Schon der Untertitel - "Argumente gegen die Sterbehilfe" - macht die Position des Autors deutlich. Dennoch ist sein Buch alles andere als einseitig. Ganz im Gegenteil - Heinrich Bedford-Strohm liefert eine sehr differenzierte Darstellung der Problematik in einer - wie er selbst es nennt - lernoffenen Herangehensweise. Zunächst widmet er sich dem Thema Suizid. Die einen sprechen vom "Freitod", also einer freien Entscheidung, den Qualen ein Ende zu setzen, für die anderen ist es "Selbstmord", also eine verwerfliche Tat. Bedford-Strohm erkennt in der theologischen Debatte über das Thema und auch in der kirchlichen Praxis durchaus Fortschritte:
"Man kann schon für alle Konfessionen feststellen, dass glücklicherweise heute in den Blick getreten ist, dass Menschen, die sich das Leben nehmen, verzweifelt sind. Dass es keine Sache ist, die man eben mit moralischen oder mit Verurteilungskategorien anschauen kann. Die Tatsache, dass das immer als moralische Frage behandelt worden ist in der Geschichte, das hat allerdings seine guten Gründe."
Bedford-Strohm spricht sich dagegen aus, Suizid-Beihilfe etwa in Vereinen zu organisieren und öffentlich anzubieten. Mitunter differenziert er nicht klar genug zwischen einzelnen Begriffen. Tötung auf Verlangen, bisher auch "aktive Sterbehilfe" genannt, ist strafrechtlich verboten und soll es auch bleiben. In der politischen Debatte geht es vielmehr um die Frage, ob es neue Regeln für die Suizidbeihilfe und den ärztlich assistierten Suizid geben sollte - beides ist bislang nicht strafbar. Dennoch erwähnt Bedford-Strohm die verbotene aktive Sterbehilfe immer wieder gemeinsam mit der erlaubten Suizidbeihilfe. Warum?
"Wir haben ja in Europa Länder, bei denen die aktive Sterbehilfe oder wie wir jetzt sagen, die Tötung auf Verlangen, gesetzlich erlaubt ist, in Belgien und in den Niederlanden. Und deswegen ist diese Möglichkeit, diese politische Möglichkeit, dass das erlaubt wird, natürlich auch bei uns eine wichtige Möglichkeit. Ich bin aber sehr dankbar dafür, dass in der Tat in Deutschland im Moment niemand im Parlament, jedenfalls nicht öffentlich, dafür eintritt, die Regelung aus den Niederlanden und Belgien bei uns zu übernehmen."
Heinrich Bedford-Strohm schildert in seinem Buch Erfahrungen aus seinem Alltag als Seelsorger. Er berichtet von Menschen, die im tiefen Glauben an Gott ihrem Ende gelassen entgegensahen, aber auch von solchen, die sich nichts sehnlicher wünschten als den Tod, wie eine 83-Jährige, die unter starken Schmerzen litt und sich von Gott verlassen fühlte. Bedford-Strohm beschreibt in seinem Buch die Situation so:
"Der Pfarrer widerspricht nicht, nimmt ihre Gottverlassenheit auf und an, geht aber mit Bedrückung und Ratlosigkeit nach Hause. Auch die Frage: 'Warum darf ihr niemand beim Sterben helfen?' geht ihm durch Kopf."
Das ist nicht die einzige Frage, die ohne Antwort bleibt. Gerade deswegen ist das Buch besonders glaubwürdig. Ethischen Fragen räumt Bedford-Strohm breiten Raum ein. Er schreibt über den utilitaristischen Ansatz, der Nutzenerwägungen ins Zentrum stellt. Ein Leben, das nur noch aus Leiden besteht, müsste demnach beendet werden können. Das Konzept individueller Autonomie kommt zu ähnlichen Schlüssen. Dieser Ansatz "stellt die Entscheidungsfreiheit des Individuums ganz ins Zentrum. Er wird der Ansicht nicht gerecht, dass menschliches Leben immer von Begegnung und Gemeinschaft geprägt ist und individuelle Entscheidungen immer Auswirkungen auf andere haben."
In der Vorstellung bedingter Autonomie soll es ebenfalls die Möglichkeit geben, den Sterbeprozess zu verkürzen, wenn der Patient es wünscht. Ganz anders beim Ansatz unbedingten Lebensschutzes. Hier gibt es keine Rücksicht auf das bittere Leiden qualvoll Sterbender. Bedford-Strohm diskutiert diese verschiedenen Konzepte, wobei er selbst letztlich die Idee eines verantwortlichen Lebensschutzes vertritt. Dieses Konzept wünscht er sich auch für die politische Debatte. Bedford-Strohm erklärt:
"Die Frage, wie man diese Gesetze macht, die muss mit davon geprägt sein, dass man diese Einzelfälle, die wirklich schweren Fälle auch wirklich zur Kenntnis nimmt. Das kann zum Beispiel die Konsequenz haben, dass man ein Gesetz nicht so macht, dass man versucht, jeden Einzelfall genau zu erfassen, sondern dass man auch Spielräume des Gewissens lässt, die darauf vertrauen, dass Menschen damit verantwortlich umgehen. Ich glaube, dass wir gut fahren mit der jetzigen Regelung, die darauf vertraut, dass Ärzte mit den schwierigen Abwägungsprozessen am Ende des Lebens in der vertraulichen Beziehung zu ihren Patienten damit auch wirklich verantwortlich umgehen."
Die Palliativ-Medizin mit ihren schmerz- und angstlindernden Maßnahmen könnte vielen Menschen helfen. Heinrich Bedford-Strohm, der sich ausdrücklich gegen jede Art der Sterbehilfe ausspricht, hat dennoch Verständnis für Menschen, die in ausweglosen Situationen zu diesem Mittel greifen. Im Buch schildert er auch die Geschichte seines Vorgängers im Amt des EKD-Vorsitzenden, Nikolaus Schneider, er hatte im Interview ankündigt, seine kranke Frau im äußersten Fall in die Schweiz zu begleiten, wo Vereine den assistierten Suizid anbieten. Er wollte dieses tun, obwohl er diese Möglichkeit - im Einklang mit der Kirche - grundsätzlich ablehnt. Deswegen wurde Schneider in der Öffentlichkeit Doppelmoral vorgeworfen. Zu Unrecht, meint Bedford-Strohm:
"Die eine Möglichkeit ist, zu sagen, wir sind an dieser Stelle von so unterschiedlicher Überzeugung, ich kann da nicht dabei sein, weil ich es zutiefst ablehne. Die andere Möglichkeit ist, zu sagen, ich lehne es zutiefst ab und es zerreißt mich innerlich, aber ich kann meine Frau in einer solchen Situation einfach nicht allein lassen, auch wenn sich in mir alles sträubt. Aber die Liebe zu meiner Frau ist einfach wichtiger, ich möchte bei ihr sein, selbst wenn sie etwas tut, was ich nicht billigen kann. Das ist die zweite Möglichkeit, das ist das, worüber Nikolaus Schneider gesprochen hat, davor habe ich großen Respekt."
Anschaulich beschreibt Heinrich Bedford-Strohm komplizierte Zusammenhänge und regt durch zahlreiche Zitate unterschiedlicher Positionen zum Weiterlesen an. Vor allem macht er deutlich, dass den Kirchen zwar heute kein Deutungsmonopol für ethische Fragen mehr zukommt. Aber genauso wenig dürften religiöse Gesichtspunkte unter Berufung auf den weltanschaulich neutralen Charakter des Staates in der Debatte außen vor gelassen werden.
Heinrich Bedford-Strohm: "Leben dürfen - Leben müssen. Argumente gegen die Sterbehilfe"
Kösel Verlag, 175 Seiten, 17,99 Euro. ISBN: 978-3-466-37114-3
Kösel Verlag, 175 Seiten, 17,99 Euro. ISBN: 978-3-466-37114-3