Es war nur das jüngste opus magnum Heinrich August Winklers: jene 4.600 Seiten über die Geschichte des Westens. In der von der Kritik gelobten Reihe zeigte Winkler, wie sich im Zuge der amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution ab 1789 ein politisches und weltanschauliches Großprojekt entwickelte: aus Volkssouveränität und repräsentativer Demokratie, Menschen- und Bürgerrechten.
Nur in der westlichen Welt, so Winkler, sei diese Kombination denkbar gewesen: Den Weg bereiteten die Trennung der weltlichen und geistlichen Macht – und der Gedanke von der Würde des einzelnen Menschen und von seinen Rechten. Ideen, die Winkler auf das Christentum zurückführt. Mit Worten aus seinem neuen Buch fährt er fort:
"Die westlichen Werte, die in ihrer Summe das normative Projekt des Westens ausmachen, sind ein weltgeschichtlich einzigartiges Ensemble von Errungenschaften. Sie bilden den Maßstab, an dem westliche Demokratien sich messen lassen müssen, und können sich deshalb auch als Korrektiv zur politischen Praxis des Westens bewähren."
Der Westen und seine hausgemachten Fallstricke
Als Winkler seine "Geschichte des Westens" vor vier Jahren abschloss, ließ er das bereits präsente Thema Populismus noch weitgehend außen vor. Als größte Bedrohung des Westens hatte Winkler 2015 noch die entfesselten Finanzmärkte ausgemacht. 2017 in "Zerbricht der Westen?" stellte er eine neue Gefahr heraus: den offenen Antiliberalismus, der am westlichen Wertefundament rüttelt. In "Werte und Mächte" greift er das wieder auf:
"Die Länder des transatlantischen Westens sind in der Gefahr, das Bewusstsein für das zu verlieren, was sie im Innersten zusammenhält – besser: zusammenhalten könnte und sollte. Die Ideen des späten 18. Jahrhunderts haben ihre weltweite Leuchtkraft dennoch nicht verloren. Ob sie diese behalten werden, ist allerdings nicht gewiss. Es sind nicht die weltpolitischen Widersacher des Westens, von denen die Beantwortung dieser Frage abhängt. Es sind in erster Linie die Staaten und Gesellschaften, die sich zum normativen Projekt des Westens bekennen."
Rückblickend freilich sieht Winkler den hausgemachten Niedergang schon unter Donald Trumps republikanischem Vorgänger einsetzen:
"Mit der transatlantischen Entfremdung, die die Vereinigten Staaten unter dem jüngeren Bush teils billigend in Kauf nahmen, teils bewusst betrieben, untergruben sie die eigene Weltgeltung ebenso wie durch die Art, wie sie ihre imperiale Politik finanzierten. Nutzen aus der Auseinanderentwicklung des Westens zogen zwei nichtwestliche Großmächte: Russland und die Volksrepublik China."
Geschichte des Westens – Stand 2019
Mit "Werte und Mächte" bringt Winkler die Darstellung jenes Themas, das ihn seit mehr als zehn Jahren beschäftigt, auf den neuesten Stand. Wohl sind die alten Bände damit alles andere als überholt. Denn das allermeiste aus dem Resümee der "Geschichte des Westens" von 2015 bleibt aktuell.
Überraschenderweise offenbart der neue Band die eine oder andere Schwäche im Lektorat. Das beginnt mit einem Druckfehler bei den Schwankungsbreiten der Europäischen Währungsschlange von 1972 – statt 2,75 Prozent ist von 22,75 Prozent die Rede – und beim Thema Falkland-Krieg wird der argentinische Name des Archipels, "Malvinen" mit "Malediven" angegeben.
Ins Auge springt das Durcheinander bei der Eroberung Polens durch die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg: Die Sowjettruppen überschritten den Fluss Bug nicht schon 1943, sondern erst 1944; der Warschauer Aufstand von 1944 wird hier um ein Jahr vorverlegt und überdies mit dem Aufstand im jüdischen Ghetto 1943 durcheinandergebracht. Offenkundig haben sich die Fehler beim Kürzen eingeschlichen – denn in der "Geschichte des Westens" hat Winkler alles korrekt dargestellt.
Souveräner epochenübergreifender Blick
Unter dem Strich immerhin bietet "Werte und Mächte" eine Art stark erweiterten Ploetz auf neuestem Stand: eine immer noch faktenstrotzende Darstellung, dazu die plausible historische Einordung von Ereignissen und Trends. Besonders reizvoll, sobald Winkler epochenübergreifend arbeitet: wenn er etwa eine Parallele zieht zwischen zwei von ihm so genannten Papst-Revolutionen: 1075 und 1978. 1075 hatte Gregor VII. im "Dictatus Papae" erklärt, als Papst stehe er über allen Königen und Kaisern – eine echte Kampfansage an die weltlichen Herrscher. 1978 dann wurde Karol Wojtyła Papst Johannes Paul II. – ein Kardinal aus dem damals kommunistischen Polen. Winkler bekundet:
"Die zweite Papstrevolution der Geschichte war, innerkirchlich gesehen, eine konservative Revolution. Ihre weltlichen Wirkungen aber waren freiheitlich. Sie trugen – weit über Polen hinaus – entscheidend zur Aushöhlung der kommunistischen Herrschaft und schließlich zu ihrem Zusammenbruch bei."
Den Anspruch, die heutige Krise des Westens zu erklären, löst das Buch ein. Wohl auf eine extrem eingedampfte Art – und ohne dass gegenüber den vorhandenen Bänden wesentliche neue Aspekte ins Spiel kämen. Wer bei "Werte und Mächte" verharrt, findet zwar einige aktuelle Ergänzungen. Er lässt sich aber umgekehrt gerade jene Tiefe der Darstellung entgehen, wie sie nach wie vor die "Geschichte des Westens" bietet. Besonders in ihren ersten zwei Teilen über die Zeit bis 1945.
So könnte man das neue Buch vor allem als Appetitanreger verstehen: als Einladung zu jenem Lese- und Erkenntnisvergnügen, wie es die schon vorliegenden Bände bereithalten. Dank Winklers fachlicher Souveränität und seiner gekonnten Stilistik hält einen dieses Vergnügen mühelos bei der Stange – auch über mehrere Tausend Seiten hinweg.
Heinrich August Winkler: "Werte und Mächte. Eine Geschichte der westlichen Welt",
C.H.Beck, 968 Seiten, 38 Euro.
C.H.Beck, 968 Seiten, 38 Euro.