Melanie Longerich: Eine kurze Zusammenfassung einer langen Geschichte möchte Heinrich August Winkler vorlegen – Herr Lay, wie ist ihm das gelungen?
Conrad Lay: Winkler beherrscht sein Thema, er hat einen Blick für die großen Zusammenhänge. Ein Beispiel ist etwa das Verhältnis von Einheit zu Freiheit in Deutschland. Winkler erwähnt zunächst die Liberalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, für die gehörten damals "Einheit und Freiheit" zusammen, das war gar nicht anders denkbar. Doch die Zeit nach der Reichgründung 1870 war durch das Leitmotiv "Einheit vor Freiheit" gekennzeichnet. Das umgekehrte Motto, nämlich "Freiheit vor Einheit", setzte Konrad Adenauer in den Jahren nach 1949 um. Seit 1990 gibt es dieses Spannungsverhältnis "Einheit und Freiheit" nicht mehr, jetzt heißt es "Einheit UND Freiheit".
Longerich: Jetzt ist der Westen ja das große Schaffens-, wenn nicht gar Lebensthema von Heinrich August Winkler. Und ähnlich wie der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama ist Winkler über seinen fast teleologischen Ansatz ja auch ein wenig gestolpert – dass der Westen eben das Ziel dieser beschriebenen Entwicklung war und der Garant für Frieden ist. Greift er das im neuen Buch auf?
Lay: In der Tat hatte Winkler in früheren Büchern die Frage aufgeworfen: Zerfällt die EU? Zerbricht der Westen? Sind die illiberalen Demokratien wie Ungarn und Polen eine Gefahr für Europa? In seinem neuen Buch geht er darauf so gut wie nicht ein. Sicher, er erwähnt den völkischen Nationalismus der AfD, der ihr nicht geschadet, sondern zu ihrem Erfolg beigetragen habe. Er schreibt auch, dass die Annexion der Krim ein "eklatanter Völkerrechtsbruch" gewesen sei. Aber an seinem Ansatz, dass die Zukunft der westlichen Wertegemeinschaft gehört, rüttelt er nicht. Allenfalls betont er noch, Deutschland dürfe "hinter die nach 1945 gewonnenen Einsichten nicht zurückfallen".
Blick durch westdeutsche Brille
Longerich: Sehen Sie andere kritische Punkte in der historischen Kurzfassung von Winkler?
Lay: Winkler ist stark darin, die westlichen demokratischen Traditionen herauszuarbeiten, also etwa auch, wie sich im Westen Deutschlands in den Jahrzehnten nach 1945 ein kritisches Geschichtsbewusstsein herausgebildet hat. Mit dem Osten Deutschlands, der immerhin 40 Jahre lang aus der DDR bestand, da fremdelt er. So schreibt er über den Arbeiteraufstand vom 17.Juni 1953, der fortan im Westen ja bekanntlich als "Tag der deutschen Einheit" gefeiert wurde: "Was er symbolisierte, war die Spaltung des Landes in zwei extrem unterschiedliche Staaten und Gesellschaftssysteme." Das ist sicher nicht falsch, aber Winkler lässt es am Verständnis für die inneren Verhältnisse in der DDR und auch für den Widerstand gegen die SED-Diktatur fehlen: denn der Arbeiteraufstand des 17.Juni war in erster Linie ein Aufstand gegen die SED! Das sieht Winkler sehr stark mit einer westdeutschen Brille. Sicher hat er recht, wenn er schreibt: Die Ostdeutschen "hatten keine Möglichkeit, sich der politischen Kultur des Westens zu öffnen und sich diese anzueignen". Doch was folgt daraus? Daraus hätte doch spätestens im Herbst 1989 folgen müssen, dass den Ostdeutschen Möglichkeiten eröffnet werden, eigene demokratische Spielräume auszuprobieren und "sich die politische Kultur des Westens anzueignen", natürlich auf eigene Weise – und nicht nur der Bundesrepublik beizutreten und die westlichen Gesetze, Regeln und Institutionen, allesamt, wie sie so sind, zu übernehmen. Und es ist kein Wunder, dass, wenn die Vereinigung strukturell so angelegt ist, sich im Osten viele als Bürger zweiter Klasse empfinden. Ich denke, mit dem historischen Abstand von 30 Jahren wäre eine derartige kritische Würdigung der Wiedervereinigung durchaus angemessen gewesen.
Longerich: Beschäftigt sich Winkler denn auch mit dem Verhältnis zwischen Deutschland und Europa, also wie Deutschland sich zur europäischen Integration verhält?
Lay: Ja, durchaus, er beschreibt ziemlich genau, wie der französische Präsident Mitterand auf die Wirtschaftskraft eines vereinigten Deutschlands reagierte, nämlich indem er auf eine beschleunigte Einführung des Euro pochte. Wörtlich heißt es dann bei Winkler: "In der Praxis hieß das, der monetären Einigung Westeuropas den Vorrang vor der politischen Einigung einzuräumen." Dieses schwierige Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und politischer Einigung beschäftigt uns ja seitdem. Joschka Fischer etwa hatte im Jahr 2000 "die volle Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation" gefordert und sich dabei eine Abfuhr von Frankreich und Großbritannien geholt. Die Folge war, wie Winkler völlig richtig ausführt, dass der Euro nicht zu einem engeren Zusammenwachsen Europas geführt hat, sondern zu vermehrten Spannungen innerhalb der Währungsgemeinschaft. Relativ enttäuscht formuliert dann Winkler: "Der überfällige öffentliche Diskurs über die Finalität des europäischen Einigungsprozesses fand nicht statt."
Deutliche Warnungen vor Deutschland als "Leitnation"
Longerich: Wie lautet denn das Resumée seiner kurzgefassten Geschichte der Deutschen?
Lay: Winkler warnt vor einem neuerlichen deutschen Sonderweg, vor einer "neuen deutschen Sendung", er wehrt sich gegen eine moralische Überheblichkeit der Deutschen, als ob diese eine Mission hätten. Er schreibt: "Der Glaube, die unermessliche Schuld, die Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus auf sich geladen hat, ließe sich dadurch wiedergutmachen, dass sich Deutschland moralischer verhält als andere Nationen, ist ein Irrglaube." Er befürchtet also da einen Rückfall in die Tradition der deutschen Innerlichkeit. "Deutschland würde sich erneut der politischen Kultur des Westens entfremden, wenn es der alten Versuchung nachgäbe, unter allen Umständen sittlich besser sein zu wollen als die anderen Nationen." Entsprechend warnt Winkler die Deutschen, sich nicht da als "moralischen Leitnation Europas" aufzuschwingen. Stattdessen plädiert er für einen "nüchternen, am normativen Erbe des Westens ausgerichteten Realismus".
Longerich: Geht Winkler auch auf aktuelle Fragen wie etwa die Coronakrise und ihre möglichen Auswirkungen auf die demokratischen Entwicklungen in Deutschland ein?
Lay: Ja, in seinem Schlusskapitel macht sich Winkler Gedanken über solche Konsequenzen, aber er bleibt sehr vorsichtig und lässt die Frage im Grunde offen. Da hätte er, für meinen Geschmack, durchaus etwas prononcierter formulieren können. Denn im Rahmen seiner Argumentation liegt es nahe, dass mit der Verminderung der Wirkungskraft des Protestantismus in Deutschland auch die Verantwortungsethik deutlich nachlässt. Die jüngsten Anti-Corona-Demonstrationen hätte Winkler dafür als Beweis nehmen können. Andererseits wäre das Nachlassen der Verantwortungsethik erstaunlich, wenn man an die starke Friday-for-Future-Bewegung im vergangenen Jahr denkt: Dort ging es um Verantwortung fürs Klima, für die Umwelt, Verantwortung für die Zukunft, für die kommenden Generationen. Wir sehen also in den letzten Jahren sowohl eine starke Verantwortungsethik bei der jüngeren Generation als auch ein Nachlassen dieser Ethik bei den Anti-Corona-Demonstrationen.
Es bleibt spannend.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Heinrich August Winkler: "Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen",
C.H. Beck Verlag, 255 Seiten, 22 Euro.
C.H. Beck Verlag, 255 Seiten, 22 Euro.