betonfußboden, die Kinder zusammengepfercht, teilweise splitterfasernackt, teilweise nur ganz spärlich bekleidet, mit Infektionen, mit Kot beschmiert, von oben bis unten. - Unglaublich, ja, man kann dann da vielleicht durch die Fenster gucken."
Hüttemann späht durch die Scheiben. Im Dunkel stehen Möbel: Gitterbetten? Matratzen?
"Behinderte, das passte einfach nicht in das Bild von Rumänien: Die Behinderten, die mussten einfach weggesperrt werden, mit denen hat man sich nicht auseinandergesetzt."
Dazu kam die Bevölkerungspolitik Ceaușescus: Die sozialistische Diktatur wünschte sich eine große Bevölkerung. Jede Frau sollte mindestens fünf Kinder bekommen. Verhütungsmittel: verboten. Bei Abtreibungen drohte Gefängnis. Und das, obgleich viele hungerten, nicht wussten, wie sie ihre Kinder ernähren sollten.
Ungewollt und abgeschoben
"Und dadurch ist dann auch so eine Generation – in Anführungsstrichen – ungewollter Kinder entstanden, denen man sich dann auch versucht hat zu entledigen, sei es auf die Straße, sei es in solchen Heimen untergebracht, ich bin auch überzeugt, dass nicht alle, die hierher gebracht wurden, behindert waren."
Hüttemann geht die Dorfstraße hinunter, fragt sich durch, wer das Gebäude aufsperren könne. Es ist ein kleiner Ort: eine Kirche, ein Laden, einige Häuschen.
"Natürlich wussten die Leute, dass es das Heim gibt."
Sybille Hüttemann wird schließlich von Dorfbewohnern zu einem älteren Ehepaar geführt, dem Hausmeisterehepaar. Während ihr Mann schnell den Schlüssel holt, erzählt die Frau von früher – etwas zögerlich. Ob sie gewusst hat, was in dem Kinderheim vor sich ging? Ein wenig nur. Viele aus dem Dorf hätten dort eine Arbeit gehabt. Sie aber nicht. Keiner, den Hüttemann heute hier trifft, gibt zu, dort gearbeitet zu haben. Der ältere Herr öffnet das rostige Schloss am Eingang des ehemaligen Kinderheims, lässt die Holztür aufschwingen. Sonnenlicht schiebt sich über den steinernen Boden.
"Jetzt kommt die Erinnerung wieder: Dass viele Kinder an den Wänden gelehnt haben, in Hockstellung und geschrien."
Ein Trog für 40 Kinder
Im Bad: ein steinerner Trog, mehr nicht. Hüttemann: "Hier war das Klo, hier war das Waschbecken."
Reporter: "Für wie viele Kinder?"
Hüttemann: "Für alle – 40 oder mehr."
Im damaligen Aufenthaltsraum liegen Matratzen, Stockbetten sind an die Wände geschoben. Später seien die Räume als Schullandheim genutzt worden, erzählt der Hausmeister.
"Viele konnten wir nicht retten"
Die behinderten Kinder wurden einige Monate nach Hüttenmanns Ankunft in Wohnprojekte der Diakonie gebracht. Werden dort heute gut versorgt. Lange hält sie es trotzdem nicht in den Räumen aus, stellt sich lieber draußen in den Sonnenschein. Sie weiß, viele der Kinder konnte sie nicht retten.
"Sie sind einfach verwahrt worden, bis sie dann irgendwann gestorben sind. Ganz zu Anfang, in den Ärztezimmern gab es Unterlagen, wo die Kinder aufgelistet waren: die Namen von Kindern und die Daten und daneben: normaler Tod, normaler Tod, normaler Tod. Wegen einer kleineren Behinderung stirbst du nicht einfach im Alter von sechs, sieben, acht Jahren. Wahrscheinlich: Wenn es zu viele waren, dann mussten eben zwei, drei weichen."